Wer hilft mir, was zu werden?. Annamarie Ryter

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Название Wer hilft mir, was zu werden?
Автор произведения Annamarie Ryter
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783035504408



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(z. B. durch individuelle Förderplanung), Modularisierung von Qualifizierungsphasen (z. B. durch »Qualifizierungsbausteine«) und das Bestreben einer möglichst frühen und möglichst langfristigen Eingliederung in betriebliche Arbeit im Rahmen von Praktika.

      Damit folgte dieser Bereich der Benachteiligtenförderung dem Legitimationsmuster der Individualisierung gesellschaftlicher Problemlagen. In der Praxis wurde Förderpädagogik auf die Entwicklung und Anwendung von Instrumenten zur kleinschrittigen und individualisierenden Eingliederung in Erwerbsarbeit reduziert, Förderprozesse wurden segmentiert. Ergänzt wurde die Förderung durch eine Bildungsbegleitung, die konzeptionell die bislang integrativ konzipierte sozialpädagogische Unterstützung weitgehend ersetzte. Um der Gefahr der Zerstückelung und Vereinzelung zu begegnen, wurden die Träger der Maßnahmen programmatisch zu Vernetzung und Kooperation aufgefordert. Diese Aufforderung richtet sich an die Ebene der Institutionen bzw. deren pädagogische Akteur/innen, deren Netzwerke die zu fördernden Jugendlichen möglichst direkt in ein Betriebspraktikum führen sollten. Das Primat der Eingliederung in betriebliche Arbeit, das als vorrangiges Förderziel transportiert wird, problematisiert kaum, dass dieses Ziel unerreichbar sein kann, wenn zum Beispiel Ausbildungsstellen fehlen oder wenn individuelle oder soziale Problemlagen so brisant sind, dass sie vorrangig behandelt werden müssen, bevor eine geregelte Arbeit aufgenommen und durchgehalten werden kann.

      Neuausrichtung der außerschulischen Berufsvorbereitung

      Das »neue Fachkonzept«, das den außerschulischen Bereich der Berufsvorbereitung regelt, der durch die Agentur für Arbeit gefördert wird, wirkt als Mediator zwischen einer neoliberalen Arbeitsmarktpolitik und der etablierten beruflichen Ordnung. Diese doppelte Orientierung auf die individualisierte Erwerbsbefähigung einerseits und die Einbindung in das duale Ausbildungswesen andererseits kennzeichnet die Auslegung des Konzeptes. Beruflichkeit erscheint immer dann als Bezugspunkt, wenn es um die Konzeption von Anschlüssen und Übergängen geht, die auf das – nach wie vor dominierende – Berufsmodell ausgerichtet sind. Als Ziel wird die »Verbesserung der beruflichen Handlungsfähigkeit und die Erhöhung der Eingliederungschancen in Ausbildung und Arbeit« genannt, wobei die persönliche Verantwortung der Teilnehmer unterstrichen wird (Bundesagentur für Arbeit, 2004, S. 6). Insbesondere bei der Ausdifferenzierung der Förderziele wird deutlich, dass diese auf eine schnellstmögliche Eingliederung in betriebliche Erwerbsarbeit gerichtet sind und deutliche Merkmale des Konzepts der Erwerbsfähigkeit (employability) transportieren. Gleichzeitig wird die Erhöhung der Quote der Übergänge in Ausbildung als Maßnahmenziel wiederholt betont und eine Kooperation der Maßnahmenträger mit Betrieben als Qualitätsmerkmal ausdrücklich festgeschrieben (Bundesagentur für Arbeit, 2004, S. 27), die zu einer Erhöhung des betrieblichen Ausbildungsangebots beitragen soll.

      In dem so entstehenden System der beruflichen Benachteiligtenförderung bestimmten sich die sozialen Grenzziehungen neu, mit denen im Medium beruflicher Bildung der Zugang zu Erwerbstätigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe geregelt wurde. Neben den institutionalisierten Lernorten Berufsschule und Betrieb gewannen andere Einrichtungen außerschulischer Bildung an Bedeutung. Während in den Anfangszeiten der Jugendarbeitslosigkeit in den 1980er-Jahren in Selbsthilfeprojekten arbeitsloser Jugendlicher noch Eigenorganisation und Selbstverwaltung gegen die herrschende Ausbildungspraxis gesetzt wurden, schien eine solch kritische Perspektive auf Ausbildung und Erwerbsarbeit bald schon nicht mehr opportun. Im normativen Diskurs seit Ende der 1990er-Jahre wurde die Verantwortlichkeit für Ausbildungslosigkeit vor allem und nahezu ausschließlich an Kompetenzdefiziten der Jugendlichen festgemacht. Als Legitimationsmuster für den faktischen Ausschluss von Erwerbsarbeit figurierten individuelle Defizitzuweisungen – die gesellschaftlichen und systembedingten Ursachen gerieten aus dem Blick. Strukturelle Defizite, wie der konstante Rückgang von Ausbildungsplätzen, wurden als individuelle Defizite uminterpretiert und sollten pädagogisch behandelt werden.

      Neue Entwicklungen

      Aktuell zeichnet sich allerdings eine neuerliche Wende im Diskurs ab. Bedingt durch den sogenannten demografischen Faktor, schließt sich die Schere zwischen Ausbildungsplatznachfrage und -angebot in Deutschland tendenziell wieder, sodass die pädagogische Übergangsförderung im Hinblick auf die Vermeidung eines drohenden Fachkräftemangels wieder an Gewicht gewinnt. Zugleich haben in etlichen anderen Ländern Europas die Jugendarbeitslosigkeitszahlen eine Höhe erreicht, die sich nicht mehr mit individuellen Qualifikationsdefiziten erklären lässt.

      Die Erfahrung, dass die Unwägbarkeiten des Fördersystems durch Rechtsgrundlagen und Maßnahmen übergreifender Planung und Begleitung auf der individuellen Ebene zu bewältigen sind und für einzelne Jugendliche ein abgestimmtes Förderkonzept erreichbar ist, hat zur Forderung beigetragen, das Fördersystem auch auf struktureller Ebene so abzustimmen, dass kein Jugendlicher in die Gefahr kommt, auf dem Weg in den Beruf verloren zu gehen.

      Der verblassende Mythos des Matching

      Unabhängig von dem lange Zeit herrschenden Mangel an betrieblichen Ausbildungsplätzen verweist eine gleichbleibend hohe Quote von Ausbildungsabbrecher/innen (BMBF, 2006, S. 24) auf Defizite in der Berufswahlorientierung und der Passung zwischen institutionalisierter Lenkung, betrieblichen Anforderungen und subjektivem Bewältigungspotenzial. Allen Angeboten der Berufsberatung und -orientierung zum Trotz wird mindestens jeder fünfte Ausbildungsvertrag wieder gekündigt, die meisten davon innerhalb des ersten Ausbildungsjahres. Im Jahr 2011 betrug die Quote der vorzeitig gelösten Ausbildungsverträge sogar 24,5 Prozent (vgl. BIBB, 2013, S. 189). »Als Grund für die Beendigung ohne Abschluss gibt mehr als die Hälfte (53 %) der Jugendlichen an, die Ausbildung sei nicht das Richtige für sie gewesen« (a. a. O., S. 110). Betrachtet man zudem die unverändert fortbestehenden geschlechtsspezifischen Differenzen in der Berufswahl oder den nach wie vor deutlich geringeren Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im dualen Ausbildungssystem, so wird deutlich, dass Berufsfindungsprozesse einer Komplexität unterliegen, die durch die etablierten Steuerungsmittel, durch Informations- und Beratungsangebote nur bedingt beeinflusst werden kann.

      Gleichwohl definiert das deutsche Schulsystem Berufsorientierung als Querschnittsaufgabe für alle Schularten, die nicht direkt auf die Erlangung der Hochschulreife ausgelegt sind (Niemeyer & Frey-Huppert, 2009). Zusätzlich halten das Internet und der Buchhandel für Schulabgänger/innen eine Vielfalt an Angeboten bereit, die sich auf detaillierte Informationen zu Ausbildungsgängen 20, Berufswahltests 21 und der auch in diesem Bereich unüberschaubaren Fülle an Ratgeberliteratur erstreckt. Fast allen diesen Angeboten gemeinsam ist die wenig hinterfragte Grundannahme, dass Jugendliche vor allem detaillierte Informationen benötigen, um den »richtigen« Beruf zu finden. Diese »richtige Berufswahl« erscheint dabei als das Ergebnis eines Passungsprozesses zwischen einer relativ statisch gedachten Ausstattung an Talenten und Fähigkeiten des Jugendlichen und einem definierbaren Angebot auf dem Arbeitsmarkt mit klar umrissenen Qualifikations- und Anforderungsprofil.

      Diese Sichtweise geht auf den Trait-and-Factor-Ansatz von Frank Parsons (1909) zurück. Parsons geht davon aus, dass Menschen spezifische psychische Persönlichkeitsmerkmale aufweisen, aus denen sich eine Eignung für klar abgrenzbare Berufs- und Tätigkeitsfelder ableiten lasse. John Holland operationalisierte diesen Ansatz anhand von sechs Persönlichkeitstypen, die sich aus den Präferenzen in der Herangehensweise an Aufgabenstellungen definieren (Weinrach & Srebalus, 1994). Das vielbeschworene Matching hat hier seinen Ursprung – und damit im Jahre 1909, in dem Parsons seine Theorie veröffentlichte. Trotz aller Modernisierungen des Trait-and-Factor-Ansatzes und der Entwicklung eines ausgefeilten Instrumentariums an Berufswahltests, die sich nach wie vor zumeist an der von Holland entwickelten Typologie orientieren, hat sich die Grundannahme erhalten, Mensch und Arbeitswelt müssten in Übereinstimmung gebracht werden, um dem Individuum ein glückliches (Berufs-)Leben zu ermöglichen. Weder Individualisierung, lebenslanges Lernen noch andere Beschreibungen der grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderungen der Moderne und Postmoderne konnte dem Mythos des Matching etwas anhaben. Spricht man aber mit Jugendlichen über ihre Erfahrungen mit Unterstützungsangeboten im Übergang zwischen Schule und Beruf, so wird schnell deutlich, dass die Vielfalt der Angebote die Einfalt der Grundannahme nicht überdecken kann. Die Jugendlichen sehen sich einer Angebotspalette gegenüber, die sich weniger an ihrer Lebenswelt und der in sie eingebetteten Entwicklungsaufgaben orientiert, sondern nach wie vor darauf setzt, in einem