Russische Freunde. Barbara Lutz

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Название Russische Freunde
Автор произведения Barbara Lutz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919299



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seinen Koffer aus der Abstellkammer und öffnete ihn.

      Was wusste ich denn schon von Juri? Ein paar Dinge aus seiner Kindheit. Er hatte erzählt von Ferien in der Ukraine, von Obstgärten voller blühender Pflaumen- und Kirschbäume, in denen er sich als Kind herumgetrieben hatte, und dass sie dort mit einem Gewehr auf Vögel geschossen hatten. Dass im Winter in Tscherepovez, das lag ganz im Norden, nur ein einziger Raum der Wohnung beheizt wurde, und dass sich die ganze Familie abends dort aufhielt. Von einem alten Onkel, der Dinge sah, die niemand sonst wahrnahm, und der ihn als Kind oft erschreckt hatte. Russland hat mich immer schon angezogen, aber mit meinen Bildern von Schlittenfahren und russischen Bauerndörfern lag ich vermutlich um Jahrhunderte hinter der Realität.

      Der Koffer war nicht abgeschlossen. Zuerst sah ich einen zerknitterten Seidenschal und ein paar abgelaufene Kindersandalen. Darunter lag ein bestickter Beutel voller Murmeln und Kinderkram mitsamt einem kleinen, kopflosen Püppchen, was ich berührend fand. Dann war da noch ein USB-Stick, der überhaupt nicht in diesen Beutel passte. Ansonsten enthielt der Koffer Fotoalben und Kartonmappen mit Briefen und Dokumenten. Ich blätterte ein paar Briefe durch, konnte aber nichts lesen, schon wegen der kyrillischen Schrift. Die meisten Briefe waren von Hand geschrieben und vom Alter leicht angegilbt. Ich stellte mir vor, wie Juri die Post seiner Mutter und seiner Grossmutter aufbewahrte, Briefe, die er erhalten hatte, als er in irgendeinem Wohnheim in einer fremden russischen Stadt lebte und studierte.

      Es war nicht in Ordnung, so in Juris Andenken zu stöbern, ich legte die Briefe zur Seite und sah mir die Fotoalben an, die mir weniger intim schienen. Einen blonden Jungen, der auf fast allen Fotos abgebildet war, identifizierte ich als Juri. Blond, blass, hoch aufgeschossen, auch heute noch sieht Juri so aus. Nicht wie ich mir einen Russen vorstelle. Juri hat kaum Bartwuchs, und selbst mit dreissig wirkt er wie ein zu schnell gewachsener Junge. Juri hatte mir einmal von einer Schwester erzählt, die mit elf Jahren an einer Hirnblutung gestorben war, vermutlich das dünne Mädchen, das auf vielen Fotos neben Juri stand. Ein Album enthielt Bilder von einer Moskaureise, Juri als junger Erwachsener inmitten einer Gruppe von Kameraden. Abgesehen davon, dass mich die Bilder nichts angingen, fingen sie an, mich zu langweilen. Ich kannte die Leute nicht, Pferdeschlitten kamen keine vor, und die Häuser hätten irgendwo stehen können.

      Ganz unten im Koffer lag ein Ordner, in dem Juri Diplome und Dokumente aufbewahrte. Ich stellte fest, dass Juri in Kiew Maschinenbau studiert und vor fünf Jahren abgeschlossen hatte. Mit seinem ganzen Namen hiess er Juri Wadimowitsch Salnikow, und er hatte Blutgruppe A. Es war mir unangenehm, seine Sachen durchgesehen zu haben. Ich legte alles zurück in den Koffer und schloss ihn, zögerte dann aber, holte den USB-Stick aus dem Beutel und steckte ihn ein. Wenn schon, dann konnte ich mir auch noch anschauen, was sich darauf befand.

      Aber wie kam Juri eigentlich dazu, den Koffer in meine Abstellkammer zu stellen? Als ob er ihn parat gemacht hätte für den Fall, dass er das Haus fluchtartig verlassen musste. Weil es brannte, zum Beispiel, es gibt Leute, die solche Dinge tun. Warum aber hatte er ihn dann bei mir deponiert? Jedenfalls schrieb ich ihm eine Notiz, er solle sich bei mir melden, und heftete sie an seine Wohnungstür, die ich, soweit es das defekte Schloss zuliess, zuzog. Ich musste dringend einen Schlosser bestellen.

      Die nächsten Tage verbrachte ich damit, die Wohnung einer alten, alleinstehenden Dame, die vor kurzem verstorben war, zu räumen. Esther, eine Frau, die ich von meinem abgebrochenen Studium her kenne, hatte mich darum gebeten. Sie hatte als einzige Verwandte bereits alles an sich genommen, was sie behalten wollte. Es war deprimierend, wie ich in wenigen Stunden die letzten persönlichen Spuren der alten Dame beseitigte. Mit einem schlechten Gewissen stopfte ich Lippenstifte, Cremen und eine Haarbürste, in der sich noch einzelne weisse Haare der Verstorbenen befanden, respektlos in Müllsäcke, zu abgelaufenen Lebensmitteln aus der Küche, zu bereits benützten Seifen und angebrochenen Zahnpastatuben. Zuerst wollte ich nichts nehmen, dann aber überwand ich mich und füllte zwei Tüten mit unverderblichen Lebensmitteln wie Tee und Reis. Eigentlich konnte ich diese Dinge, im Hinblick auf meine finanzielle Lage, gut brauchen.

      Während ich Blusen und Halstücher aus dem Kleiderschrank riss und Teppiche zusammenrollte, dachte ich an Frau Rottuner, meine Klavierlehrerin, die vor zwei Jahren gestorben war. Ich hatte sie noch bis kurz vor ihrem Tod mindestens einmal im Monat besucht, selbst als sie schon im Altersheim war und mich nicht mehr erkannte. Darauf war ich stolz.

      Am letzten Abend kam Esther vorbei, und wir gingen gemeinsam in ein thailändisches Restaurant essen. Esther lud mich ein und bezahlte mich auch für meine Arbeit. Sie hat das Sprachstudium, das sie gemeinsam mit mir begann, mit Doktorat abgeschlossen, während ich nach sechs Semestern abbrach. Heute arbeitet sie in einem Sprachinstitut in leitender Stellung. Sowieso leben alle früheren Freunde und Freundinnen inzwischen in besseren Verhältnissen. Ich kann nicht mithalten, nicht beim Einkommen, auch nicht beim Nachwuchs, nicht bei den glücklichen Ehen und nicht bei den stilvoll eingerichteten Wohnungen und Eigenheimen im Grünen. Ich nehme an, einige meiner Bekannten halten mich für eine Versagerin. Normalerweise finde ich, dass das ihr Problem sei, aber in der letzten Zeit lief ich Gefahr, ihr Urteil zu übernehmen. Immerhin habe ich keine gesundheitlichen Probleme, dachte ich, als ich nach unserem Abendessen im Tram nach Hause fuhr. Kaum hatte ich mich dabei ertappt, das in allem Ernst gedacht zu haben, machte ich mir wirklich Sorgen um mich. Früher hatte ich keine solchen Gedanken.

      3

      Ich ging also eine Woche lang frühmorgens aus dem Haus und kam jeweils spät heim. Trotzdem hätte ich es bemerkt, wenn Juri zurückgekommen wäre. Normalerweise höre ich seine Schritte, ich höre es, wenn er den Wasserhahn betätigt oder wenn sein Radio läuft.

      Am Freitagmorgen meinte ich, über mir Schritte zu vernehmen. Es war halb sechs Uhr in der Früh, trotzdem stand ich auf. Ich horchte nach oben, hörte nun aber nichts mehr. Juris Verschwinden und die verwüstete, offenstehende Wohnung machten mich nervös. Sobald es acht Uhr war, würde ich einen Schlosser anrufen.

      Zwei Stunden später sass ich immer noch in der Küche. Ich trank den Kaffee aus, ich wollte mich in Juris Wohnung umsehen.

      Der Boden war übersät mit Papieren, selbst im Gang konnte ich kaum einen Schritt machen, ohne auf etwas zu treten. Ich nahm ein Blatt in die Hand, Teil einer Seminararbeit für die Uni. In den Zimmern sah es ähnlich aus. Alle Bücher auf dem Boden, die Regale leergefegt, die Schreibtischschubladen offen und ausgekippt, sogar die Klaviernoten waren im Zimmer verteilt. Ich versuchte ein paar Takte zu spielen, aber es fühlte sich schlecht an, und ich liess es bleiben. Ganz offensichtlich war Juri seit dem Einbruch nicht zurückgekehrt. Ich hielt Ausschau nach einem Adressbuch oder einer Namensliste, fand aber nichts. In der Küche entdeckte ich zu meiner Überraschung Juris Mobiltelefon. Halb verdeckt vom Brotkasten war es wohl unabsichtlich liegengeblieben. Ich nahm es an mich und verliess die Wohnung.

      Das Telefon war seit mehreren Tagen nicht benützt worden und der Akku fast leer. Nummern hatte sich Juri keine gespeichert, aber ich notierte mir die letzten Anrufe. Vielleicht wusste ja einer, den er angerufen hatte, wo ich ihn erreichen konnte.

      Ich kam dann aber nicht dazu, Esther meldete sich noch einmal mit der Frage, ob ich für sie die Wohnungsabgabe übernehmen würde. Sie konnte sich bei ihrer Arbeit nicht freimachen. Ich sagte zu und verliess die Wohnung.

      Am frühen Abend war ich zurück. Es vergingen mindestens zehn Minuten, bis ich den Einbruch bemerkte. Ich hatte mir, ausgehungert wie ich war, in der Küche ein paar Brote gestrichen, die Zeitung gelesen und meine Post angeschaut. Aber als ich das Wohnzimmer betrat, fiel mir eine leicht herausgezogene Schublade auf. Eine Schublade, in der ich überflüssige Computerkabel und unpassende Glühbirnen aufbewahre und die ich nie öffne. Ich sah mich um. Die Tür des Wandschrankes im Gang, sie stand seltsam offen. So hatte ich die Wohnung nicht verlassen. Ich ging von Raum zu Raum, zog Schubladen auf, begutachtete die Schränke, sah sogar unter das Bett. Natürlich war niemand da. Aber jemand war in meiner Wohnung gewesen.

      Ich versuchte herauszufinden, ob etwas fehlte. Mein Computer, der wohl wertvollste Gegenstand in der Wohnung, stand auf seinem Platz, und auch der CD-Player war noch da. Dann bemerkte ich es: Der Koffer, Juris Koffer, war weg.

      Ohne viel zu überlegen, ging ich zum Telefon und rief die Polizei an. Ich hatte bereits aufgelegt, als ich mich fragte, was ich mir von