Russische Freunde. Barbara Lutz

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Название Russische Freunde
Автор произведения Barbara Lutz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783857919299



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Minuten später läutete ich bei ihm, ich stellte mich als eine Freundin von Juri vor, und er bat mich herein. Noch bevor ich eine Frage stellen konnte, begann sich Pereira zu rechtfertigen. Er sass im Trainingsanzug am Küchentisch und triefte vor Selbstmitleid und Groll. Ich konnte die Sympathie der netten Portugiesin für Alexandre Pereira nicht verstehen, was aber vielleicht an der im Gefängnis verbrachten Nacht lag. Pereira war zu dick, ein Kranz von dunkeln Haaren umrundete seine Glatze. Den Schnauz trug er sicher, um männlicher zu wirken. Jedenfalls konnte ich mir eine Liebesgeschichte zwischen ihm und Juri nicht vorstellen. Schon deshalb nicht, weil Juri mit Balthasar Zeiler in Bern eine viel bessere Alternative hatte.

      Aber seine Geschichte hatte glaubwürdig gewirkt, dachte ich, als ich zurück zur Pension Cordula ging. Pereira schien wirklich nichts über Juri zu wissen. Er hatte bestätigt, dass sie sich ein paar Tage vor dem Unglück abends in einer Bar begegnet waren. Die beiden hatten sich gut verstanden, vermutlich gab es nicht allzu viele Schwule in Leukerbad, also hatten sie zusammen ein Bier getrunken. Pereiras Erzählung stimmte mit dem überein, was ich auf dem Polizeiposten gehört hatte. Er hatte keinen Grund, Juri umzubringen. Was blieb, war die Möglichkeit, dass er Juri irrtümlich eingeschlossen hatte. Vielleicht hatte er ihm sehr wohl den Zugang ins Bad ermöglicht, zum Beispiel weil er Juri ganz gerne näher kennenlernen wollte. Und dann ein Missverständnis, vielleicht ein Unfall, und Pereira schloss ihn ein, ohne es zu wollen. Was aber noch keine Erklärung lieferte für die Einbrüche und das Geld.

      8

      Mein Zimmer in der Pension Cordula, ungeheizt, mit billigen Möbeln ausgestattet, zu nahe am Abhang gelegen, wirkte genau so wenig einladend wie am ersten Tag. Zwar war das Bett frisch bezogen und ein Bonbon lag auf dem Nachtkissen, die Verpackung interessanter als der Inhalt. Aber es war noch viel zu früh, um mich ins Bett zu legen. Ich sass im Lehnstuhl, die Beine auf dem Beistelltisch, und starrte auf den Bildschirm des Fernsehers, der nicht lief. Ich sass eine Ewigkeit. Mit Warten und Nichtstun habe ich Erfahrung, dachte ich. Nein, nicht schon wieder, dachte ich dann. Ich hatte am Mittag so viel gegessen, dass ich keinen Anlass mehr hatte, in die Gaststube zu gehen.

      Ich war nach Leukerbad gefahren, weil Juri mich gerufen hatte, ich wusste nun, dass Juri tot war. Ich verstand seinen Tod nicht. Ein rätselhafter Tod. Aber was konnte ich schon machen? Ich würde morgen zurück nach Bern fahren und mich bei Ricklin erkundigen, ob sie etwas wussten. Ob es einen Zusammenhang zwischen Juris Tod und den Einbrüchen gab. Mehr fiel mir nicht ein.

      Dann würde ich das Geld abgeben. Nur konnte ich schlecht behaupten, ich hätte 99 700 Franken gefunden. Also musste ich morgen dreihundert Franken auftreiben. Ich wusste nur, ehrlich gesagt, nicht wie. Ich spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, das Geld überhaupt zu behalten. Ein verlockender Gedanke. Aber irgendwann würde es einen Prozess gegen Pereira geben, den ich dann voller Angst in den Zeitungen verfolgen würde. Voller Angst, dass das Geld zu Sprache kam. Ich überwand mich, ich tat’s nicht gern, und ich hatte es bisher nur in äussersten Notfällen getan, aber ich schickte meinem Vater eine SMS mit der Frage, ob er mir etwas pumpen könnte.

      Inzwischen sass ich im Finstern, es war Abend geworden. Ich trat ans Fenster, obschon es nur Aussicht auf den Abhang und ein Stück Hinterhof bot.

      Ich erschrak, als ich den Mann sah, der im Hof stand. Trotz der Dämmerung wusste ich sofort, wer er war. Einer der beiden Männer von gestern. Den ganzen Tag über war es mir gelungen, nicht an sie zu denken. Nun aber stand einer da und sah die Fassade hoch. Er schien mich nicht bemerkt zu haben, vermutlich weil ich mich im Finsteren befand. Ganz vorsichtig und langsam zog ich die Vorhänge zu. Dann verliess ich das Zimmer, trat in den Gang und schlich nach vorne. Ich wollte ihn beobachten, aber nicht von meinem Zimmer aus. Da ich noch nie andere Gäste getroffen hatte, versuchte ich es mit dem vordersten Zimmer. Es war offen. Von hier aus hatte ich den besseren Blick auf ihn, und es gab übers Eck ein zweites Fenster, durch das ich auf einen schmalen Abschnitt der Strasse vor dem Haus hinuntersah.

      Ich setzte mich in der Nähe des Fensters so auf die Bettkante, dass er in meinem Blickfeld blieb. Der Mann unten wartete seit Minuten, er hatte sich nur etwas zur Strasse hin bewegt. Er wirkte ruhig. Auch ich wartete, mit klopfendem Herzen, aber erstaunlich gelassen. Mir schien, der Mann beobachte die Fensterfront und die Haustür. Er stand im Nieselregen, und ich sass im Trockenen, wenn auch in einem fremden Zimmer. Es war nicht unbewohnt, wie ich jetzt bemerkte. Über einer Stuhllehne hingen Kleider, viel mehr konnte ich im Finstern nicht erkennen. Der Mann vor dem Haus war jung, keine dreissig Jahre alt, schätzte ich. Er trug Jeans und eine schwarze Sportjacke. Seine blonden Haare waren sehr kurz geschnitten, wie ein Soldat stand er in der Dämmerung, unter der Laterne. Ein deutscher Soldat oder auch ein russischer oder, am wahrscheinlichsten, ein Walliser Skilehrer. Seine Züge konnte ich nicht genau erkennen.

      Nach einiger Zeit fuhr ein grau metallisierter BMW vor. Auf der Beifahrerseite stieg ein Mann aus und ging auf den Eingang der Pension zu, den ich von hier aus nicht sehen konnte. Ich konnte nicht anders als mir mit aufsteigender Panik auszumalen, wie er das Hotel betrat. Wie er an der unbesetzten Rezeption vorbei ging und wie er ungehindert zu meinem Zimmer hochstieg. Wie er dort die Tür öffnete, mich nicht fand. Dann Zimmer um Zimmer. Instinktiv zog ich mich an die Wand zurück. Ich horchte auf die Geräusche im Haus, fühlte die gleiche Angst hochsteigen wie gestern in den Bergen.

      Aber es blieb still im Gang, und auch aus der Gaststube hörte ich nur gleichbleibende murmelnde Stimmen. Da tauchte der Mann wieder auf der Strasse auf, ging zum BMW und sprach mit dem Fahrer. Leise rief er dem anderen Mann, der immer noch unter der Laterne stand, etwas zu, der schlenderte zum Auto hinüber und alle beide machten sich daran, in den BMW einzusteigen. Ich stand nun wieder am Fenster. Als das Licht im Wageninnern anging, erkannte ich den Fahrer. Es war der graumelierte Geschäftsmann, den ich heute Morgen auf der Ortspolizei angetroffen hatte. Derjenige, der sich nach dem Geld erkundigt hatte. Der Wagen wendete und fuhr davon. Die Männer hatten sich etwas zugerufen, auf Deutsch, in Walliser Dialekt.

      Selbst wenn es sich um lokale Zivilpolizisten handeln sollte oder tatsächlich um Walliser Skilehrer, die nur hierhergekommen waren, um der Serviertochter etwas auszurichten, und auch wenn ich mir nur einbildete, dass sie hinter mir her waren: Ich wollte weg. Hier würde ich nicht länger bleiben, auch nicht für eine Nacht.

      Ich lief in die Gaststube hinunter, sagte, dass ich morgen frühzeitig abreisen musste, und bezahlte mein Zimmer. Die Besitzerin nahm mein Geld entgegen, zwar weniger nervös, aber kaum entgegenkommender als am ersten Tag. Eine Quittung erhielt ich nicht, und vom Meldezettel, den ich auch beim Kommen nicht ausgefüllt hatte, war nicht die Rede. Mir war es recht, keinen Namen zu hinterlassen. Beiläufig erkundigte ich mich, ob jemand nach mir gefragt hatte. Sie verneinte.

      In meinem Zimmer steckte ich meine wenigen Sachen, genaugenommen nur das Sommerkleid, in einen Plastiksack. Alles übrige trug ich am Leib. Die Tasche mit dem Badeanzug befand sich unter den Tannenzweigen, und von mir aus konnte sie ruhig dort bleiben, inklusive Badetuch aus der Pension Cordula. Ich liess das Licht im Zimmer brennen, schlich ins Untergeschoss, fand eine Hintertür. Die Männer waren nicht zurückgekommen. Der Hinterhof lag verlassen, und ausser in meinem Zimmer brannte nirgendwo ein Licht. Ich kroch über die feuchte Wiese den Abhang hinauf und stiess weiter oben auf eine Querstrasse. Weil ich nicht durch das Dorf laufen wollte, ging ich zuerst hangwärts und schliesslich in einem grossen Bogen um das Dorf herum. Unterhalb der Ortschaft fand ich den Wanderweg, der von Leukerbad nach Leuk hinunter führt. Eigentlich handelte es sich um das Bahntrassee einer stillgelegten Eisenbahn. Der Weg war natürlich unbeleuchtet, und immer wieder stiess ich mir die Zehen an. Verschiedene Male verlor ich die Richtung und geriet sofort in Panik wegen der nahe gelegenen Dala-Schlucht, aber das Licht meines Mobiltelefons half mir auf den Weg zurück.

      Es war zwei Uhr in der Früh, als ich in Inden ankam, für den Abstieg bis hierher hatte ich in der Dunkelheit mehrere Stunden gebraucht. Ich suchte mir einen Platz, um den Morgen abzuwarten. Für den Weg nach Leuk musste ich hinunter in die Schlucht, und dazu fehlte mir der Mut. Etwas oberhalb des Weilers fand ich einen kleinen Schafstall, eine kurze Leiter führte auf den Heuboden. Ich setzte mich auf die staubigen Bretter, zog Heu heran und ordnete es wie eine Decke um mich herum an. Morgen früh würde ich fluchen und mir stundenlang Gräser aus den Haaren und Kleidern zupfen. Vor allem aus der Faserpelzjacke.

      Durch die offene