Meine zwei Leben. Martina Prewein

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Название Meine zwei Leben
Автор произведения Martina Prewein
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783990011195



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hinter der Theke eine Kochsendung an. Ich halte es nicht für notwendig, in meinem Geschäft zu bleiben, meine Serviererinnen werden sich um die wenigen Kunden, die heute noch kommen werden, alleine kümmern können. Ich bin froh über die unverhoffte Freizeit. Ich liebe diese Stunden, die ich ganz für mich haben kann. Sie sind ohnehin so selten.

      Ich verlasse mein Lokal durch den Hinterausgang und begegne einem Handwerker. Er trägt einen blauen Overall und Werkzeugkisten in beiden Händen. Ich kenne ihn nicht. Er wirkt steif, irgendwie geschockt, sein Mund ist offen. Ich grüße ihn. Er antwortet nicht. Komisch, denke ich, vergesse ihn aber gleich wieder. Ich will meinen freien Nachmittag genießen.

      Ich gehe schnell heim, meine Wohnung ist nur 300 Meter von meinem Eissalon entfernt. Ich sperre die Türe auf. Wunderbar, diese Ruhe dort. Ich lege mich aufs Sofa, lese ein paar Seiten in dem Liebesroman, den ich vor ein paar Tagen gekauft habe, nicke ein. Ich wache wieder auf, schaue auf meine Armbanduhr. Es ist schon 16 Uhr. Jetzt rasch unter die Dusche. Ich schminke mich ein wenig, ziehe ein hübsches Kleid an und beginne zu kochen. Putengeschnetzeltes mit Champignons in Rahmsauce und Reis dazu. Ich freue mich auf Roland, ich will ihn mit einem gemütlichen Abend zu zweit überraschen.

      Um 18 Uhr kommt er nachhause. Vor deinem Nachbargeschäft, beim Friseur Erkan, ist der Wahnsinn los, sagt er. Die Polizei hat alles abgeriegelt. Vielleicht wurde eingebrochen.

      Es ist der Moment, in dem ich spüre, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Nein, ich will davon nichts wissen. Ich gehe nicht auf die Straße, um mich zu erkundigen, was geschehen ist. Ich rufe niemanden an. Ich verdränge meine schlimmen Gedanken, meine Panik. Darin bin ich gut.

      Der Abend ist genau so, wie ich ihn geplant hatte. Roland und ich essen, wir reden dabei über die Hochzeit und unser Kind. Über unsere Zukunft, die wundervoll sein wird. Noch vor der Geburt des Babys wollen wir in ein Reihenhaus am Stadtrand ziehen. Unser Sohn soll im Grünen aufwachsen, nichts darf ihm jemals fehlen. Später haben Roland und ich Sex, innigen, zärtlichen Sex. Erst seit vergangenem Dezember sind wir ein Paar. Er ist so anders als die Männer, die ich vor ihm hatte. So anders als Holger und Manfred.

      Roland gibt mir die Geborgenheit, nach der ich lange gesucht habe. Er hat mir beigebracht, was Liebe wirklich bedeutet. Warum sind wir nicht schon früher zusammengekommen? So viele grauenhafte Dinge wären dann nicht geschehen. Ich schlafe an ihn geschmiegt und mit einer Hand auf meinem Bauch, auf unserem Kleinen, ein. Unser Glück ist perfekt. Es muss perfekt bleiben.

      Der Wecker läutet früh am Morgen. Roland arbeitet in einer Lebensmittelfirma. Ich stehe mit ihm auf. Er soll kräftig frühstücken. Beim Abschied küssen wir uns minutenlang. Bis heute Abend, mi amor.

      Ich mache mich für die Arbeit zurecht, ziehe ein gelbes Rundhals-T-Shirt, einen kurzen Sommerrock und Stöckelschuhe an. Um neun Uhr gehe ich zum Eissalon. An der Kreuzung steht ein grauer Kombi, seine Scheiben sind verdunkelt, zwei Männer sitzen darin. Der Wagen sieht nach Polizeiauto aus. Mir wird kalt. Ich bin knapp davor, umzukippen.

      Ich schleppe mich in mein Lokal, sehe im Hauseingang daneben zwei Uniformierte stehen, links und rechts vor der Kellertüre. Bitte, Gott, es kann nicht sein, lass es nicht zu. Nicht jetzt. Ich bekomme doch ein Baby!

      3

      Du musst dich zusammennehmen, sage ich mir, du darfst dir nichts anmerken lassen. Der Friseur Erkan sitzt an einem Tisch im Eissalon und trinkt eine Tasse Kaffee. Er hat sein Geschäft erst vor Kurzem eröffnet. Wie geht es dir, Esti? Ganz gut, und dir? Bei mir ist der totale Stress ausgebrochen. Ich habe einen Wasserrohrbruch, und nun werden im ganzen Keller die Rohre aufgestemmt.

      Ich höre seine Worte und zugleich auch nicht. Wie ein Roboter beginne ich, die Eisbestände zu prüfen. Ich erstelle die Listen für mein Personal, welche Sorten sie zubereiten sollten und bereite die Lieferungen für unsere Großkunden vor.

      Noch ein Nachbar, Niko, ich mag ihn sehr, kommt ins Geschäft, er zieht mich zur Seite und flüstert mir ins Ohr. Weißt du, was los ist? Nein. Sie haben unten einen toten Mann gefunden, und alle glauben, es ist Manfred.

      Ich will raus aus diesem Alptraum. So oft ist der Augenblick, in dem alles auffliegt, schon vor mir abgelaufen. Jetzt ist er wirklich da, jetzt ist alles aus. Oder doch nicht? Vielleicht wache ich noch auf. Jetzt geht nicht. Gott, lass mich erst mein Kind großziehen, und dann kannst du mich ins Gefängnis stecken.

      Meine Serviererin Anna schüttelt mich an der Schulter. Esti, was ist mit dir los? Ich muss dir etwas sagen, ich darf es dir nicht sagen, aber ich kann nicht anders. Es ist etwas Fürchterliches passiert, und die Leute behaupten, du warst es. Was ist los? Was soll ich getan haben? Im Keller liegt ein zerstückelter Mann. Es soll Manfred sein, es heißt, du hast ihn getötet.

      Es fällt mir schwer, auch nur noch einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Ich weiß nur: Es dauert nicht mehr lange, und sie werden auch Holger finden.

      Mein Überlebensinstinkt treibt mich aus dem Geschäft. Das Haus ist bereits von Polizisten belagert. Mehrere Funkstreifenwagen stehen davor. Die Beamten laufen hektisch auf und ab. Ich höre laute Stimmen aus dem Polizeifunk. Ein Mann in Zivil fordert über sein Handy noch mehr Einsatzkräfte an.

      Ich muss fliehen. Aber wohin? Und was ist mit Roland? Ich kann nicht mehr ohne ihn sein, doch ich darf nicht mein Drama zu seinem machen.

      Esti, atme durch, versuche, vernünftig zu handeln. Es gelingt mir, mich ein wenig zu sammeln und wieder klare Gedanken zu fassen. Esti, du wirst auf deiner Flucht Geld brauchen, viel Geld.

      Ich gehe zu meiner Bank, gleich ums Eck. Ich stelle mich am Ende einer langen Menschenschlange an. Wertvolle Zeit verstreicht. Bitte, lieber Gott, schneller. Endlich bin ich an der Reihe. Ich ersuche einen Angestellten, mich in den Raum mit meinem Schließfach zu bringen. Ich habe das Gefühl, dass der Kundenbetreuer meine Anspannung bemerkt. Mein Familienschmuck liegt in dem Safe, ich hole ihn heraus, packe ihn in meine Handtasche. Nein, bitte nicht. Ich merke, dass ich mein Geld und mein Sparbuch im Eissalon vergessen habe. Ich bin so eine Idiotin. Was soll ich nur tun?

      4

      Ich rufe meine Putzfrau an, Daniela. Sie ist so alt wie ich, eine gebürtige Serbin. Ich schätze sie sehr, weil sie klug, ehrlich und eine hervorragende Mutter ist. Seit sechs Jahren arbeitet sie für mich als Reinigungskraft und Küchenhilfe, noch nie hat sie mich enttäuscht. Jetzt ist sie bei mir daheim, räumt auf und bügelt. Alles unnötig geworden. Ich werde nie wieder in meiner Wohnung sein. Mein wunderschönes Leben, das gerade erst begonnen hat, ist vorbei. Ich weiß, die Hölle kommt auf mich zu. Ich will die Menschen, die ich liebe, davor bewahren, mit mir unterzugehen, mein Baby, Roland, meine Eltern, meinen Bruder. Denn sie tragen keine Schuld an meinen Verbrechen.

      Ich habe Daniela am Handy. Sie versteht kaum Deutsch, aber es gelingt mir, ihr zu erklären, dass ich sie auf der Philadelphia-Brücke treffen will. Sie fragt mich, wo ich dort genau wäre. Ich stehe ungefähr in der Mitte der Brücke. Junkies und Bettler sitzen am Gehweg neben mir, überall sind Menschen, die hektisch ihrer Wege gehen. Hoffentlich findet mich Daniela in dem Trubel.

      Ja, da, ich sehe sie kommen. Ich laufe ihr entgegen. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange. Daniela, ich brauche dringend meine schwarze Geldtasche und mein Sparbuch aus dem Safe im Geschäft. Ich drücke ihr die Schlüssel dazu in die Hände. Sie geht sofort los. Ich warte, warte, warte. Ich werde nervöser und nervöser. Alles dauert so lange.

      Ja, klar: Sicherlich wird Daniela bereits verhört und kommt mit Beamten in Zivil zurück. Ich rufe sie nochmal an, obwohl ich weiß, dass ich mich damit gefährde. Sie hebt ab. Ich stehe schon auf der Brücke, behauptet sie. Ich sehe sie nicht. Doch, sie ist wirklich hier. Sie überreicht mir das Geld und mein Sparbuch. Danke. Ich gebe ihr fünfzig Euro für ihre Arbeit, umarme und küsse sie. Wir weinen beide. Sie stellt mir keine Fragen. Wir haben einander immer ohne Worte verstanden.

      Daniela hatte immer ein schlechtes Verhältnis zu Holger und Manfred. Nie sprachen die beiden ihren Namen aus. Sie sagten nur: Dragica, putzen, Dragica. Sie schrien Daniela oft an und machten ihre Arbeit schlecht. Sie zeigten ihr Stellen, die angeblich schmutzig, aber in Wahrheit sauber waren. Daniela war auch manchmal dabei, wenn mich Holger