Gewaltfrei, aber nicht machtlos. Maria Neuberger-Schmidt

Читать онлайн.
Название Gewaltfrei, aber nicht machtlos
Автор произведения Maria Neuberger-Schmidt
Жанр Социология
Серия
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783709500125



Скачать книгу

Kind in seiner Freiheit zu respektieren erfordert sehr viel Einfühlungsvermögen und Verständnis. Daher sind hier die erforderlichen Schlüsselqualifikationen das aktive Zuhören und das Hinführen zu Selbständigkeit und Einsicht durch das elterliche Coaching-Gespräch mit der Formel »verstehen – klären – lösen«, das in einem späteren Kapitel vorgestellt wird.

      Korb 2: Der Korb der Mitbestimmung

      Die moderne Auffassung von Pädagogik geht davon aus, dass Kinder selbständiger und selbstbewusster werden, wenn sie angemessen mitreden und mitbestimmen können. Auch ich teile diese Ansicht. Wenn Kinder die Erfahrung machen, dass sie auf rechte Weise (»Mama, bitte darf ich …?« »Ich hab’ einen Vorschlag …«) und mit guten Argumenten bei ihren Eltern etwas erreichen können, haben sie es nicht nötig, zu trotzen und zu erpressen. Doch ist es Aufgabe der Eltern, darauf zu achten, Kinder mit der Frage »Was willst du?« nicht zu überfordern. Das hängt vom Alter und Reifegrad des Kindes ab und ob die Eltern dafür sorgen, dass vereinbarte Regeln eingehalten werden.

      Wenn Sie sich gestört fühlen, ist es ebenfalls von Vorteil, Mitbestimmung einzuräumen, statt Befehle auszuteilen: »Ich hab’ ein Problem: Ihr seid mitten im Basteln, aber wenn der Tisch voll geräumt ist, kann ich nicht kochen …« Wenn Sie Ihren Kindern Gelegenheit geben, selber Lösungsvorschläge einzubringen, werden sie mehr Verantwortung übernehmen und beide Seiten fühlen sich respektiert – so mancher Machtkampf kann so vermieden werden.

      Die kommunikativen Schlüsselqualifikationen im Korb der Mitbestimmung sind verschiedene Verhandlungstechniken, wie sie vor allem auch Thomas Gordon in seiner »Familienkonferenz« sehr schön dargestellt hat. In vielen Unternehmen ist betriebliche Mitbestimmung eine Selbstverständlichkeit und trägt bedeutend zur Motivation der Mitarbeiter und zum Unternehmenserfolg bei.

      Korb 3: Der Korb des Gehorsams/der Autorität

      Warum verwende ich dieses für viele Menschen so ungeliebte Wort? Ich könnte doch einfach nur vom Grenzensetzen reden. Grenzen setzen müssen wir im Leben immer wieder, auch auf gleicher hierarchischer Ebene, wenn zum Beispiel ein Kollege oder Nachbar meine Grenzen missachtet. Hier aber geht es darum, dass Kinder lernen, sich einzufügen und unterzuordnen. Diese Tugenden stehen heute nicht hoch im Kurs, weil man häufig annimmt, dass sie dem gesunden Selbstbewusstsein im Wege stehen. Das ist ein Irrtum. Wer Führungsqualitäten erwerben will, muss zuerst einmal gelernt haben, sich unterzuordnen. Dies ist gerade in den ersten Kindheitsjahren sehr wichtig. Kinder fühlen sich gut, wenn sie sich ihren Eltern bedingungslos anvertrauen und unterordnen können, in der Gewissheit, dass sie auch ihrerseits mit ihren Anliegen ernst genommen werden. Dann strahlen sie Heiterkeit und innere Ruhe aus. Notorische Neinsager hingegen sind nicht selbstbewusster, sondern labiler, launenhaft, überdreht und unausgewogen.

      Welche kommunikativen Strategien können Eltern anwenden, um sich in Korb 3 durchzusetzen? Hier kommt es vor allem zum Einsatz von Ich-Botschaften, Anweisungen, Geboten und Verboten, Regeln und Konsequenzen. Manchmal kann auch eine Strafe angemessen sein – vorausgesetzt, sie greift nicht auf körperliche Züchtigungen oder Demütigungen zurück.

      Wie können Eltern erkennen, auf welcher Ebene, in welchem Korb sie jeweils reagieren sollten?

      Hier einige Beispiele:

      •Ihr Kind hat ein Problem, kommt mit sich selber und seinen Gefühlen nicht klar? Verständnis und Einfühlungsvermögen sind gefragt: Korb 1.

      •Es missachtet Ihre Grenzen? Dann haben Sie Handlungsbedarf in Korb 3.

      •Sie reden sich »den Mund fusselig«, aber es fehlt Ihrem Kind an Einsicht? Fragen Sie sich leise: »Fühle ich mich ernst genommen?« Wenn Sie die Frage mit nein beantworten müssen, ist ebenfalls Handlungsbedarf in Korb 3.

      •Sie spüren bei Ihrem Kind ein legitimes Streben nach Autonomie? Bieten Sie Mitsprache an, um neue Vereinbarungen zu treffen! (Korb 2)

      Für eine Kultur des Widerspruchs

      Um sicher zu gehen, dass wir Eltern nicht über kindliche Bedürfnisse »drüberbügeln«, müssen wir ihnen die Möglichkeit einräumen, Einwände zu präsentieren. Wenn Sie der Meinung sind, dass die Steuervorschreibung zu hoch ist, erheben Sie Einspruch. Wenn Ihr Kind der Aufforderung »Zieh dich an, wir müssen gehen!« nicht nachkommen will, kann es mit Ihnen Verhandlungen aufnehmen und somit in Korb 2 (Mitsprache) wechseln: »Darf ich noch den Turm fertig bauen?« Grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass Sie diesem Einwand stattgeben – aber die Führungskompetenz bleibt bei Ihnen.

      Zuerst »abholen«, dann hinführen

      Sie sollten sich von einem Tobsuchtsanfall im Supermarkt von Ihrem Kind nicht erpressen lassen, daher ist Korb 3 (Gehorsam) angesagt. Ein stures elterliches Nein kann die Eskalation jedoch noch verschärfen. Wie wäre es, Sie holen Ihr Kind in Korb 1 (Freiheit) ab, indem Sie zunächst Verständnis für seinen Wunsch äußern (»Du hättest dieses Spielzeugauto wirklich gerne …«) und dann erst zu Ihrem Entschluss zurückkehren (Ich-Botschaft: »Das Problem ist nur, dass ich dir nicht jedes Mal etwas Neues kaufen will, wenn wir einkaufen gehen. Aber du kannst wählen, welches Joghurt du möchtest.« (Korb 2) So wird es Ihrem Kind leichter fallen, Ihr Nein zu akzeptieren (Korb 3).

      Mit diesem kurzen Ausflug zur Kunst des Grenzensetzens möchte ich veranschaulichen, wie Sie zwischen den drei Körben flexibel hin- und herschwenken können – und Ihre Führungskompetenz

      beibehalten.

      Vorsicht Machtmissbrauch!

      Die Notwendigkeit der Wahrung elterlicher Autorität soll aber kein Freibrief für willkürliche Machtausübung sein. Gar zu leicht lässt sich Autorität missbrauchen – wenn Eltern nicht auf die Gefühle ihrer Kinder eingehen und wichtige Bedürfnisse missachten, wie Aufmerksamkeit, Zuwendung, Überforderung, bzw. »lästiges« kindliches Verhalten autoritär »abstellen«.

      Hier einige Beispiele:

      •Wenn Einwände abgewimmelt werden:

      »Warum muss ich die warme Weste anziehen?« »Weil ich es gesagt habe!« – »Warum darf ich nicht zu meinem Freund gehen?« »Weil ich nicht will!« – »Ich bin schon so müde, ich will nach Hause gehen!«, aber Kinder die halbe Nacht lang das Elternprogramm absolvieren müssen.

      •Wenn kindliche Kritik abgeschmettert wird:

      »Mama, du hast selbst gesagt, dass man vor dem Essen nicht naschen soll!« »Sei nicht so frech!« – »Papa, du hast versprochen, mit mir zu spielen!« »Jetzt gib endlich Ruhe!«

      •Wenn Meinungen der Kinder lächerlich gemacht werden:

      »Was verstehst denn du schon davon!«

      •Wenn mit Angst manipuliert wird:

      »Wenn du nicht sofort aufhörst, holt dich der schwarze Mann!«

      •Wenn mit Liebesentzug gedroht wird:

      »Wenn du nicht brav bist, hab ich dich nicht mehr lieb!«

      •Wenn Eltern die Abhängigkeit der Kinder missbrauchen und ihre Macht ausspielen:

      »Wenn es dir nicht passt, kannst du ja gehen!«

      Herausforderung in Liebe

      Es war immer schon so: Kinder stellen Eltern in Frage, Kinder halten uns den Spiegel vor, Kinder machen uns auf unsere eigenen Fehler und Schwächen aufmerksam. Das tut manchmal weh. Aber wenn wir uns ernsthaft damit auseinandersetzen, dann fördern wir nicht nur die Beziehung zwischen uns und unseren Kindern, sondern auch unsere eigene Entwicklung. Wenn Offenheit, Verständnis und Wertschätzung unsere Beziehungen prägen und wir nicht alles persönlich oder tierisch ernst nehmen, sondern uns vom kindlichen Humor anstecken lassen, dann können unsere täglichen familiären Auseinandersetzungen durchaus witzig und lustvoll sein – sind sie doch die Übungswiese unserer Kinder zum Erlernen sozialer Kompetenz.

      Die eigenen Kinder sind unsere größte Herausforderung. Es gibt keine schönere Anerkennung, keinen größeren Erfolg im Leben, als die Liebe und die Achtung unserer