Russische Freunde. Barbara Lutz

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Название Russische Freunde
Автор произведения Barbara Lutz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919299



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es interessierte mich nicht. Die Frau sprach von Juri, Juri war tot, aber ich schaffte es nicht, das in mein Bewusstsein dringen zu lassen. Die heimatselige Gaststube, die schwarz lackierten Fingernägel der Angestellten, die ganze Pension Cordula widerten mich an.

      Geräusche hinter der Küchentür retteten mich. Die Serviceangestellte sprang auf, schob den Stuhl zurück und verschwand nach einem kurzen Gruss in der Küche. Es gelang mir gerade noch, etwas Trinkgeld auf den Tisch zu legen. Dann flüchtete ich. Ich fand mich oben im kalten Zimmer wieder. Eingewickelt in die Daunendecke, kauerte ich auf dem Boden und biss mich auf den Handballen, um endlich klar denken zu können. Es gelang mir nicht. Plötzlich hatte ich auch Angst. Eine andere Art von Angst, richtig Angst. Was war bloss los? Ich verbrachte ein paar Stunden in einer Starre, in der ich nichts begriff. Das alles war so komisch, so unerwartet, so unlogisch. Irgendwann schlief ich, noch in meinen Kleidern, auf dem Bett ein.

      6

      Direkt hinter einer Metalltür mit Glasfenster führte eine enge Treppe über ein paar Stufen hinunter ins Wasser der Dampfgrotte. Das Wasser war beinahe unerträglich heiss, und ich tapste in einen dicken Nebel hinein. Ich war nicht allein im Raum, irgendwo aus dem Dampf heraus flüsterten Stimmen. Mitten im heissen Nebel wurde mir bewusst, dass vor kurzem Juris Leiche in diesem Wasser gelegen hatte. Ich krallte mich an die Felswand, der Tuffstein bröselte unter meinen Fingern. In einem Fluchtreflex schob ich mich zurück zur Stiege und zur Eingangstür. Sie liess sich natürlich problemlos öffnen, und kalte Luft strömte mir entgegen. Allmählich konnte ich schemenhaft erkennen, wo ich mich befand. Ich war in einem kleinen Raum, der knietief mit Wasser gefüllt war. In der Mitte befand sich eine Erhebung aus Metall, auf der jetzt zwei Kurgäste lagen und vor sich hin schwitzten. Auf der gegenüberliegenden Seite sass ein Mann mit dem Rücken an der Wand im heissen Wasser und sah mich an. Ich schloss die Tür wieder, lehnte mich stehend gegen die Felswand und hörte zu, wie Wasser von der Decke tropfte.

      Nach einigen Minuten wurde mir die Hitze unerträglich. Was war bloss mit Juri geschehen? Was hatte er hier gemacht?

      Mir war schlecht.

      Ich duschte mich eiskalt ab und setzte mich auf eine Holzbank. Am Morgen, als ich durchfroren in meinem Kleidchen auf dem fremden Bett aufgewacht war, hatte ich gewusst, dass ich so nicht abreisen konnte. Ich musste in Erfahrung bringen, wie Juri gestorben war. Ich wollte das Bad sehen. Ich hatte vor Kälte gezittert in meinem dünnen Sommerkleid und musste mir wärmere Sachen kaufen. In einem der Touristengeschäfte hatte ich eine heruntergeschriebene erdfarbene Cordhose und eine dunkle Regenjacke erstanden. Einen Pullover aus Faserpelz und sogar einen sehr billigen Badeanzug fand ich in der Migros. Damit waren meine Geldmittel dann aber erschöpft, alles, was ich bei Esther verdient hatte. In einer klugen Anwandlung investierte ich mein restliches Geld in Proviant, in etwas Käse und Brot. Die Kasse im Kurbad umging ich, indem ich mich in der Toilette umzog. Niemand sprach mich an, als ich mich im Badeanzug durch das Drehkreuz drückte.

      Die Vorstellung von Juris Tod in der Dampfgrotte verfolgte mich. Ich legte mich in eines der grossen Aussenbecken ins lauwarme Wasser. Ein schneller Herztod hoffentlich. Was, wenn Juri noch lebend entdeckt hatte, dass er nicht rauskonnte? In der Hitze, die ich nur wenige Minuten ertragen hatte? Juri, mein kleiner Bruder, Juri, den ich, wie schon Freddie, immer irgendwie beschützen wollte. Ich suchte nach Zusammenhängen, ich suchte nach einem Grund, was war passiert, die Einbrüche und die Postkarte, was hatte Juri in Leukerbad gemacht, warum war er gestorben? Ich hatte keine Erklärung. Ich hatte keine Ahnung.

      Irgendwann merkte ich, dass mir vor Hunger schlecht war, ich hatte seit gestern Morgen nichts mehr gegessen. Ich holte den Käse und das Brot und folgte einem Schild mit dem Hinweis Picknickraum. Die beiden kühlen, gekachelten Zimmer mit langen Holztischen wurden vermutlich meistens von Schulklassen benützt. Ich fand sympathisch, dass es sie überhaupt gab. An einem der Tische sass eine weiss gekleidete Angestellte mittleren Alters und öffnete gerade einen grossen Tupperwarebehälter, der ihr Mittagessen enthielt. Mein Käse lag in Plastik eingeschweisst vor mir, daneben der Laib Brot. Ich überlegte, wie ich den Käse aus der Plastikhülle kriegen konnte. Da reichte mir die Frau vom Nebentisch unaufgefordert ihr Messer.

      «Arbeiten Sie hier?», fragte ich, als ich das Messer zurückgab.

      «Ja. Ich habe heute Morgen ganz früh begonnen, schon bevor das Bad offen war. Deshalb habe ich jetzt Hunger.»

      Zufrieden sah sie auf ihr Mittagessen. Ihr Akzent verriet die Herkunft aus einem südlichen Land. Dann blickte sie beinahe ertappt auf meinen Käse und das Brot.

      «Sie haben nur Käse und Brot?»

      Die Frau stand auf, brachte ein Glas und bot mir von ihrem Orangensaft an. Anschliessend erzählte sie mir, wie sie am Abend für ihren Mann und die Kinder vorkochte, die Kinder wärmten sich das Mittagessen dann selber. Das Gespräch über alltägliche Banalitäten tat mir gut und holte mich in die normale Welt zurück. Nur waren meine Beiträge mehr theoretisch, ich koche fast nie und schon gar nicht im Voraus. Die Frau kam aus Portugal und arbeitete seit zwei Jahren im Bad.

      Ohne mein Zutun kam das Gespräch auf den Badeunfall. Die Frau erzählte mir, was vorgefallen war, natürlich beschäftigte der Vorfall die Angestellten.

      «Sie sagen jetzt, Alexandre Pereira sei schuld. Er ist hier Bademeister, ein Kollege von mir, auch Portugiese, ich kenne ihn gut. Alexandre würde niemals mitten in der Nacht jemanden baden lassen. Er will doch seinen Job nicht verlieren, das weiss ich.»

      «Wo ist er denn jetzt?»

      Vielleicht konnte ich mit ihm sprechen.

      «Er ist in Brig oder Visp. Gestern kam Polizei zu ihm nach Hause.» Sie begann mit ein paar groben Bewegungen ihre Sachen zusammen zu räumen. «Was weiss ich, wie dieser Russe ins Bad gekommen ist. Was hatte er hier zu suchen, mitten in der Nacht. Das Bad war geschlossen, aber die Leute werden immer frecher. Man muss aufpassen. Und jetzt hat Alexandre Probleme.»

      Sie stand und wollte sich verabschieden.

      «Ich kenne den Toten, Juri Salnikow und ich, wir waren Freunde. Ich wusste, dass er in Leukerbad ist, und ich wollte ihn hier besuchen.»

      Die Frau stoppte und starrte mich betreten an.

      «Das tut mir leid. Mein Beileid. Das ist schlimm, dass dein Freund so gestorben ist», meinte sie. Warum es den Leuten leid tut, wenn jemand gestorben ist, habe ich noch nie verstanden, sie können ja nichts dafür. Jedenfalls in den meisten Fällen. Aber so wird kondoliert. Ich fand es vor allem komisch, dass mir überhaupt zu Juris Tod kondoliert wurde.

      Sie setzte sich noch einmal hin und erzählte, was unter den Angestellten über die Todesnacht bekannt war. Alexandre Pereira hatte den letzten Dienst gehabt. Zu seinen Aufgaben zählte es, alle Räume zu kontrollieren und abzusperren. Am Morgen nach der betreffenden Nacht war ein Kollege zum Frühdienst erschienen und hatte Alexandre Pereira in der Eingangshalle angetroffen. Pereira sagte, er habe seine Schlüssel verloren und deshalb nicht absperren können. Aus dem Grund habe er die ganze Nacht im Bad verbracht. So ein Vorfall musste zwar der Geschäftsleitung gemeldet werden, war aber nicht wirklich schlimm, vorausgesetzt, dass nichts gestohlen worden war. Etwas eigenartig war höchstens, dass Pereira es vorgezogen hatte, im Bad zu wachen statt jemanden mit Schlüssel zu organisieren.

      Der Kollege und Alexandre Pereira machten sich gemeinsam auf einen Kontrollgang. Alexandre hatte gemäss seinen Angaben den grössten Teil der Nacht bei der Haupttüre, im Eingangsbereich, verbracht. Aber es gab weitere Eingänge ins Bad, durch die jemand eingedrungen sein konnte, und auch der Haupteingang war zeitweise unbewacht gewesen. Deshalb kontrollierten die beiden alle Bereiche des Bades, einschliesslich der Nebenräume. Soweit sie es beurteilen konnten, war nichts gestohlen worden. Dann fanden sie den Toten. Und die Dampfgrotte, in der der Tote schwamm, war eigenartigerweise abgeschlossen.

      Am Tag nach der Todesnacht blieb die Anlage zu, das Personal wurde nach Hause geschickt. Kollegen erzählten, Alexandre Pereira sei noch vor Ort befragt worden, nicht nur von der Geschäftsleitung, sondern auch von der Polizei. Nun gab er zu, was er bisher unerwähnt gelassen hatte. Er hatte seine Abschlussrunde später als üblich begonnen, und zwar erst einige Zeit, nachdem die letzten Gäste und Angestellten das Bad verlassen hatten. Weil