Название | Meine zwei Leben |
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Автор произведения | Martina Prewein |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990011195 |
Schnell machten wir das Lager im Nachbarhaus zu einer netten Bleibe. Wir strichen die Wände neu, stellten unsere alten Möbel aus Berlin hinein. Innerhalb kürzester Zeit wurde dieses Zimmer, das nur eine Rumpelkammer gewesen war, zu einer kuscheligen kleinen Wohnung.
Ich erkundete die Gegend und war begeistert. Die Lage des Geschäfts schien mir perfekt. In der Nähe eine U-Bahn-Station, ein paar Gassen weiter eine Schule, rundum Büros. Esti, Holger und du, ihr habt die richtige Entscheidung getroffen, der Eissalon wird gut laufen. Und ich hatte auch schon eine Idee, wie wir das Geschäft im Winter nutzen könnten. Unsere Kunden sollten dann dort Kaffee und Tee trinken und selbstgebackene Kekse kaufen.
Unsere Zukunft in Wien wird wunderbar, davon war ich überzeugt.
Kurz nach der Eröffnung des Geschäfts holte mich die Realität ein. Nein, Holger, unsere Abmachung ist nicht gewesen, dass ich schufte, während du faul auf der Couch liegst. Wir hatten anderes besprochen. Dass wir in Österreich endlich Kinder kriegen würden, zum Beispiel. Später. Wie oft habe ich dieses Wort auch von ihm gehört. Also hoffte ich auch diesmal wieder auf das Später. Während die Gegenwart laufend unerfreulicher wurde. Weil sich Holger zunehmend zu einem Spinner entwickelte.
Immer mehr fing er an, sich für Waffen zu interessieren. Immer mehr verschrieb er sich den Hare Krishnas. Immer mehr machte es ihm Spaß, mich zu demütigen. Je geduldiger ich mich seinen Anweisungen fügte, desto fordernder wurden seine Befehle. Je kraftloser ich mich fühlte, desto massiver übte er Macht über mich aus. Esti, mach dies, Esti, mach das. Esti, du bist nicht fleißig genug. Esti, es ist deine Schuld, wenn der Eissalon nicht läuft. Nichts konnte ich ihm recht machen, obwohl ich so viel für ihn tat, Miniröcke, Push-up-BHs und Stöckelschuhe anzog, um für ihn sexy zu sein. Ihn zu Schießübungen begleitete, sogar seine Pistolen, die ich hasste, putzte. Mein Ich völlig aufgab. Das Schlimmste überhaupt: Er zwang mich schließlich sogar dazu, meinen Glauben zu verleugnen und den Hare Krishnas beizutreten. Einmal pro Woche musste ich fortan mit ihm Veranstaltungen seiner Sekte besuchen und mich ihren Gesetzen unterwerfen. Nein, Esti, Sex ist nicht wichtig, sagte er, es gibt andere Dinge, die viel bedeutender sind. Aber wie sollte ich ohne Sex schwanger werden?
Heimlich ging ich weiter in die Kirche, bat Gott um Verzeihung für meine Irrwege, flehte ihn um Verständnis an, fragte ihn, wie ich mich aus der Sackgasse, in die ich mich selbst hineinmanövriert hatte, befreien sollte. Ich bekam keine Antworten.
4
2007 begann ich eine Affäre mit Manfred. Ich hatte ihn schon kurz nach der Eröffnung unseres Eissalons kennengelernt. Manfred, etwa so alt wie Holger, ein Eismaschinenverkäufer. Eloquent, charmant, gut aussehend, ein typischer Vertreter halt. Immer wieder kam er aus beruflichen Gründen in unser Lokal, bei jedem seiner Besuche sah er mir tief in die Augen und sagte, wie schön ich sei. Zwei Jahre lang wehrte ich mich dagegen, mit ihm auszugehen, obwohl er mir so gut gefiel. Aber irgendwann konnte ich das nicht mehr. Wir wurden ein Liebespaar.
Er gab mir die Kraft, mich von Holger scheiden zu lassen. Der Fehler war nur, dass mein Ex und ich auch nach unserer Trennung, zumindest teilweise, zusammen wohnen blieben. Und Holger nicht damit aufhören konnte, mich zu kritisieren.
Wie an diesem Tag im April 2008. Ich kam nachhause, ich war müde von der Arbeit im Eissalon. Holger saß am Computer, er beschäftigte sich mit einem Ego-Shooter-Spiel, und während er in seiner Parallelwelt dutzende Feinde abschoss, wurde er laufend aggressiver gegen mich. Esti, wie konnte ich nur jemals so dumm sein, dich zu heiraten. Esti, du bist das Letzte. Esti, du wirst ohne mich untergehen. Wieder hörte ich von ihm diese Sätze, die mich innerlich so wütend machten. Wieder einmal war ich unfähig, ihm auch nur ein Wort zu entgegnen. Wieder einmal stellte ich mir vor, wie es wäre, Holger zu töten.
Ich hatte das schon oft getan. Weil mir diese Fantasien halfen, die Realität besser zu ertragen und meinen unausgesprochenen Hass zu kompensieren. Holger zu beschimpfen, ihn anzuschreien, ihm klarzumachen, was ich von ihm hielt, brachte ich nicht fertig. Da ließ ich lieber zu, dass dieser Regisseur, der alles für mich regelte, in meinem Kopf Platz nahm. Wie damals in Spanien, nachdem mein erster Freund mit mir Schluss gemacht hatte.
Ich wollte Holger nicht umbringen. Ich kämpfte gegen meine Vernichtungsgedanken an. Es gelang mir bis zu dem Moment, in dem Holger brüllte: Esti, du bist Abschaum, du wirst nie wieder einen Mann finden.
Da machte es klick, irgendein Schalter in meinem Gehirn legte sich um. Zwei Gewehre und zwei Pistolen lagen, wie so oft, ganz offen auf unserem Tisch. Ich nahm eine Beretta, stellte mich damit hinter ihn und drückte ab. Drei Mal.
5
Ich denke an die Szenen von damals, während ich in Saschas Auto sitze und immer panischer werde. Ich überlege, den Wagen zu starten und Gas zu geben. Unsinn. Ich schaffe es nicht, auf einer Autobahn zu fahren, seit ich vor einem Jahr einen Unfall auf der Wiener Südosttangente hatte. Ich war damals auf dem Weg zu einem Kirtag, mit vollen Eiskanistern im Kofferraum, mein 14-jähriger Ferialpraktikant, der Sohn eines Nachbarn, saß am Beifahrersitz. Meine Bremsen versagten, vielleicht betätigte ich sie auch zu spät. Wir überstanden den Unfall beide unverletzt. Trotzdem, er ließ einen Schock in mir zurück. Beinahe wäre ein Kind wegen meiner Unachtsamkeit umgekommen.
Ich werde nie wieder auf einer Schnellstraße fahren, das hatte ich mir damals geschworen. Weil ich keine gute Autofahrerin bin und andere Menschen nur gefährde, wenn ich mit mehr als fünfzig Stundenkilometern unterwegs sein muss.
Ich beschließe, auf Sascha zu warten. Er wird zurückkommen. Oder? Ja, nein, ja, nein. Gott, danke, er ist da. Er hat nur meinen mexikanischen Pass dabei, er behauptet, er hätte den spanischen nirgendwo gesehen. Ich weiß, es hat keinen Sinn, ihn nochmals in meine Wohnung zu schicken.
Sascha, bitte bring mich zum Flughafen. Nein, geht nicht. Ich verstehe. Aber er erweist mir einen letzten Dienst, er fährt zu einem Handy-Shop, kauft ein Wertkarten-Telefon für mich. Er übergibt es mir, als ich schon ein Taxi angehalten habe. Esti, alles Gute. Tränen laufen über meine Wangen. Ich setze meine Sonnenbrille auf. Zum Airport, bitte. Der Taxichauffeur will mit mir plaudern. Woher kommen Sie? Wohin fliegen Sie? Gefällt Ihnen Wien?
Fragen, Fragen, Fragen. Warum hält der Typ nicht einfach den Mund? Ich kann keine Antworten geben, ich weine. Doch das soll er nicht merken. Ich verstärke meinen Akzent, tue, als würde ich ihn nicht verstehen. Bitte, Gott, lass uns endlich an unserem Ziel ankommen. Ich weiß, dass ich so schnell wie möglich das Land verlassen muss, aber ich kann nicht gehen, ohne vorher mit Roland geredet zu haben. Was wird er über mich denken?
Endlich komme ich am Flughafen an, ich bitte den Taxifahrer um ein Stück Papier. Ich schreibe darauf, dass ich alles, was ich besitze, Roland schenke, mein Geschäft, meine Möbel, meine Kleider, meine Bücher, und ich kritzle auch noch eine persönliche Nachricht für ihn auf den Zettel: Bitte, komm nach Schwechat, zum Flughafen. Ruf mich unter dieser Telefonnummer an, wenn du da bist. Es ist die Nummer meines Pre-Paid-Handys. Ich zahle die Taxi-Rechnung und gebe dem Chauffeur weitere zwanzig Euro, damit er den Brief Roland an seinen Arbeitsplatz bringt.
In der Abflughalle schaue ich auf die Tafeln, ich suche nach Flügen nach Spanien, nach Mexiko, nach irgendwohin. Ich kann die Anzeigen nicht lesen, die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Ich gehe zum Last-Minute-Schalter, frage den Mann hinter dem Pult nach abgehenden Flügen. Ihr Ziel? Ich bin blockiert, stottere. Egal, wohin geht die nächste Maschine? Nach Paris. Okay. Ich kaufe ein Ticket. Was, wenn es schon einen EU-weiten Haftbefehl gegen mich gibt? Ich muss mich an die Wand lehnen, um nicht umzufallen. Ich wirke auf die Leute um mich sicherlich wie eine Geistesgestörte. Niemand darf die Rettung rufen, das wäre das Ende für mich.
Wie soll ich es schaffen, mich endlich normal zu benehmen? Was soll ich tun? Kann mir das bitte jemand sagen? Ich bin nicht auf eine solche Situation vorbereitet, ich bin zu dumm, um sie zu bewältigen. Nie hatte ich Pläne für den Ernstfall entworfen. Und jetzt ist der Ernstfall da. Von Paris geht eine Maschine nach Mexiko weiter. Ich buche einen Platz darauf.
6
Mein neues Telefon läutet. Roland