1 PUNKT. Helmut Ecklkofer

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Название 1 PUNKT
Автор произведения Helmut Ecklkofer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944987330



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sie auf die Steilküste ihrer Erinnerungen. Die Tränen auf ihren Augen funkeln wie Saphire im Sonnenlicht. Die goldene Zahl Phi taucht auf. Eiskalter Charme verschwindet hinter bunten Häuserfassaden. Kira will die Zeit in Sinn verwandeln. Ihre Wahnvorstellungen überträgt sie fein säuberlich in alle sozialen Netzwerke.

      Ihr digitales Spiegelbild ist wunderschön. Makellos sitzt Kira da in einem lila Seidenkleid, die fast gläsern wirkenden Beine, die fragilen Arme, das schmale Gesicht, die pistazienfarbenen Augen, alles scheint perfekt. Nur ihre Seele schreit nach Liebe, nach Sex, nach dem gewissen Kick. Sie wendet ihren Blick ab vom leuchtenden Bildschirm, der wie eine altertümliche Höhensonne sein blaues fahles Licht auf ihre purpurroten Lippen wirft, die dadurch noch sinnlicher wirken. Das elektronische Summen des Computers ist das einzige Geräusch, das sie noch wahrnimmt. Ja, nein, vielleicht. Der weiße Tod wartet hinter der imaginären Leinwand. Sie spricht von einem anderen Ich. Ihre eigene Welt erscheint ihr plötzlich so fremd. Sie weckt ihre eigenen Dämonen. Ihr Geist hungert. Kira lächelt in die Kamera. Ein sinnlicher Blick, eine immer wieder einstudierte Pose. Ein kurzer Datencheck. Den Porträtmodus aktiviert. Alles scheint perfekt. Das Selfie gibt ihr Kraft zurück. Wie schön, einmal Dornröschen zu sein. Eine Armee von Schmetterlingen zieht los. Beflügelt von der Phantasie des Windes.

      GREENPEACE

      ES GIBT GENUG RAUM FÜR TRÄUME

      Klick. Das Foto ist fertig. Die Szene ist für immer festgehalten, eingefroren, die Welt für einen kurzen Augenblick angehalten. Das satte Grün der Blumenwiese, die schneeweiße Tischdecke, der festlich gedeckte Tisch mit der üppigen Dekoration, die Ornamente, die Symmetrie der Gegenstände, die wie ein Heer von Soldaten in einer Reihe akkurat verteilt über die Fläche aufgereiht dastehen. Links daneben der alte Baum mit der großen Schaukel. Ein kleines Mädchen mit einem farbenfrohen Kleid, auf dem winzige Blüten aufgedruckt sind, schaukelt gedankenversunken auf und ab. Das Lachen der fröhlichen Menschen ist schon von weitem zu hören. War das eine imaginäre oder eine reale Welt. Es gibt scheinbar keine Trennlinie, keine Abgrenzung zwischen Schwerelosigkeit und Schwerkraft. Die Kulisse funktioniert, weil irgendjemand ihr eine Seele gegeben hat, eine Bedeutung, eine Existenz. Es gibt genug Raum für Träume und die ungeliebte Wirklichkeit. Und doch lockt das Schauspiel meine Neugier. Ich sitze da, als stiller Beobachter, und sehe, wie die Avatare ihre Gesichter tauschen. Plötzlich hatte die Welt andere Farben, andere Töne, andere Gerüche. Ich schlage das Buch der Phantasie auf, blättere und suche nach der einen Stelle. Und da ist sie. Es war also doch kein Märchen, keine Einbildung. Ich schließe die Augen und die Bilder holen mich ein, das Gestern wird aufgelöst, nur winzige Bruchteile bleiben mir im Gedächtnis. Und doch wäre ich gerne einer der Gäste an der reich gedeckten Tafel. Würde gerne meine Lachmuskeln spüren. Mein Herz hatte die gewisse Freiheit. Jeder Dialog ein kleines Geschenk. Akustische Muster dringen an mein Ohr. Ich bin wie ein Dolmetscher, der seine eigenen Worte übersetzt. Wie ein Maler, der sein Bild immer und immer wieder übermalt. Ein Zauberer, der sich selbst verzaubert. Ein BauMeister, der seine eigenen Luftschlösser baut. Es scheint nicht gut genug zu sein. Nicht perfekt genug. Die Farben strahlen noch nicht, der Ausdruck ist fahl. Ich zappe in der Vielfalt der Kanäle hin und her, auf und ab, rechts und links. Und dann entdecke ich die weiße Leinwand, die so rein und unberührt, so klar das Nichts widerspiegelt. Ich achte auf jedes noch so kleine Detail, das völlig unerheblich sein mag, und forme daraus meine Welt. Ich improvisiere mit Sehnsüchten, mit Affronts, mit Gefühlen, mit mir selbst.

      SHADOW

      ER BEFINDET SICH IN EINEM LICHTTUNNEL

      Schallwellen verirren sich im Raum. Schatten verzieren die kahlen Wände. Mike Oldfields Hit „Shadow On The Wall“ erklingt digital, akkurat, remastered, perfekter als das Original. Erinnerungen legen sich wie Schatten über Leon. Die Töne treffen auf, heben ab, ein Teil wird verschluckt, so dass er nur den Refrain versteht. „Treat me like a prisoner“. Eine Metapher für den Zeitgeist. Leon wirft sich in die Hype-Arena. Tanzende Körper sprühen Funken – Metall wird durchtrennt. Jede Bewegung hinterlässt lange dunkle Schatten, die sich zu immer neuen Mustern vereinen. Sie docken an und reißen auseinander. Auch Leon sieht seinen Schatten inmitten der fragilen Scherenschnitte auf den aalglatten Betonwänden. Nur sein Schatten scheint anders zu sein. Filigraner, feiner, verletzlicher. Doch erst das Licht lässt auch all die anderen Schatten entstehen. Jedes Staubkorn wirft seinen Schatten. Alle Nuancen des Lichts strahlen auf ihn ein. Leon ist in all den Schatten gefangen. Ein unsichtbares Band verbindet ihn mit dem schwarzen Nichts, das dort am Boden, an den Wänden, plötzlich überall erscheint. Übermächtig. Die Stunden drehen sich um ein Karussell aus Eitelkeiten. Geblendet verlässt er die schwarze Hölle. Er befindet sich in einem Lichttunnel und jagt seine Ängste durch die Nacht. Die Straße liegt da, wie ein dunkler Schnitt in der Landschaft. Er folgt ihr, in der Hoffnung, sein eigenes Ich wiederzufinden. Im ersten Licht des Morgens empfängt er neue Nachrichten. Doch wie mutig wird er sein? Wird er sich gegen das Licht stellen? Wird er eins werden mit dem Licht? Wird er vom Licht verschluckt? Wird er unsichtbar? Oder erstrahlt er im Licht? In seinem Licht. Ja, alle sollten ihn sehen. Leon sieht sich im Scheinwerferlicht ganz oben und alles um ihn ist in absolute Dunkelheit gehüllt. Er ragt aus dem schwarzen Nichts heraus. Verwandelt sich unbemerkt in ein funkensprühendes Gebilde, dessen Strahlen sich messerscharf in die Herzen der Menschen bohren. Licht entzündet kleine Feuerwerke. Kunstwerke von so wunderbarer Schönheit, die jedoch nur er erkennt. Lichtpunkte wechseln die Richtung. Schwarz und Weiß wechseln sich ab. In Lichtgeschwindigkeit trägt ihn die Rauchwolke davon zu einer fernen Galaxie.

      REMEMBER

      DIE ZEIT ERSCHEINT IM SPIEGEL

      WAS FÜR EINE VITA VON WAHNSINN

      Die Musik klingt vertraut. Jeder Ton speichert eine Erinnerung. Gegen das Licht gehalten erscheint ihre Silhouette zerbrechlich. Alles ist fiktiv, alles wie feinstes Porzellan, das im Takt des Herzschlags vibriert. Er legt seine Gedanken zur Seite und sie verschwinden im nächsten Augenblick im Meer der Erinnerungen. Entscheiden feine Nuancen, die wie mit einem Glasschneider ihre Herzen zerschnitten haben, über Leben und Tod? Es ist wie ein Handel mit Devotionalien, ein Ablasshandel, ein Tauschgeschäft. Romeo und Julia tauschen ihre Liebe ein. Digitale Phantasien mischen sich zu jener schwarzen Masse, die undurchdringbar scheint. Der weiße Stift fährt über das weiße Blatt und allmählich erwachen die Buchstaben zum Leben. Klar und immer klarer. Sophia liest Zeile für Zeile. Doch nicht die Wörter ergeben einen Sinn, es sind die Abstände der Zeilen, die Abstände der Buchstaben, die ihre eigenen Geschichten erzählen. Die Finger gehorchen nicht mehr, die Tastatur wird zum Abenteuerspielplatz. Zeichen und Buchstaben wechseln einander ab. Shortcuts, Command, Steuerung Alt und D, Strg-C, Strg-D. Alles geschieht in Millisekunden. Icons, Piktogramme, Schriftzeichen, die große weite Welt der Buchstaben liegt vor ihr. Keine Farbe, keine bunten Tupfer, nur schwarz und weiß. Positiv und negativ. Clean, absolut rein. Messerscharfe Konturen schneiden sich ins Papier, tauchen ein in die unregelmäßige Struktur der Oberfläche. Sophia erreichte ein neues Level, wie in einem Computerspiel tastete sie sich voran, immer auf der Suche nach einem neuen Kick, einem neuen digitalen Abenteuer. Die Zeit erscheint im Spiegel der Glückseligkeit. Bleibt einen kurzen Moment, Glücksmomente paaren sich öffentlich in einer Art viraler Sexszene. Von Höhepunkt zu Höhepunkt schweben die Gedanken, die wie Starfighter den klaren Himmel mit ihren weißen Kondensstreifen in kleine überschaubare Spielfelder teilen. Sie hat das Passwort zu ihrem Glück nicht abgespeichert. Sophia versucht die verschiedensten Kombinationen und die aberwitzigsten Verknüpfungen. Erfolglos. Sie hat sich selbst den Zugang versperrt. Sie schwebt in der Cloud wie ein Rokkaku, einer dieser sechseckigen japanischen Kampfdrachen, der wie ein Blatt im Wind dahintreibt, um plötzlich zuzuschlagen. Sie kämpft gegen ihre Seele. Es vollzieht sich eine Metamorphose der ganz besonderen Art. Sie fühlt sich größer als das Leben. Was für eine Vita von Wahnsinn und Vergessen, von Gier und Hass. Bis endlich alles eins wird, ihr Kopf, ihre Seele, ihr Körper. Leise Zwischentöne, zarte Berührungen und doch fehlt die Liebe, die ganz große Liebe. Sie schwebt und fühlt sich wohl und doch bekommt sie bei ihrem Höhenflug Flugangst. Sie beobachtet sich selbstkritisch wie eine Voyeurin, die zwischen Depression