Wer hilft mir, was zu werden?. Annamarie Ryter

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Название Wer hilft mir, was zu werden?
Автор произведения Annamarie Ryter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783035504408



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Anforderungen, sondern auch in einer Unübersichtlichkeit der Unterstützungsangebote spürbar. Jugendliche, deren Weg in den Beruf aufgrund bildungsbiografischer, sozialer und/oder gesundheitlicher Schwierigkeiten mehrschrittig verläuft, kommen immer wieder in Situationen, in denen Dinge nicht wie geplant verlaufen. Aufgrund abgebrochener Ausbildungen oder Berufsorientierungsmaßnahmen entstehen für viele Jugendliche Orientierungs- und Entscheidungssituationen, die sie nur in Ausnahmefällen allein bewältigen können. Zusätzlich werden ihnen solche Situationen oftmals als persönliches Versagen ausgelegt, was zu einer nachhaltigen Stigmatisierung führt.

      Diese Herausforderungen werden seit einigen Jahren in Deutschland nicht nur thematisiert, sondern auch durch konkrete pädagogische Angebote angegangen.

      Bei vielen Ansätzen wurde dabei den kommunalen Gebietskörperschaften die Rolle zugedacht, im Rahmen eines regionalen Übergangsmanagements die notwendigen Abstimmungsprozesse zu moderieren. Inwieweit dieser sehr grundlegende Prozess erfolgreich verläuft, ist noch nicht abschließend zu beurteilen, da erst wenige dieser Modellversuche abgeschlossen und ausgewertet wurden. Allerdings gibt es schon jetzt Hinweise darauf, dass aufgrund der Komplexität und Dynamik des Arbeitsfeldes und seiner politischen und finanziellen Rahmenbedingungen eine Ausrichtung auf monolithische »Ein-für-alle-Mal-Lösungen« nur wenig Erfolg versprechend ist.

      Der Begriff der Berufsorientierung wird von uns weit gefasst. Er beinhaltet zum einen den individuellen Prozess der subjektiven Orientierung auf das Erwerbsleben, als Berufsfindungsprozess, der neben anderen Entwicklungsaufgaben als maßgebliches Kriterium für das Gelingen der Statuspassage vom Jugendlichen in das Erwachsenenleben gilt. Zum anderen bezeichnet der Begriff die Vielzahl von Maßnahmen und Aktivitäten, mit denen innerhalb und außerhalb von Schule gezielt das Gelingen dieses Übergangs gesichert werden soll. Die Ausweitung berufsorientierender Angebote und die Entstehung des Übergangssystems sind Indikatoren für die Aspekte eines gesellschaftlichen Wandels, der mit der Subjektivierung von Erwerbsarbeit, veränderten Qualifikationsanforderungen, der Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen und der Globalisierung von Arbeitsmärkten einhergeht. Er stellt alle Akteure, Lehrkräfte, Berufsberater und Berufsberaterinnen, Mitarbeiter/innen der Jugendhilfe, Jugendliche und Eltern vor Orientierungsprobleme.

      Nachfolgend werden wir ausgewählte Aspekte dieser Orientierungsprobleme nachzeichnen und die Dimensionen der Neuorientierung im Spannungsfeld zwischen subjektivem Bewältigungspotenzial und strukturellem Ordnungsbedarf skizzieren. Die beschriebenen Entwicklungen fordern an vielen Stellen eine kritische Betrachtung geradezu heraus. Wir werden diese als Orientierungsbedarf im Übergangssystem thematisieren. Unser Anliegen ist es, einige Leitlinien aufzuzeigen, entlang deren sich solche Orientierungsprozesse vollziehen können. Diese Perspektive ermöglicht es, weitergehende gesellschaftliche Differenzkategorien und Ungleichheitsstrukturen im Einzelnen in den Blick zu nehmen. Die hier notwendigen Auslassungen beziehen sich unter anderem auf Gender-Effekte, Inklusion, Kritik der Erwerbsarbeit und deren Prekarisierung sowie auf soziale Selektionsprozesse des Übergangssystems.

      Von der Benachteiligtenförderung zum Übergangssystem

      Die ersten Schritte

      Die Entstehung des Übergangssystems lässt sich in Deutschland bis ins Jahr 1980 zurückverfolgen. Unter diesem Begriff werden alle Förder- und Qualifizierungsangebote im Anschluss an die allgemeinbildende Schule und im Vorfeld einer Berufsausbildung zusammengefasst. In Reaktion auf die erste große Welle von Jugendarbeitslosigkeit wurde vom damaligen Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft das »Modellprogramm zur Benachteiligtenförderung« eingerichtet, das sich seither in mehreren Zwischenschritten zu einem eigenständigen Bildungssegment weiterentwickelt hat und im Bildungsbericht der Bundesregierung 2006 erstmals als Übergangssystem bezeichnet wurde. Angesichts des offensichtlich nachlassenden Integrationspotenzials des Ausbildungsmarktes wurde damit die besondere Förderung des Übergangs von der Schule in den Beruf für »junge Menschen mit individuellen Beeinträchtigungen, Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten, schlechten Startchancen nach der Schule, aus Migrantenfamilien oder schwierigem sozialem Lebenskreis ohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz« (BIBB, 2005, S. 2) eingerichtet. Eine gesetzliche Grundlage erhielt das Benachteiligtenförderungsprogramm 1988, indem es in das Arbeitsförderungsgesetz (AFG) aufgenommen wurde. Förderrechtlich zuständig ist für diesen Bereich seither die Bundesagentur für Arbeit. Die Gesamtheit der Maßnahmen der Benachteiligtenförderung war zunächst weniger auf die individuelle Förderung der einzelnen Jugendlichen gerichtet, sondern allgemeiner auf die Abschaffung des seinerzeit neuen Phänomens Ausbildungslosigkeit. Erst zwanzig Jahre später, nachdem vielfältige Angebote der Berufsorientierung und Berufsvorbereitung innerhalb des Bildungssystems etabliert waren, an berufsbildenden und allgemeinbildenden Schulen und in der kommunalen Jugendberufshilfe, wurde ein systematischer Regelbedarf des Übergangs von der allgemeinbildenden Schule in Ausbildung als Problembereich thematisiert. Die Passung zwischen institutionalisierter Lenkung, betrieblichen Anforderungen und individuellem Bewältigungspotenzial war mit den etablierten Mitteln des Bildungssystems allein offensichtlich nicht mehr herzustellen.

      Kritik an der Benachteiligtenförderung

      Jene Maßnahmen zur Benachteiligtenförderung standen lange Zeit unter Kritik, denn sie verwiesen auf eine offensichtliche Schwachstelle des dualen Ausbildungssystems: Es bleibt unmittelbar abhängig von der Entwicklung des Arbeitsmarktes und vom Ausbildungsplatzangebot der Arbeitgeber. Als Form der Reaktion auf das gesellschaftliche Problem der »Integrationslücke« (Kell, 2006) hatte sich eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen der sogenannten Benachteiligtenförderung zu einem »Förderdschungel« entwickelt. Die quantitative Dimension der Maßnahmen zur Benachteiligtenförderung stellte den Normalitätsanspruch der dualen Berufsausbildung und damit das grundlegende Legitimationsmuster der Berufspädagogik infrage.

      Die Einsicht, dass die biografischen Bewältigungsaufgaben benachteiligter Jugendlicher vielfach zu komplex sind, um ausschließlich auf die Einmündung in Ausbildung reduziert zu werden, begründete in der Praxis die Dualität sozial- und berufspädagogischer Interventionen. Bezogen auf die Praxis der Benachteiligtenförderung, ergab sich daraus die Frage, in welchem System Maßnahmen sinnvollerweise angesiedelt sein sollten. Berufsbildende Schulen und außerschulische Träger stritten darum, welches der bessere Lernort sei. Für jene Maßnahmen der Benachteiligtenförderung, die von der Bundesagentur für Arbeit gefördert wurden, galt, dass der Zugang an die Diagnose einer individuellen Benachteiligung gekoppelt war (und bis heute ist). Ein fehlender Hauptschulabschluss oder mangelnde »Ausbildungsreife« waren die Bedingungen für die Teilnahme an einer Fördermaßnahme. Benachteiligtenförderung stellte somit eine Form der Besonderung dar, die konzeptionell einen Defizitansatz transportierte. Fördermaßnahmen wurden kritisch als ausgrenzende Warteschleifen oder Parallelsysteme bezeichnet, da sie »Schlüsselqualifikationen für verschlossene Türen« vermittelten (Heikkinen & Niemeyer, 2005). Dieser Defizitansatz ließe sich nur durch bildungspolitische Interventionen abbauen, die auf die Normalisierung der Übergangsförderung zielten – dies war eine zentrale Erkenntnis aus dem BMBF-Programm »Kompetenzen fördern – Berufliche Qualifizierung für Zielgruppen mit besonderem Förderbedarf« (www.kompetenzen-foerdern.de [20.7.2013]).

      Wende in der Ausrichtung außerschulischer Maßnahmen der Benachteiligtenförderung

      Dominierend in der Gestaltung der außerschulischen Maßnahmen waren in Deutschland die paradigmatischen Setzungen der Agentur für Arbeit, die mit der finanziellen Förderung zugleich auch die Struktur der Maßnahmen und deren pädagogische Ausrichtung vorgab. Kennzeichnend für die Maßnahmen, die von der Bundesanstalt für Arbeit gefördert wurden, war bis 2004 eine integrative Verbindung von berufs- und sozialpädagogischen Konzepten, wie sie im Durchführungserlass 4/1996 mit der Einführung der »sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung« markiert war. Im Jahr 2004 erfolgte mit der Einführung des »neuen Fachkonzepts« eine Wende. Diese führte nicht nur zu einer Verschlechterung der materiellen Bedingungen durch die Verkürzung der Förderperioden und zentralisierte Vergabeverfahren und zu einer massiven Verunsicherung in der Trägerlandschaft, sondern leitete auch eine Erneuerung der Förderparadigmen (Winter, 2004, S. 2) ein. Dies kam unter anderem im Schlagwort »Fördern und Fordern« zum Ausdruck und mündete in eine Förderpraxis, die gekennzeichnet war (und