Название | Meine zwei Leben |
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Автор произведения | Martina Prewein |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990011195 |
Der Drang, mich zu unterwerfen, entwickelte sich schon sehr früh in mir. Obwohl es dafür keinen wirklichen Grund gab. Denn meine Kindheit war zwar schwierig, aber nicht schlecht. Ich hatte immer genug zu essen, einen sauberen Schlafplatz und eine Familie, die mich liebte und dafür sorgte, dass ich eine gute Ausbildung bekam. Trotz der vielen Probleme, die wir hatten. Zuerst in Mexiko und später in Spanien.
In unserer neuen Heimat galten wir als Zuwanderer und damit als minderwertig. Obwohl mein Vater Psychologie studiert und meine Mutter eine Dolmetscherausbildung hatte. Besonders die ersten Jahre in Barcelona sind für uns hart ge wesen. Vielleicht entwickelte sich mein Vater deshalb immer mehr zu einem Menschen, der kaum Widerspruch duldete. Er gab die Regeln daheim vor. Brav sein, fleißig sein. Bloß nicht auffallen. Gesetze, die für meinen Bruder und mich mitunter nicht einhaltbar gewesen sind. Aber, und das kapierte ich rasch, es war notwendig, dass es sie gab und wir sie befolgten. Denn sonst wären wir daheim im Chaos versunken.
Lange wohnten wir in einem Fünfzig-Quadratmeter-Appartement. Zu sechst. Mein Vater, meine Mutter, ihre Schwester, meine Oma und wir beiden Kinder. Mein Vater war der Hauptverdiener, doch um uns über Wasser zu halten, musste auch meine Mutter arbeiten. Sie tippte für Studenten Manuskripte ab und war mit dieser Zusatzanforderung natürlich ziemlich überfordert. Weil sie ja auch noch so viele andere Aufgaben zu bewältigen hatte. Meinen Bruder und mich zu versorgen, ihre Mutter, die körperlich laufend schwächer wurde, und meine angeblich schizophrene Tante.
Mein Bruder und ich glaubten nie an ihre Krankheit. Lange hatte sie ein ganz normales Leben geführt, damals in Mexiko. Sie war einmal eine angesehene Sportlehrerin gewesen, bildhübsch, lustig und hochintelligent. Bis ihr Vater starb. Sie verkraftete seinen Tod nicht, ging danach nicht mehr außer Haus, wusch sich nicht mehr, hörte auf zu sprechen und wurde zum Pflegefall.
Je älter ich wurde, desto mehr begriff ich, dass meine Eltern unter einem enormen Druck standen, dass an jedem Morgen ein neuer Kampf für sie begann und sie daher kaum Zeit für lange Gespräche mit mir haben konnten. Ich gewöhnte mich daran, über meine Probleme kaum, oder eigentlich gar nicht, zu sprechen. Das war ein Fehler.
5
Ich hätte mit meiner Familie reden müssen, viel mehr reden. Ich hätte ihnen sagen sollen, dass ich wegen der fürchterlichen Dinge, die in Mexiko geschehen waren, an Alpträumen litt. Die Geschichte mit den Puppen war ja nicht das einzige Drama, das ich dort erlebt hatte.
Drei Mal versuchten Banditen, mich auf offener Straße zu entführen. Weiße Mädchen galten in meiner alten Heimat als wertvoll, sie ließen sich für hohe Summen an illegale Adoptionsagenturen verkaufen. Aber mein Vater schaffte es immer, die Kriminellen zu vertreiben, bevor sie mich in ein Auto zerren und verschleppen konnten. Und dann geschah auch noch diese Sache in dem Bus. Meine Mutter und ich saßen darin, nebeneinander, auf einer Bank. Plötzlich gab es einen unvorhergesehenen Stopp. Vermummte mit Waffen stürmten den Passagierraum, und sie drohten damit, die Fahrgäste zu erschießen, wenn sie ihnen nicht ihr Geld aushändigen würden.
Ich habe mich bei allen diesen Überfällen geduckt und geweint. Still geweint. Ein Verhaltensmuster, das in mir blieb. Immer wenn jemand auf mich losging, wurde ich unfähig, Widerstand zu leisten. Spürten die anderen Menschen meine Hilflosigkeit? Stand schon von klein an „mach mich fertig“ auf meiner Stirn geschrieben? Warum wäre ich wohl sonst zu einem einfachen Opfer für Vergewaltiger geworden?
Das erste Mal geschah es, als ich 16 war. Ich lernte einen jungen Mann in einer Disco kennen, er schien mir vertrauenswürdig, und als er mich auf einen Drink in seine Wohnung bat, ahnte ich nichts Böses. Bei ihm daheim fiel er über mich her.
Ich hatte daraus nichts gelernt. Ein paar Monate später passierte mir das Gleiche nochmal, wieder mit einer Bekanntschaft aus einem Lokal. Der Typ war viel älter als ich, schon um die 30. Ich ließ mich ohne Bedenken von ihm zu einer Privatparty einladen. Während des Fests ging er mit mir in ein leeres Zimmer und fesselte mich dort mit Handschellen.
Nein, ich habe mich gegen beide nicht gewehrt. Nein, ich habe nicht um Hilfe geschrien, während sie sich an mir vergingen. Nein, ich habe sie nicht bei der Polizei angezeigt. Nein, ich habe niemandem von ihren Verbrechen erzählt.
Ja, ich habe Holger und Manfred geliebt. Nur, sie nutzten diese Liebe aus und machten mich wieder zu dem Mädchen, das sich duckte und still weinte. Genauso, wie die Uniformierten, die meine Puppen töteten. Genauso, wie die Männer, die mich entführen wollten. Genauso wie die Vermummten aus dem Bus. Genauso wie meine Vergewaltiger.
Ich hätte Holger und Manfred rechtzeitig verlassen müssen. Doch ich konnte nicht. Ich schaffte das nicht. Aber ich schaffte es, sie zu töten.
DIE FLUCHT
Ich übersah alle Warnsignale und gab mich meinen Träumen hin.
1
Esti, denk nicht an früher, denk an das, was auf dich zukommt. Ich sollte mein Sparbuch auflösen, so schnell wie möglich. 10.000 Euro sind darauf gebucht, ich brauche das Geld dringend. Ich laufe zum Postamt. Die Halle ist voll mit wartenden Menschen. Die Angestellten bewegen sich wie in Zeitlupe.
Endlich bin ich an der Reihe. Bitte, ich möchte alle meine Ersparnisse ausbezahlt bekommen. Die Frau am Schalter schaut mich mit einem seltsamen Blick an, sie sagt, sie wisse nicht, ob genug Bares in der Kassa wäre. Warum behauptet sie das? Hat die Polizei bereits die Banken alarmiert? Umständlich kramt sie in ihren Laden herum. Endlich gibt sie mir die Scheine. Zehn Bündel zu jeweils zehn Hundertern. Ich stopfe sie in ein Seitenfach meiner Handtasche. Ich bebe vor Nervosität, ich bilde mir ein, dass mich alle Leute in dem Raum anstarren.
Nein, das darf nicht wahr sein. Ich habe keinen Pass dabei. Weder meinen mexikanischen, noch meinen spanischen. Sie liegen daheim, bei meinen anderen Dokumenten. Warum habe ich Daniela nicht gesagt, dass sie mir meine Papiere mitbringen soll? Wie konnte ich nur darauf vergessen? Jetzt ist sie nicht mehr in meiner Wohnung, und ich selbst traue mich nicht mehr dorthin. Da sind sicherlich auch schon Polizisten.
Danke, Gott. Ich sehe in einem Auto Sascha, einen meiner Stammkunden. Ich deute ihm, anzuhalten. Die Polizei sucht mich wegen eines Blödsinns, den Manfred gemacht hat, erkläre ich ihm schnell, ich brauche dringend meine Pässe, sie sind in einem Kästchen bei mir zuhause. Bitte, hol sie für mich. Er lässt mich in seinen Wagen einsteigen, fährt in die Nähe meiner Wohnung und parkt in einer Seitengasse. Wir sehen einander stumm an. Ahnt er die Wahrheit?
Sascha zieht den Autoschlüssel nicht ab. Wenn ich in 15 Minuten nicht da bin, sagt er, dann fahr los. Ich spüre, das Ganze ist verrückt. Ich bräuchte jemanden, der mir sagt, was ich tun soll. Die Zeit läuft, und die Blockade in meinem Kopf wird immer größer. Wozu brauche ich meine Pässe, wenn die Fahnder sowieso schon meinen Namen wissen? Kann ich Sascha trauen?
Wir mochten einander, vom ersten Moment an. Seit er vor sechs Jahren zu mir ins Geschäft kam, einen Eisbecher bestellte und wir, während er ihn langsam auslöffelte, zu plaudern anfingen. Wir redeten damals über nichts Besonderes, genauso wenig wie bei seinen vielen weiteren Besuchen im Lokal. Aber irgendwie fühlte ich mich immer wohl in seiner Nähe.
Sascha ist jünger als ich, Mitte zwanzig, 1,80 groß, sehr schlank, Kopf komplett rasiert. Er hat blaue Augen, markante Gesichtszüge, einen scharfen Verstand und einen speziellen Humor. Ich liebte es immer, mich mit ihm zu unterhalten. Ich bin mir sicher, dass er Tabletten nimmt, nicht ständig und nicht im Übermaß, aber seine Sucht ist ihm anzusehen. Sensible Menschen wie er geraten oft in diese Falle.
Als Manfred und ich vor vier Jahren, ich war noch mit Holger verheiratet, eine geheime Affäre anfingen, sah er uns