Atemlos in Hannover. Thorsten Sueße

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Название Atemlos in Hannover
Автор произведения Thorsten Sueße
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783827184146



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entschied sich dafür, in den Brennnesseln zu verharren, zumal sie plötzlich die Eingebung hatte, den Mann zu kennen. Er hatte einen grauen Schutzhelm auf, trug eine Jacke zur langen Cargohose, zudem auf dem Rücken einen Rucksack.

      Als er näher kam, war sie sich sicher: Der Geocacher, mit dem ich vorgestern vor meinem Haus gesprochen habe.

      Er nickte freundlich, als er mit seinem Rad vor ihr auf dem Waldweg zum Stehen kam.

      „Haben Sie ihn gefunden, vorgestern?“, fragte sie.

      Er lächelte, guckte leicht nach unten: „Oh ja, durch Ihren Tipp haben Sie es mir einfach gemacht. Ich war vorgestern bei Ihnen noch erfolgreich.“

      Sie zeigte auf das Smartphone in seiner Hand: „Sind Sie auch auf Cacher-Tour?“

      „Ja“, bestätigte er. „Ich gehe davon aus, dass wir an dieser Stelle nach derselben Sache suchen. Geht wohl dort den Trampelpfad entlang …?“

      „Das war meine Vermutung.“ Sie blieb stehen und machte keine Anstalten, sich in Bewegung zu setzen.

      „Ich bin noch nicht lange dabei“, bekundete er. „Aber Geocaching ist ein tolles Hobby. Ich habe dadurch schon etliche freundliche Leute kennengelernt. Man ist sofort auf einer Wellenlänge.“

      Nadine fasste Vertrauen zu dem Mann. Mit Geocachern, egal ob Mann oder Frau, hatte sie in vergleichbaren Situationen im Wald oder auf Feldwegen bisher ebenfalls nur gute Erfahrungen gemacht.

      „Ich hab ja schon vorgestern gesagt, dass ich Miraculine bin“, äußerte sie und blickte ihn auffordernd an: „Und mit wem habe ich es zu tun?“

      „Spirou 13.“

      „Spirou – wie der Comic-Held …?“

      „Genau.“

      Der Hinweis, dass er sich womöglich für eine francobelgische Comic-Reihe wie „Spirou und Fantasio“ interessierte, machte ihn gleich für sie sympathischer. Nadine hatte schon immer eine Vorliebe für die francobelgischen Asterix-Comics gehabt.

      „Und warum 13?“, fragte sie nach.

      „Das ist meine Glückszahl.“

      „Wir können ja zusammen nach dem Cache gucken“, meinte sie schließlich. „Vier Augen sehen mehr als zwei.“

      „Ich bin dabei“, strahlte er und lehnte sein Fahrrad an das ihre.

      *

      Seine Einschätzung aus der räumlichen Entfernung hatte sich als richtig erwiesen. Der Ort, an dem er sein Vorhaben umsetzen konnte, durfte nicht vom Waldweg aus einsehbar sein. Hier schien alles perfekt. Der Lärm von der Autobahn konnte Geräusche übertönen. Momentan war außer Nadine niemand zu sehen. Was sich natürlich von einer Minute zur nächsten verändern konnte. Er brauchte für sein Vorhaben etwas Zeit, sodass es dringend notwendig war, dass er mit ihr hinter den Bäumen verschwand. Und an dem bewussten Ort zielte sein Plan darauf ab, dass sie ihm den Rücken zuwandte.

      Er hatte sich die letzten beiden Tage gut präpariert. Natürlich musste er davon ausgehen, dass sie sich im Wald einem fremden Mann gegenüber misstrauisch verhalten würde. Insofern setzte er voll und ganz auf den Geocacher-Bonus. Nadine hatte ihn schon in Kirchrode für ein Mitglied der Cacher-Community gehalten. Im Misburger Wald war sie auf Cacher-Tour, sein Rucksack mit Werkzeugen, die für Geocacher typische Cargohose und seine Einmalhandschuhe müssten ihr eigentlich vertraut vorkommen. Ihren Cacher-Namen hatte er sich gemerkt. „Miraculine“ hatte sofort die Assoziationen Miraculix und Asterix bei ihm ausgelöst. Er setzte darauf, mit dem Namen „Spirou“ eine Gemeinsamkeit zu schaffen, um bei ihr zu punkten. Den Versuch war es wert. Und wenn er ihr einen Cacher-Namen präsentierte, trat an die Stelle seiner Anonymität eine vermeintliche Vertrauenswürdigkeit. Selbstverständlich war der Name „Spirou 13“ nirgendwo auf den Geocaching-Seiten im Internet registriert. Aber da er angeblich neu dabei war, würde es Nadine nicht verwundern, dass sie seinen Namen noch nie gelesen hatte.

      Da sie in Sachen Geocaching eindeutig über mehr Erfahrung verfügte als er, übernahm sie selbstverständlich die Führung und ging als Erstes den Trampelpfad entlang. Er spürte gleich, dass sie es auch in anderen Zusammenhängen gewohnt war, selbstbewusst voranzugehen. Mit zwei Meter Abstand folgte er ihr. Wie sie hatte er sich seinen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Permanent schielte sie auf das Smartphone in ihrer Hand, um sich an der angezeigten Karte zu orientieren. Die App gab Auskunft, wie viele Meter ungefähr sie noch vom Cache entfernt war. Er hatte die ganze Zeit darauf geachtet, dass sie nicht sehen konnte, dass sich auf dem Display seines Smartphones gar keine Geocaching-App befand. Die für ihn tatsächlich wichtigen Gegenstände befanden sich in den seitlich aufgesetzten Taschen seiner Hosenbeine.

      Der Trampelpfad endete auf einer kleinen Lichtung. Nadine stoppte und blickte konzentriert auf die Baumstämme und den Waldboden davor.

      Sie hat nur noch Augen für die Suche nach dem Cache!

      Eine Notwendigkeit, dass sich eine zweite Person daran beteiligte, bestand nicht. Nadine hatte den Cache sofort unter einigen Rindenstücken vor einem Baumstamm gefunden.

      Dabei bemerkte sie nicht, dass sich ihr Begleiter hinter ihrem Rücken ein Paar Einmalhandschuhe übergestreift hatte. Dieses Mal handelte es sich bei dem Behälter um eine Art Tupperdose, in der sich außer dem Logbuch eine kleine Figur und mehrere Aufkleber befanden.

      Während sie damit beschäftigt war, sich mit einem Kugelschreiber in das Logbuch einzutragen, hatte er mit der rechten Hand sein Springmesser aus der Beintasche gezogen. Die zweischneidig geschliffene Klinge sprang aus dem Messerheft. Blitzschnell trat er von hinten an Nadine heran, ließ seinen rechten Arm um sie herumschnellen und durchschnitt kraftvoll mit der scharfen Klinge von links nach rechts ihren Hals.

      Blut floss in großem Schwall sofort aus der Wunde und durchtränkte die Windjacke der Frau. Nadine röchelte, machte einige ruckartige Bewegungen. Zum Schreien war sie nicht mehr in der Lage. Dann kippte sie nach vorne, dabei zeigte sie noch eine Schnappatmung.

      Gleich ist es zu Ende.

      Sie verlor kurz darauf das Bewusstsein und lag regungslos auf dem Waldboden. Der starke Blutverlust führte innerhalb kürzester Zeit zum Tod.

      Er nahm sich Zeit und betrachtete sein Opfer eine Weile.

      Der Plan ist aufgegangen!

      Dann holte er die Fotokamera aus seinem Rucksack.

      Kapitel 6

      Sonntag, 13. Mai

      Der Tatort im Misburger Wald war weiträumig mit rot-weißen Bändern abgesperrt.

      Kriminaloberkommissarin Andrea Renner war für diesen Sonntag zusammen mit einem Kollegen vom Kommissariat 3, zuständig für Sexualdelikte, zur sogenannten „Mordbereitschaft“ eingeteilt. Mit Raffael Störtebecker hatte sie die Tage zuvor abgesprochen, dass sie ihn – zwecks Einarbeitung – hinzurief, falls es zu einem Einsatz kommen sollte.

      Es war kurz nach sechzehn Uhr. Andrea und Raffael standen auf einem Waldweg am Absperrband, wo sie von Max Quast, einem Kollegen vom Kriminaldauerdienst im weißen Ganzkörperoverall, mit den wichtigsten bereits bekannten Informationen vertraut gemacht wurden. Hinter dem Absperrband beschäftigten sich zahlreiche weitere Kolleginnen und Kollegen in Overalls mit der Spurensicherung. Dr. Ulrich Lindhoff, der Rechtsmediziner von der Medizinischen Hochschule Hannover, hatte ebenfalls schon seine Arbeit am Tatort aufgenommen.

      „Zwei Männer, die hier im Wald mit dem Fahrrad unterwegs waren, haben die Leiche gefunden und sofort die Polizei angerufen“, erklärte Max und zeigte Andrea und Raffael gleichzeitig ein Foto auf seinem Smartphone, welches er von der Toten gemacht hatte. „Wir haben bei der Frau ihren Personalausweis gefunden. Sie heißt Doktor Nadine Odem, ist fünfundvierzig und wohnt in Hannover-Kirchrode. Sie liegt dort hinter den Bäumen an einer Stelle, die vom Waldweg nicht eingesehen werden kann.“

      „Was hat denn die beiden Männer zu diesem abgelegenen Fundort geführt?“, fragte Andrea erstaunt.

      „Die