Atemlos in Hannover. Thorsten Sueße

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Название Atemlos in Hannover
Автор произведения Thorsten Sueße
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827184146



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im ambulanten Rahmen in Hannover weitergeführt wurde. Während sie an den ambulanten Einzel- und Gruppengesprächen teilnahm, ging es langsam wieder bergauf.

      Sie bekam letztes Jahr ihre jetzige Stelle bei der Region Hannover. Im Bewerbungsgespräch konnte sie sich als stabile und Zuverlässigkeit ausstrahlende Frau präsentieren. Dabei gestand sie ein, „lange zurückliegende und überwundene depressive Phasen“ gehabt zu haben. Die Alkoholabhängigkeit wurde in ihren Arbeitszeugnissen nie erwähnt. Lara konnte damals fast körperlich spüren, wie uneins sich das Auswahlgremium war, diese Frau mittleren Alters mit einer psychischen Störung in der Vorgeschichte einzustellen. Umso dankbarer war sie, als die Region Hannover bereit war, dieses Risiko mit ihr einzugehen und ihr eine neue berufliche Chance zu geben. Und wenn Lara in der halbjährigen Probezeit keine vernünftigen Leistungen zeigte und häufig fehlte, war sie ihre Stelle schnell wieder los. Auf keinen Fall wollte sie ihren neuen Arbeitgeber enttäuschen, der großes Vertrauen in sie gesetzt hatte. Ihre Probleme mit Alkohol hielt sie am Arbeitsplatz geheim.

      Ich muss diese Gedankenketten unterbrechen und nicht ständig in die Vergangenheit abdriften, rief sich Lara im Stillen zur Ordnung, als sie merkte, dass Romy mit fragender Miene zu ihr herübersah.

      „Ist was mit dir?“, fragte ihre Kollegin fürsorglich. „Ich hab schon die ganze Woche den Eindruck, dass dich etwas belastet. Geht’s um Timo …?“

      „Nein, privat gibt’s keine Probleme“, schwindelte Lara. „Ich hab manchmal so Hitzewallungen, wahrscheinlich die Hormone.“

      Die Andeutung, ihr könnten die ersten Auswirkungen der Wechseljahre zu schaffen machen, klang im Fall von Lara, die übernächsten Monat fünfundvierzig wurde, durchaus plausibel. Aber die hormonellen Beschwerden waren nur ausgedacht.

      „Du Ärmste“, murmelte ihre Kollegin und gab sich damit zufrieden.

      Romy war eine nette und lebenslustige junge Frau. Ihr hatte Lara anvertraut, dass sie dabei war, den Kontakt zu ihrem inzwischen 22-jährigen Sohn Timo wiederherzustellen. Vor ein paar Wochen hatte sich Lara von ihr überreden lassen, abends gemeinsam durch Hannover zu ziehen. Ein Abend, der Lara eine bittere und lebenswichtige Erfahrung bescherte. Völlig unbekümmert hatte Romy in einer Bar zwei Cocktails für sie beide bestellt. Lara war nach so langer Trockenheit der Meinung gewesen, es bei dem einen Glas Alkohol bewenden zu lassen. Aber auf das erste folgte das zweite und dritte, und sie stürzte ab wie früher.

      Nach diesem Abend saß Lara der Schreck in allen Gliedern. Ihr war deutlich geworden, wie zerbrechlich ihre aktuelle Stabilität war. Seitdem hielt sie zu Romy Distanz und ging nicht wieder mit ihr auf Tour.

      Heute ist mein Tag X. Wenn mein Plan funktioniert, ist es der erste persönliche Kontakt seit Jahren. Es hängt so viel davon ab. Mein ganzes Leben …

      Sie tippte fast mechanisch einige der üblichen Formulierungen in die Tastatur. Ihre Arbeit durfte sie nicht vernachlässigen!

      Für eine Mutter ist es das Schlimmste, wenn der eigene Sohn nichts mehr mit ihr zu tun haben will. Ich liebe ihn doch.

      Lara schaffte es nur vorübergehend, die volle Aufmerksamkeit ihrer Arbeit zu widmen. Zum Glück war heute Freitag und um 12:30 Uhr Dienstschluss.

      Mit Timo und ihrem Ex-Mann Sven hatte sie sich seit Jahren nicht mehr persönlich getroffen. Zu massiv war die Ablehnung insbesondere von Timo, der seine Mutter seit der Scheidung um keinen Preis besuchen wollte. Lara wusste, dass Timo noch mit seinem Vater zusammenwohnte und inzwischen in Hannover studierte. Wenn sie versuchte, ihren Sohn anzurufen, beendete der sofort das Gespräch. Bei Sven hatte sie es immerhin vor ein paar Wochen geschafft, mit ihm ein kurzes Telefonat zu führen. Er war ablehnend, aber in den darauffolgenden Wochen hatte er sich dennoch auf weitere Anrufe von ihr eingelassen.

      Ich kann Svens abweisende Haltung verstehen, nach allem, was er mit mir durchgemacht hat. Ich war damals zuletzt total ekelhaft zu ihm. Aber nach meinem schrecklichen Absturz weiß ich zu schätzen, was ich früher an ihm hatte. Ich glaube, ich würde alles dafür geben, ihm und Timo wieder näherzukommen. Wenn ich Sven zurückgewinne, schaffe ich es vielleicht auch bei Timo.

      Sie brauchte einen kurzen Ortswechsel, verließ das Büro, um die Damentoilette aufzusuchen.

      Über dem Waschbecken betrachtete sie kritisch das eigene Spiegelbild. Dabei strich sie mit beiden Händen ihre mittellangen rotblonden Haare zur Seite.

      Wenn ich mich gut zurechtmache, wird ihm das gefallen. Vor unserer Scheidung hab ich mich zuletzt völlig gehen lassen. Die ersten Jahre nach unserer Hochzeit, als wir eine kleine Familie wurden, waren wir total glücklich miteinander. Er ist auf meine Wünsche eingegangen, war selbst so weich. Ich mochte seine anfängliche Schüchternheit, als wir uns kennenlernten. Nach unserer Trennung hatte ich mit einem Mann keine ernsthafte Beziehung mehr. Und wenn es stimmt, was Sven am Telefon erzählt hat, hat er ebenfalls momentan keine Partnerin.

      Zurück im Büro brachte sie den allernotwendigsten Schriftkram zu Ende. Dann machte sie pünktlich Feierabend.

      Im Supermarkt gegenüber kaufte sie noch einige Lebensmittel und Getränke ein. Eine besondere Herausforderung war der Gang mit den alkoholischen Getränken. Sie musste sich jedes Mal aktiv dagegen wehren, um nicht wie früher einfach zuzugreifen. Das Böse ist immer und überall, ging ihr spontan die Textzeile eines Schlagers ihrer Kindheit durch den Kopf.

      „Mordkommission erhält Brief von Nadine Odems Mörder“, verkündete das TAGESBLATT Hannover auf seiner ersten Seite. Lara griff nach der Zeitung und las schnell die ersten Sätze des Artikels.

      Der Täter schreibt der Polizei?! Unfassbar. Was geht da im Gehirn eines Menschen ab, der sinnlos einen anderen Menschen ermordet …?

      Über den Inhalt des Schreibens stand nichts in dem Artikel.

      Wahrscheinlich hält die Kripo das geheim.

      Mit großem Interesse hatte sie jeden Tag die Berichterstattung der Presse über den Mord an der Bankerin verfolgt.

      In ihrer Wohnung, die im nördlichen Teil von Hannover lag, fiel ihr Blick im Flur als Erstes auf die leeren Pappkartons, die sich schon wieder angesammelt hatten. Lauter Verpackungen ihrer Bestellungen bei diversen Online-Shops.

      Alles Frustkäufe, weil ich seit Ewigkeiten ziemlich isoliert bin und fast immer alleine in meiner Bude hocke. Und als Highlight meiner Kaufwut bekomme ich zusätzlich diese sinnlosen Prämiengeschenke zugesandt.

      Die einzige regelmäßige Besucherin ihrer Wohnung war Petra, die jeden Sonntagvormittag zum Frühstück kam. Für Lara ein willkommener Anreiz, ihre Wohnung nicht wie früher komplett vermüllen zu lassen. Die beiden Frauen hatten vereinbart, dass Petra immer Laras Wohnungsschlüssel mitnahm, damit sie im Zweifelsfall die Tür aufschließen konnte, wenn Lara wegen eines Alkoholrückfalls dazu nicht mehr in der Lage sein sollte. Darüber hinaus hielt Lara regelmäßigen Kontakt zur Selbsthilfegruppe.

      Sven wollte sich am Telefon nicht auf ein Treffen mit mir einlassen. Es funktioniert nur, wenn ich ihn vor vollendete Tatsachen stelle. Ich hoffe, dass er mir persönlich nichts abschlagen wird. Um sechzehn Uhr ist er freitags immer zu Hause, hat er erzählt. Ich hab ihn geschickt ausgehorcht. Er ahnt nicht, dass ich heute vor seiner Tür stehe.

      Laras Anspannung wuchs.

      Hoffentlich krieg ich vor Aufregung keinen Durchfall. Ich tu unschuldig und sage, ich war zufällig in der Nähe und hab mir gedacht, einfach mal zu klingeln.

      Sie zog sich im Badezimmer um, entschied sich für ein sportliches Outfit mit Pulli, Jacke und Sneakers. Danach nahm sie sich ausreichend Zeit für ihr Make-up.

      Richtig geschminkt hab ich mich zuletzt bei meiner unsäglichen Sause mit Romy.

      Mit ihrem Hyundai i10 fuhr sie zurück in die Südstadt, wo Sven mit Timo in einer Mietwohnung lebte.

      Ich genieße es, mir wieder einen Kleinwagen leisten zu können und nicht mit den vollgestopften Öffis fahren zu müssen.

      Sie arbeitete seit Monaten im selben Stadtteil, hatte aber dort weder ihren Mann noch ihren Sohn getroffen. Was zum einen sicherlich daran