Gewaltfrei, aber nicht machtlos. Maria Neuberger-Schmidt

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Название Gewaltfrei, aber nicht machtlos
Автор произведения Maria Neuberger-Schmidt
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783709500125



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Schlüsselqualifikation. Kinder brauchen gefestigte Persönlichkeiten, die ihnen Interesse und Aufmerksamkeit schenken und die sie als Vorbilder achten können.

      Entwicklungschance für beide Seiten

      Der Weg in die Eigenständigkeit ist ein Prozess lebendiger Entwicklung, der beide Seiten emotional fordert. Die Verantwortung bleibt aber bei Eltern und Pädagogen/innen. Sie müssen Einfühlungsvermögen und Führungskompetenz beweisen, um die wahren Bedürfnisse ihrer Kinder Bescheid wissen, sie liebevoll auf ihrem Reifungs- und Loslösungsprozess begleiten und die täglichen Herausforderungen auch als Chance für ihre eigene Entwicklung sehen.

      Kapitel 2: Erziehung und die Frage der Macht

      Kapitel 2

      Erziehung und die Frage der Macht

      »Wer liebt, herrscht ohne Gewalt

      und dient, ohne Sklave zu sein«

      Zenta Maurin

      2.1. Grundsätzliche Überlegungen

      2.1.Grundsätzliche Überlegungen

      Viele Menschen haben ein derart gestörtes Verhältnis zum Thema Macht, dass man sie in der Erziehung am liebsten ganz abgeschafft hätte. Weil mit der Ausübung von Macht die Gefahr von Gewalt und Machtmissbrauch einhergeht, wurde sie in den letzten Jahrzehnten in der Pädagogik generell negativ bewertet. Man wollte sie aus der Erziehung verbannen. Deshalb ist sie nicht etwa verschwunden, sondern sie treibt seltsame Blüten, oft im Verborgenen. Viktor Adler sieht in der Frage der Macht das zentrale Motiv für menschliches Handeln.

      Wir müssen uns vor Augen halten, dass sich ein gesundes Selbstwertgefühl nur dann entwickeln kann, wenn sich ein Kind akzeptiert, ernst genommen und handlungsfähig, also mächtig fühlt, im Gegensatz zu ohnmächtig. Macht ist also nichts Negatives an sich, auch nicht die elterliche Macht, sondern es kommt darauf an, wie wir damit umgehen. Lassen Sie mich einige grundlegende Überlegungen dazu anstellen.

      Grundsatz 1: Macht braucht Legitimität

      Staat und Gesellschaft

      Im Staat ist sie durch Verfassung, Gesetze und Verordnungen geregelt in Parlament, Regierung und Verwaltung, Polizei und Gericht. In der Wirtschaft wird sie durch Arbeitsrecht, Verträge und Vereinbarungen ergänzt. Im Leben der Demokratie geht die Macht durch freie Wahlen vom Volk aus.

      Elternhaus

      Die Legitimität der elterlichen Macht ergibt sich aus der biologischen Beziehung. Sie wurzelt in der Fürsorge und Verantwortung der Eltern für ihre Kinder und deren anfänglicher Hilflosigkeit und Unfähigkeit zu selbständigem Überleben.

      Schule

      Die Legitimität der pädagogischen Macht ergibt sich aus dem für die Durchführung des Bildungsauftrags benötigten Ordnungsrahmen.

      Macht darf nur zum Dienen dienen

      Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Macht nur dort legitim ist, wo sie zum Wohle derer dient, über die sie ausgeübt wird, um ein gemeinsames, übergeordnetes Ziel zu erreichen.

      Grundsatz 2: Macht braucht Befugnisse

      Im Staat, bei der Polizei und in der Wirtschaft sind die jeweiligen Befugnisse klar definiert. Der Finanzminister z. B. hat klar definierte Möglichkeiten, wie er seine Steuern eintreiben kann. Ein Polizist kann Strafmandate austeilen.

      Welche Befugnisse haben Eltern und Lehrer? Mir scheint, dass man ihre Befugnisse aus Angst vor Machtmissbrauch stark reduziert, indem man den Worten Macht und Autorität einen negativen Beigeschmack verpasst hat.

      Gab es früher oft ein Zuviel an Autorität, so erleben wir heute eher ein Defizit. Pädagogen sehen sich häufig vor dem Dilemma, dass sie Führungsverantwortung tragen müssen, ihnen aber die dafür erforderlichen Machtbefugnisse aberkannt wurden.

      Stattdessen fordert man von ihnen, Jugendliche allein über die Kunst der Motivation zu lenken. Diese ist überaus wichtig im pädagogischen Alltag und erfordert permanente Selbstreflexion und Weiterbildung. Aber es ist, als müsste der Finanzminister allein auf Aufklärung und Motivation setzen, um seine Steuern einzuheben. Ob alle Staatsbürger die Reife hätten, ihre Abgaben freiwillig in der erforderlichen Höhe abzuliefern?

      Grundsatz 3: Macht braucht Kontrolle

      Ethisch saubere Machtverhältnisse kommen ohne entsprechende Kontrollmechanismen nicht aus. Es bedarf mehrerer Ebenen, um Macht zu kontrollieren.

       a)Durch übergeordnete Instanzen

      In der Erziehung ist das zum Beispiel die Jugendwohlfahrt.

       b)Im Reflexions- und Erfahrungsaustausch auf gleicher hierarchischer Ebene

      zwischen dem Elternpaar, aber auch in der Beratung, in Seminaren und im Erfahrungsaustausch von Eltern untereinander.

       c)Durch jene, über die sie ausgeübt wird

      Überall muss es ein Recht auf Einwand oder Einspruch geben. Es ist die Aufgabe der Eltern, die Einwände ihrer Kinder ernst zu nehmen und ihnen Gesprächs- und Konfliktkultur zu vermitteln. Immer aber sollten die Ebenen des Respekts gewahrt bleiben und Wertschätzung in beide Richtungen fließen.

      In den vorangegangenen Seiten habe ich einen Schwerpunkt darin gesehen, ein Defizit elterlicher Autorität in der gegenwärtigen Erziehungskultur aufzuzeigen. Damit möchte ich aber keineswegs die Bemühungen um Liberalisierung und Demokratisierung der vergangenen Jahrzehnte abwerten, die für unsere westliche Kultur überaus wichtig waren, sondern lediglich darauf hinweisen, dass ein neues Ungleichgewicht entstanden ist, welches die Gefahr einer reaktionären Gegenbewegung in sich birgt.

      Meine Aufgabe sehe ich darin, mich für ein neues Gleichgewicht einzusetzen und Eltern darauf zu sensibilisieren, in ihrem Erziehungsalltag die jeweils richtige Balance zwischen Freiheit, Mitsprache und Gehorsam zu erkennen, und sie in ihren Fähigkeiten zu bestärken, stimmig, authentisch und selbstbewusst auf die unterschiedlichen Situationen zu reagieren.

      2.2. Betrieb Familie

      2.2.Betrieb Familie

      Stellen Sie sich Ihre Familie wie einen kleinen Betrieb vor. Die Eltern sind die Vorgesetzten, die Kinder die Mitarbeiter. Da stellt sich die Frage: Haben Sie Führungskompetenz? Wissen Sie, was Sie von welchem Mitarbeiter verlangen können? Sind die Aufgaben klar definiert? Geben Sie Gelegenheit zur Mitsprache? Nehmen Sie die Sorgen Ihrer Mitarbeiter ernst? Überlegen Sie sich, was Sie von einem Chef erwarten, damit Sie gerne für ihn arbeiten, und prüfen Sie, wie weit dieses »Anforderungsprofil« auf Sie zutrifft als »Boss« Ihren Kindern gegenüber.

      Wie viel Führungskompetenz haben Sie?

      Die nächste Frage ist, ob Sie sich als Chef ernst genommen und respektiert fühlen. Können Sie sich durchsetzen? Wird Ihre Autorität akzeptiert? Sind Sie konfliktfähig? Können Sie delegieren? Wie locker oder mühsam funktionieren die alltäglichen Abläufe? Wie viel Kontrolle dürfen oder müssen Sie ausüben? Passt das Betriebsklima? Stimmt die Vertrauensbasis? Gibt es Mobbing oder Machtmissbrauch? Macht das Zusammenleben Freude oder ist es von Chaos, unterschwelligen Konflikten und Machtkämpfen geprägt? Wichtig ist auch, ob das Führungsteam, die Eltern, gut kooperieren und wertschätzend und freundlich miteinander umgehen und ob Fairness und Solidarität die Beziehungen prägen.

      Eine Fülle von Aufgaben

      Der Betrieb Familie hat eine Fülle von Aufgaben zu bewältigen, die von Visionen und Zielen geleitet werden: Die materielle Existenzsicherung der Familie, Gesundheit und Freizeit, die Entfaltung und Ausbildung des Nachwuchses – das alles erfordert bewusstes Handeln, die Schaffung tragfähiger und klarer Strukturen und gerade in unserer modernen Welt ein kluges und effizientes