Atemlos in Hannover. Thorsten Sueße

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Название Atemlos in Hannover
Автор произведения Thorsten Sueße
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827184146



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worden war.

      Ein Absender war nicht auf dem Umschlag vermerkt.

      Thomas hatte das Kuvert vorsichtig geöffnet, das genau dieses eine in der Mitte gefaltete Blatt enthielt.

      Auf die obere Blatthälfte war mit großen fetten Buchstaben ein Satz in der Schriftart Arial gedruckt worden: „Ich habe ihr den Atem genommen“.

      Auf der unteren Blatthälfte dokumentierte der Verfasser unmissverständlich, um wen es ihm ging. Thomas und alle Anwesenden starrten gleichermaßen auf das gedruckte Farbfoto, welches die auf dem Bauch liegende Nadine Odem zeigte. Das Gesicht der Frau war im Profil erkennbar, wobei der Kragen der weinroten Windjacke ihren Hals verdeckte. Die Frau lag im Wald, neben ihr waren ein Kugelschreiber, ein Smartphone und eine Tupperdose mit einer kleinen Spielzeugfigur zu sehen.

      „Das kann keine makabre Fotomontage sein“, äußerte Andrea mit gedämpfter Stimme. „Das ist direkt am Tatort fotografiert worden, wahrscheinlich kurz nachdem das Opfer getötet worden ist.“

      „Dass jemand den Leichnam noch vor den beiden Geocachern gefunden hat und sich jetzt mit dieser geschmacklosen Nummer wichtigmachen will, kann man natürlich nicht ausschließen“, warf Arif ein.

      „Das stimmt“, erklärte Raffael und hob etwas oberlehrerhaft den rechten Zeigefinger. „Aber die Chance, dass wir es hier mit einer Botschaft des Täters zu tun haben, erscheint mir sehr groß. Schließlich haben wir solche Tatortfotos nicht an die Öffentlichkeit gegeben.“

      „Und was ist die Botschaft?“, grunzte Thomas.

      „Der Verfasser hat Humor …“, äußerte Raffael spontan, der angesichts des irritierten Gesichtsausdruckes seiner Kollegen ergänzte: „Ich meine, er hat offenbar eine spezielle Art von schwarzem Humor. Er verknüpft in einem Wortspiel den Namen des Mordopfers, also die alte dichterische Bezeichnung für Atem, mit der vollzogenen Tötung, die Nadine Odem schließlich den Atem nimmt.“

      Thomas und Arif guckten weiterhin irritiert.

      „Ich bin gespannt“, meinte Andrea, „ob er dieses dürftige ‚Bekennerschreiben‘ auch an andere Stellen schickt, wie beispielsweise die Presse.“

      „Wenn uns der Täter schon ein Bekennerschreiben zukommen lässt“, sagte Jan in einem gespielt klagenden Tonfall, „hätte er sich wenigstens noch die Zeit nehmen sollen, es ordnungsgemäß mit seinem Absender zu versehen.“

      „Da er das aber nicht getan hat“, warf Andrea ein, „untersuchen wir eben Umschlag und Blatt auf die typischen Druckerspuren, mögliche Fingerabdrücke oder Hautpartikel.“ Ihre Stimme bekam einen optimistischen Tonfall. „Vielleicht wissen wir bald mehr über den Absender, weil der Typ der irrigen Auffassung war, dass man auf Papier keine verräterischen Spuren hinterlässt.“

      Thomas zuckte mit den Schultern.

      „Ich frage mich, aus welcher Motivation heraus er das Foto mit dem Einzeiler an die zuständige Mordkommission versendet“, brummte er. „Um sich aufzuspielen in dem Glauben, ihr kriegt mich doch nicht …? Ich denke, jetzt ist der richtige Moment, Mark Seifert anzurufen.“

      Dr. Mark Seifert leitete als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit forensischer Erfahrung den Sozialpsychiatrischen Dienst der Region Hannover. Thomas Stelter hatte den Psychiater aufgrund seines kriminalistischen Spürsinns in den vergangenen Jahren öfters bei Mordermittlungen zur Erstellung eines psychologischen Täterprofils erfolgreich hinzugezogen.

      Kapitel 11

      Freitag, 18. Mai

      Lara Klein las dieselben Textpassagen auf dem Computerbildschirm jetzt bereits zum dritten Mal.

      Verdammt, ich muss mich endlich konzentrieren, sonst baue ich wieder Mist. Es sind diese blöden Gedanken, die mich immer wieder rausbringen.

      Sie saß am Schreibtisch eines Doppelbüros ihrer zwanzig Jahre jüngeren Kollegin Romy Dudek gegenüber, die nach Beendigung eines Telefonats nahtlos wieder flüssig auf der Tastatur zu tippen begann.

      Lara und Romy arbeiteten als Sachbearbeiterinnen für Eingliederungshilfe bei der Region Hannover, einem Kommunalverband besonderer Art, der neben der niedersächsischen Landeshauptstadt noch zwanzig weitere Gemeinden umfasste. Der Arbeitsplatz der beiden Frauen befand sich im sechsstöckigen Haus der Region am Rand der Südstadt von Hannover. Es gehörte zu ihren Aufgaben, die Anspruchsvoraussetzungen von Menschen mit Behinderung auf Eingliederungshilfe sozialhilferechtlich zu prüfen. Dabei ging es insbesondere um die Einkommens- und Vermögensprüfung sowie die Prüfung der örtlichen Zuständigkeit. Lara und Romy forderten fachärztliche Stellungnahmen an, arbeiteten regelmäßig mit Ämtern und Einrichtungen zusammen und verfassten am Ende Bescheide mit eigenem Ermessensspielraum.

      So viele Vorgänge, die täglich über meinen Schreibtisch gehen. Ich kenne nicht die Menschen, nur ihre Akten. Lara tauchte schon wieder in ihre Gedankenwelt ein. Eine Behinderung ist für manche bestimmt ein schweres Schicksal. Schon verrückt, dass ich jeden Tag Behinderte unterstütze und selbst eine schlimme Behinderung hab, die ich verschweige.

      Sie versuchte sich wieder auf das Schriftstück zu konzentrieren, das ihr ein rechtlicher Betreuer per E-Mail zugeschickt hatte.

      Laras Behinderung hieß Alkohol. Und der hatte sie schon vor über zehn Jahren zunehmend aus der Bahn geworfen. Alle Höhen und Tiefen dieser Abhängigkeit hatte sie bereits durchlebt.

      Am Anfang war das Zeug eine willkommene Abwechslung, um den Schmerz zu betäuben. Da entschied sie noch selbst, wann sie sich zuschüttete. Belastende Themen gab es genug.

      Aber nach und nach verspürte sie den Zwang, ihren Körper den ganzen Tag über mit einem Alkoholpegel zufriedenzustellen. Sie konnte das Trinken nicht mehr kontrollieren und steigerte ihren Konsum immer mehr, um quälenden Entzugserscheinungen entgegenzuwirken.

      Im betrunkenen Zustand kam es zu fürchterlichen Streitereien mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Auf einmal ließ sie ihre Wut raus und beschimpfte die beiden. In dieser Phase riss der Alkohol wie eine unheilvolle Lawine sämtliche Hemmungen mit sich fort. Heute war sie froh, sich nicht mehr an alle grauenhaften Auseinandersetzungen erinnern zu können.

      Damals hatte sie wiederholt versprochen, mit dem Trinken aufzuhören. Aber sie schaffte es nicht, ihre Versprechen einzuhalten, und schämte sich, wenn sie in der Wohnung und am Arbeitsplatz heimlich kleine Schnapsflaschen versteckte. Ihr ganzes Streben zielte darauf ab, so bald wie möglich den nächsten Schluck zu nehmen.

      Die Behauptungen ihres Mannes, sie sei Alkoholikerin, wies sie wütend zurück. Sie leugnete jegliche Notwendigkeit, sich entgiften und suchttherapeutisch behandeln zu lassen.

      Natürlich bekam ihr Arbeitgeber zuletzt mit, was mit ihr los war. Als Verwaltungsangestellte hatte sie unentschuldigt gefehlt und war wiederholt mit einer Alkoholfahne am Arbeitsplatz aufgefallen. Mehrfache Aufforderungen des Arbeitgebers, sich in Behandlung zu begeben, hatte sie in den Wind geschlagen.

      Alles brach über ihr zusammen. Sie verlor ihre Arbeit, und ihr Mann ließ sich von ihr scheiden. Ihr Sohn, damals vierzehn, wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben und blieb beim Vater, dem das alleinige Sorgerecht zugesprochen wurde. Und das war nur der Anfang ihrer Talfahrt.

      Lara kam allein nicht klar, übernahm zwischendurch verschiedene Tätigkeiten, trank weiter und brach mehrfach mit Filmriss in ihrer neuen Wohnung zusammen. Schließlich wurde sie mit einem Unterbringungsbeschluss zur stationären Entgiftung in die Psychiatrische Klinik der Medizinischen Hochschule eingewiesen. Es blieb nicht bei dem einen Krankenhausaufenthalt. Lara wurde über Jahre immer wieder rückfällig und landete noch mehrmals, psychisch und körperlich in schlechtem Zustand, in der MHH-Psychiatrie. Dort lernte sie Petra kennen, eine langjährige trockene Alkoholikerin, die regelmäßig auf die Station kam, um ihre Selbsthilfegruppe vorzustellen. Mit großer Überwindung schaffte es Lara, sich einzugestehen, Alkoholikerin zu sein. Sie nahm sich ein Beispiel an Petra, einer zehn Jahre älteren Frau, die nach einer katastrophalen Phase des Leugnens konsequent zu ihrer Alkoholabhängigkeit stand und durch regelmäßige Teilnahme an der Selbsthilfegruppe abstinent geblieben war.

      Lara