Meine zwei Leben. Martina Prewein

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Название Meine zwei Leben
Автор произведения Martina Prewein
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990011195



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Halle umherirren. Liebling, dreh dich um. Er entdeckt mich jetzt auch. Wir laufen aufeinander zu, umarmen uns, nicht länger als drei Sekunden. Während ich seinen Körper an meinem spüre, ist meine Welt wieder in Ordnung. Plötzlich sind sie weg, meine Ohnmachtsgefühle.

      Esti, was ist los? Ich bin zurück in der Wirklichkeit. Komm, gehen wir kurz raus auf den Parkplatz. Was soll ich Roland sagen? Ihm, diesem Menschen, dessen Leben so normal verlaufen ist. 47 Jahre hindurch. Bis jetzt.

      Er war sehr jung, als er heiratete, bald bekam er mit seiner Frau zwei Söhne. Er arbeitete immer fleißig, irgendwann begann es in seiner Ehe zu kriseln, seine Scheidung erfolgte aber in Freundschaft. Danach ging er eine neue Partnerschaft ein. Sie dauerte fast neun Jahre. Ich war der Trennungsgrund. Ich, Esti, eine Mörderin.

      Als wir zusammenkamen, zweieinhalb Jahre nachdem ich Holger und sechs Wochen nachdem ich Manfred getötet hatte, kannten wir einander schon einige Zeit. Manfred war mit Roland befreundet gewesen. So hatten wir einander kennengelernt. Ich mochte sofort seine ruhige Art, seine Verlässlichkeit, ich konnte gut mit ihm reden.

      Klar, dass er mir beistand, mir eine seelische Stütze sein wollte, nachdem Manfred als vermisst galt. Er versuchte mich abzulenken, lud mich zum Essen ein, er erkundigte sich ständig nach meinem Befinden. Es dauerte nicht lange, bis wir uns ineinander verliebten. Ich, 15 Jahre jünger als er, versprach ihm alles Glück dieser Welt. Wir werden eine Familie gründen, sag te ich zu ihm. Er war da nicht so zuversichtlich. Esti, ich hatte Hodenkrebs und eine Strahlentherapie, meine Chancen, ein Kind zu zeugen, sind gering. Du wirst sehen, es wird klappen, erklärte ich ihm. Und es hat wirklich geklappt.

      Jetzt sitzen Roland und ich am Flughafengelände, in seinem Auto, und ich weiß nicht, was ich ihm erzählen soll. Die Wahrheit geht nicht. Ich will ihn nicht zum Mitwisser machen. Er und das Baby in meinem Bauch sind die beiden Menschen, die ich am meisten liebe auf dieser Welt.

      Roland, ich muss weg, dringend. Ich werde jetzt gleich nach Spanien fliegen. Warum? Er schaut mich mit einem verständnislosen Blick an. Ich spüre, er hat keinen Verdacht. Er glaubt anscheinend noch immer, dass das Polizeiaufgebot vor meinem Eissalon mit einem Einbruch beim Friseur Erkan im Zusammenhang steht. Meinem Vater geht es sehr schlecht, erkläre ich ihm, du weißt, er ist herzkrank, er wurde heute Morgen in ein Spital gebracht. Warum hast du mich nicht schon früher angerufen? Von wem hast du die Nachricht erfahren? Von deiner Mutter, von deinem Bruder?

      Warum, höre ich Roland fragen, willst du mir deinen Eissalon überschreiben, bloß, weil du ein bisschen Zeit in Barcelona verbringen willst? Esti, lüg mich nicht an.

      Bitte, erwarte keine Antworten von mir. Stell mir keine Fragen mehr, ich möchte dich doch nur beschützen. Wovor? Esti, erklär mir endlich, was wirklich geschehen ist. Er wird lauter. Das kann ich nicht. Ich bitte dich nur, mir zu verzeihen. Was soll ich dir verzeihen? Fürchterliche Dinge sind geschehen, sage ich, es gibt so viele Missverständnisse, ich hätte früher mit dir reden sollen. Jetzt geh, fahr wieder in die Arbeit. Sein Blick zerreißt fast mein Herz. Bitte, fahr endlich. Ich küsse ihn noch einmal und steige schnell aus seinem Wagen.

      7

      Ich bin jetzt wieder alleine und fühle mich noch einsamer als vor dem Treffen mit Roland. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen. Wenn ich in Paris ankomme oder spätestens, wenn ich in Mexiko bin, wird mich die Interpol verhaften. Ich darf meine Tickets nicht benutzen. Ich muss weg vom Flughafen. Soll die Polizei hier nach mir suchen. Damit gewinne ich vielleicht etwas Zeit.

      Ich steige in ein Taxi. Zum Westbahnhof, bitte. Mein Magen beginnt zu rebellieren. Mir fällt ein, dass ich heute noch nichts gegessen oder getrunken habe. Ich merke, wie hungrig und durstig ich bin. Komisch, denke ich mir, dass diese Instinkte selbst in der fürchterlichen Situation, in der ich mich befinde, noch funktionieren.

      Ich schaue aus dem Fenster des Wagens. Wir fahren an zwei Lokalen vorbei, die ich jahrelang mit Eis beliefert habe. Nun begreife ich alles erst so richtig. Mein bisheriges Leben, es existiert nicht mehr. Die vielen Menschen in Wien, die ich mochte, ich werde sie nie wiedersehen, ihnen nichts erklären können. Was sollte ich ihnen sagen? Ich verstehe mich doch selbst nicht. Und ich bin auch nicht daran gewöhnt, über meine Probleme zu sprechen.

      Nach der Tat an Holger ging es mir psychisch sehr schlecht, und nach der an Manfred genauso. Es ist nicht schön, Menschen zu töten. Es ist die Hölle, mit dem Wissen, eine Mörderin zu sein, zu leben. Da hilft nur verdrängen. Doch das funktioniert nicht immer, und dann laufen meine Verbrechen wie ein Film vor mir ab. Ich fürchte mich vor diesen Momenten. Tausende Male überlegte ich, mich jemandem anzuvertrauen. Einem Psychiater, meiner Mutter, einer Freundin.

      Hatte ich überhaupt jemals eine Freundin, eine richtige Freundin? Eigentlich nicht. Warum nicht?

      Schon von Kindheit an hatte ich Angst davor, von anderen Menschen enttäuscht zu werden. Dafür gab es Gründe. Als ich mit meiner Familie nach Spanien kam, gehörten wir der untersten sozialen Schicht an. Viele Kinder weigerten sich, mit mir zu spielen, wenn sie erfuhren, dass ich aus Mexiko stammte. Meine Mutter tröstete mich dann immer. Esti, sei nicht traurig, diese Buben und Mädchen sind dumm. Du bist gescheit, du bist ein liebenswerter Mensch, und wenn sie das nicht kapieren, sind sie deiner nicht würdig. Du bist nicht minderwertig, weil du in einem anderen Land geboren wurdest, versteh das. Ich fühlte mich trotzdem wie ein Stück Dreck.

      Dann kam ich in die Schule, in eine öffentlich-katholische. Dort unterrichteten Nonnen. Obwohl ich fleißig lernte und gute Noten schrieb, mochten sie mich nicht. Ich war auch für sie bloß die arme Ausländerin. Meine Klassenkameraden orientierten sich an dem Verhalten meiner Lehrerinnen und hielten Distanz zu mir.

      Mit zwölf verbesserte sich meine Situation allmählich. Meine Eltern hatten mittlerweile genug Geld gespart, um eine große Eigentumswohnung in einer guten Lage von Barcelona zu kaufen und mich auf eine Privatschule zu schicken. Dort waren meine Mitschüler netter zu mir. Sie luden mich auf Partys ein. Ich fand in meiner Klasse Mädchen, mit denen ich ins Kino gehen oder durch die Stadt bummeln konnte. Wir tauschten auch kleine Geheimnisse miteinander aus, welche Burschen uns gefielen und so. Aber über das, was wirklich in mir vorging, redete ich nicht mit ihnen.

      Genausowenig wie mit meinem Vater oder meiner Mutter. Obwohl ich das inzwischen hätte tun können. Denn sie befanden sich nicht mehr im Dauer-Stress. Sie merkten schnell, wenn es mir nicht gut ging. Aber ich blockte alle ihre Versuche, in meine Seele vorzudringen, ab. Ich schaffte es einfach nicht, mit ihnen über meine Ängste und meine Traurigkeit zu sprechen. Nie.

      8

      Ich bin am Westbahnhof angekommen. Ich gehe in die riesige Halle, kaufe im erstbesten Geschäft eine Mozzarella-Tomaten-Ciabatta und eine Flasche stilles Mineralwasser. Ich esse und trinke schnell, nehme eine Vitamintablette für Schwangere. Am Infostand erkundige ich mich nach Zügen ins Ausland. Alle fahren von Meidling ab. Aber genau dorthin darf ich auf keinen Fall. Da kenne ich so viele Leute, da ist mein Eissalon, da ist meine Wohnung, da ist die Polizei.

      Wohin soll ich? Bevor ich darüber nachdenke, muss ich dringend mein Aussehen verändern. Ich gehe die wenigen Meter vom Westbahnhof zur inneren Mariahilferstraße, ich kaufe in einem Geschäft eine große, dunkle Brille. Beim Bezahlen zittern meine Hände, der Optiker schaut mich mit prüfendem Blick an. Warum schaffe ich es nicht, mich unauffällig zu benehmen?

      Mit den Sonnenbrillen, die beinahe mein halbes Gesicht bedecken, fühle ich mich ein wenig sicherer, ich wage mich sogar in ein Einkaufszentrum. Minirock und Stöckelschuhe sind keine geeignete Kleidung für eine Flucht. Ich probiere eine schwarze Cargo, Größe 34, an. Sie passt. Nein, ich nehme lieber eine 36. Denn ich werde bald zunehmen. Ich bin schwanger. Ich ziehe die viel zu weite Hose über, ich bitte die Verkäuferin, das Etikett rauszuschneiden. Jetzt brauche ich noch dringend bequeme Schuhe, ich entscheide mich für dunkle Wildleder-Sneakers. Ich lasse sie ebenfalls gleich an.

      Es ist fast 17 Uhr und ich bin immer noch in Wien. Esti, das geht gar nicht. Esti, du musst endlich eine Entscheidung treffen. Wieder setze ich mich in ein Taxi. Nach Erdberg, zum Busbahnhof.

      Der Fahrer hat das Radio an. Die Nachrichten beginnen. Erstmeldung: In einem Keller in Wien-Meidling