Geist & Leben 4/2018. Echter

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Название Geist & Leben 4/2018
Автор произведения Echter
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063764



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mit den anderen Geschöpfen und vor allem den Tiefen nicht geleugnet wird: Im Bild Gottes ist er geschaffen, Gott ähnlich soll er sein. (Gen 1,26 f.) Im gleichen Atemzug wird dieser Mensch auch als geschlechtliches Wesen bestimmt: „Männlich und weiblich schuf er sie“, wie nun die revidierte Einheitsübersetzung korrekter wiedergibt und das „als Mann und Frau“ ersetzte. Seit alters her wird diese Auszeichnung als Aufgabe und Bestimmung gelesen. Es ist eine Aufgabe, ein Bild Gottes und ihm ähnlich zu werden: „Seid heilig, denn ich, der Herr, euer Gott, bin heilig“, klingt es durch die Tora. (Lev 19,2) „Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“, beschließt Jesus die exemplarische Auslegung der Gebote in der Bergpredigt. (Mt 5,48) Auch die Gestaltung der Geschlechtlichkeit und die Formung der Sexualität gehört zu dieser Bestimmung: Keine Personwerdung ohne Auseinandersetzung mit und Humanisierung der eigenen Sexualität, keine Beziehungsfähigkeit ohne ein Einüben von Nähe und Distanz, Berührung und Körper- lichkeit.1 Sowohl ein Blick in die Bibel wie auch in die Geschichte der christlichen Spiritualität zeigt, wie Erotik und Sexualität, Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit im religiösen Vollzug immer eine grosse Rolle gespielt haben. Ohne in diesem Beitrag auf die aktuelle Genderdebatte eingehen zu können, werfen wir in diesen Zeilen einen Blick auf den Menschen als „être sexué“.

       Die Bejahung des Menschen und seiner Sexualität

      Die grundlegende Bejahung der Leiblichkeit des Menschen ist im Neuen Testament eine Selbstverständlichkeit, wenn der christliche Glaube von der Inkarnation, der „Fleischwerdung Gottes“ in Jesus Christus spricht. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt“, eröffnet der Prolog im Johannesevangelium programmatisch (Joh 1,14). In Jesus von Nazareth findet das Abbild-Gottes-Sein seinen vollendeten Ausdruck. Obwohl sich seine Gottebenbildlichkeit in erster Linie auf sein Handeln und seine Lebensweise bezieht, ist dabei seine Leiblichkeit und Sexualität eingeschlossen. Gott offenbart sich in ihm nicht als androgynes Ganzheitssymbol, sondern konkret als Mann. Nicht dass dadurch die Frau abgewertet wäre und Jesu „weibliche“ Seite geleugnet würde. Doch in der Partikularität wird die Begrenzung anerkannt, die zu jedem Geschöpf gehört. In der Begrenztheit des Jesus aus Nazareth wird für jeden Mann und jede Frau je exemplarisch sichtbar, wie die eigene Sexualität zu bejahen ist; in ihrer Komplexität und als Ort der Erkenntnis kann ergänzt werden. In diesem Zusammenhang kommt der Beschneidung Jesu (Lk 2,21) eine besondere Bedeutung zu. Am männlichen Glied wird die Sexualkraft symbolisch beschnitten und begrenzt, aber auch in eine Beziehungsstruktur mit Gott eingeordnet. Die Beschneidung des Mannes ist Zeichen für den Bund Gottes mit seinem ganzen Volk (Gen 17). Nach Paulus müssen geistlich alle Herzen beschnitten werden (Röm 2,29). Die Herrlichkeit Gottes aber scheint auf dem Angesicht Christi auf (2 Kor 4,6). Das Angesicht ist nicht nur durch die Berührung und den Tastsinn eine Öffnung im Menschen, sondern durch das Zusammenspiel aller Sinne, des Schmeckens, Riechens, Sehens, Hörens und des Berührens. Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas bezeichnet das Antlitz treffend als den „nacktesten Teil“ des Menschen. Jesus aus Nazareth wendet sich als Mann mit allen Sinnen der Welt zu, hört das Leid der Menschen, teilt ihre Konflikte, sieht die Kranken und weiß die Freuden des Lebens zu genießen. Im Gegensatz zu Johannes dem Täufer in der Wüste ist er kein Asket. „Fresser und Säufer“ wird er genannt. (Mt 11,16–19) Er hat keine Berührungsängste gegenüber Frauen, selbst wenn es Prostituierte sind, was den Evangelisten erwähnenswert erscheint. (Lk 7,36–49; Mk 2,16 ff.) Der Kirchenvater Tertullian bringt den Inkarnationsglauben denn auch auf den Punkt, wenn er schreibt: „Das Fleisch ist der Angelpunkt des Heils.“2

      Die christliche Theologie bekennt diesen Jesus als den Messias, in allem den Menschen gleich, außer der Sünde3, also auch gleich in Leiblichkeit und Sexualität, in der erotisch-sexuellen Strebekraft, die das Menschsein prägt. Die mittelalterliche Kunst hat dies im Bild der Maria lactans, die ihre Brust zur Schau stellend Jesus nährt, und im nackten Jesuskind visualisiert. Die Renaissancekunst und frühe Barockmalerei hat aus dieser religiösen Überzeugung Jesus Christus nackt, sehr körperlich und erotisch dargestellt. Bei Michelangelo, Caravaggio, Rubens und anderen ist dies bis heute zu betrachten, auch wenn in der Moderne diese Nacktheit als anstößig empfunden und zurückgedrängt wurde. Die Mühe mit der Beschneidung Jesu ist ebenso ein modernes Phänomen, wurde diese in der röm.- kath. Kirche doch bis ins 20. Jh. hinein als Hochfest am 1. Januar gefeiert und auf zahlreichen Altarbildern dargestellt.4 Die Vorhaut Jesu wurde in einzelnen Fällen sogar als eine Art „Reliquie“ verehrt.

      In diesem Zusammenhang muss auch auf die Wundmale des gekreuzigten Jesus hingewiesen werden. Sie wurden in der mittelalterlichen Passionsfrömmigkeit vom Körper losgelöst dargestellt, wobei ihre Form von einer Vulva kaum zu unterscheiden ist. Solche Darstellungen dienten der Erbauung, zierten Gebetsbücher und waren verehrungswürdige Bilder.5 Sie schufen intime, geistige Berührung und Vereinigung mit dem Gekreuzigten und verhalfen zur Heilung des eigenen Leidens gemäß dem homöopathischen Grundsatz, dass Ähnliches mit Ähnlichem geheilt wird, wie dies bereits der Prophet Jesaja formuliert hatte: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,5) Gesundung zu neuem Leben entsteht bekanntlich nur in der ganzheitlichen Bejahung der Offenheit, der Nähe und der Verletzlichkeit, wie sie der Wunde aber auch dem weiblichen Geschlechtsorgan eigen ist. Besonders in der Brautmystik haben sich dann aber Spiritualität und Sexualität verbunden, wie wir noch sehen werden. So sind in der Frömmigkeit wie in der Kunst erotische Darstellungen und Symbole immer auch Mittel, sich mit Christus und mit Gott in Beziehung zu setzen. Rosen und Bänder, Schmuck und Gewänder drücken die erotische wie die geistliche Sehnsucht und Liebe aus. Die Gebete und Texte von Brautmystikerinnen sind denn auch von Minnegesang und Liebesliedern in Form und Inhalt kaum zu unterscheiden. Spiritualität ergreift den ganzen Menschen existentiell und drückt sich leiblichkeitsaffin aus, so dass erotisch-sexuell Beziehungsintimität und die geistig-geistliche Beziehung ineinandergreifen.

      Auch in der offiziellen Liturgie der Kirche und in der Spendung der Sakramente spielt das Sinnlich-Erotische eine große Rolle: Altarbilder und Musik, Farben und Gewänder, Weihrauch und symbolische Berührungen. Das barocke Messgewand des Priesters (die sogenannte „Bassgeige“), ist vom Schnitt her jenem Rock nachempfunden, den der Mann jener Zeit beim Tanzen eines Menuetts trug. Bis heute gehört der Priesterkuss von Altar, Evangelienbuch und Stola zum festen Ritual der römischen Messe. Dass sich diese sinnliche Tradition durch alle Jahrhunderte hindurch gegenüber asketischen Bewegungen als Wesen des christlichen Kultes halten konnte, verdankt sich der Inkarnationstheologie. Dies wird im Vergleich mit jüdischer oder muslimischer Liturgie besonders deutlich.

       Heilung erkrankter Sexualität in der Bibel

      Personwerdung, zu der sexuelles und spirituelles Reifen gehört, ist ein sensibler Prozess. Geistliches Wachstum und Integration der Sexualität beeinflussen sich nicht nur im Positiven gegenseitig, sondern können sich auch gegenseitig blockieren, so dass es zu ernsthaften Erkrankungen kommt. Religion, Glaube und Spiritualität können sich so ausschließlich am Geistigen und an Idealen orientieren und mit der Ablehnung von Leiblichkeit und Sexualität einhergehen, dass sexuelle Dysfunktionen die Folge sind. Im Kleid des frommen Suchens ist diese schädliche Spiritualitätsform nicht immer leicht zu erkennen. Auch eine starre, internalisierte Norm- und Regelfrömmigkeit kann zu Sklerotisierung und Zwanghaftigkeit führen. Religiös-archaische Vorstellungen von Heiligkeit, verbunden mit Sehnsucht nach unbefleckter Reinheit, können eine lebendige Entwicklung verhindern. Oft steckt dahinter eine traumatische Erfahrung, die durch religiöses Verhalten in Schach gehalten wird. Sigmund Freud hat die neurotische Funktion von Religion bekanntlich meisterhaft durchschaut, in seiner Religionskritik dann allerdings das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Auch die Bibel thematisiert solche Formen der Erkrankung, zeigt aber Wege der Heilung auf, die gerade durch eine vertiefte Gottesbeziehung und ein spirituelles Leben gelingen können.

      Da ist einerseits das Buch Tobit, das nach katholischer Auffassung zum Alten Testament gehört. Es ist als Heilungsnovelle zu lesen: Tobias wird von seinem alten kranken Vater Tobit, der in erstarrter Gesetzesfrömmigkeit erblindet ist, mit dem Auftrag fortgeschickt, ein Erbe auszulösen. Unterwegs begegnet Tobias einem Engel mit Namen Raphael, was so viel bedeutet wie „Gott heilt“. Dieser führt ihn zur jungen Sara, die an völlig verstörter Sexualität leidet: Schon sieben Mal hat ihr Vater, ein Bruder Tobits, sie einem