Mosers Ende. Urs W. Käser

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Название Mosers Ende
Автор произведения Urs W. Käser
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967525847



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sein Bedauern und Mitgefühl zum Verlust ihres Ehemanns aus. Er will ihr ein Beruhigungsmittel geben, damit sie besser schlafen könne, aber sie lehnt dies ab. Claudia bietet ihr an, sie dürfe gerne ein anderes, freies Zimmer zum Schlafen benutzen.

      »Nein danke«, sagt sie, »ich gehe lieber zu meiner Tochter Elena ins Zimmer. Es wird uns gut tun, heute Nacht nicht allein zu sein.« Da kommt Daniel Dietrich zurück.

      »Ich habe soeben mit Peter Kehrli telefoniert. Er war total fassungslos, ist aber derselben Meinung wie Fritz Tschanz. Es genügt, wenn er morgen früh hierherkommt, sofern wir das Zimmer verschlossen halten.«

      »Danke, Daniel«, sagt Linda Moser.

      »Kann ich noch irgendetwas für dich tun, Linda?«, fragt Claudia. Linda schüttelt den Kopf, verabschiedet sich mit einem Händedruck von allen und steigt die Treppe empor in Richtung Elenas Zimmer. Nachdenklich steige auch ich wieder zu meinem Zimmer hoch und lege mich ins Bett, kann aber erst nach zwei Uhr morgens einschlafen.

      

       Donnerstag, 19. Juli 2012

      Bruno Brawand war gar nicht zufrieden. Leise fluchte er vor sich hin, während er seinen Laptop startete. Verdammt, die miese Geschäftslage wäre schon schlimm genug. Aber dann noch dieser Brief, der setzt dem Fass den Deckel auf… Bruno, seit drei Jahren Geschäftsführer der Moser Bau AG, sass nachmittags um fünf im Garten des Hotels Rosenlaui unter einem Ahornbaum, starrte auf den Bildschirm und machte sich Sorgen. Sein grosses Glas Bier hatte er, etwas allzu schnell, leergetrunken und soeben bei Daniel Dietrich ein zweites bestellt. Er öffnete jetzt sein Buchhaltungsprogramm und studierte intensiv die Lage der zahlreichen Haben- und Soll-Konten. Aber, wie er auch die Ergebnisse in seinem Kopf drehte und wendete, es wollte einfach nicht aufgehen. Die hohen Löhne und die Schuldzinsen frassen einen zu grossen Teil des Ertrages auf, und es war absehbar, dass das Geschäftsergebnis auch heuer, wie schon letztes und vorletztes Jahr, im Minus ausfiele. Und dies trotz seiner beileibe nicht geringen Anstrengungen, die Auftragslage zu verbessern, insbesondere dem kleinen Deal mit seinem Schwager Samuel… Wenn es nur mit der Familienvilla endlich vorwärts ginge! Und dann kam noch dieser vermaledeite Brief…

      Bruno hatte seine Augen geschlossen und war ins Grübeln geraten. Bin ich denn unfähig, ein Baugeschäft zu führen? Früher, unter dem alten Samuel Moser, habe ich doch als Bauführer eine gute Figur abgegeben. Sonst hätte mich mein Schwiegervater doch nicht zum Nachfolger ernannt! Na ja, zugegeben, ich musste noch etwas nachhelfen, und Barbara hat sich auch mächtig stark gemacht für mich, aber wer würde das nicht tun? Jetzt reiss dich zusammen, Bruno, du musst das Ding einfach zum Laufen bringen!

      Oh, wer legt denn da seine Hände auf meine Schultern? Bruno drehte den Kopf.

      »Ach so, du bist es!« Seine Ehefrau Barbara stand hinter ihm und lachte ihn strahlend an. Bruno liebte ihre schon etwas mollige Figur, ihre kurzen, dunklen Haare, ihre braunen, nie geschminkten Augen, ihre Fältchen um die Nase herum, ihren kleinen, stets ein wenig offenen Mund, ihr kehliges Lachen.

      »Sorgen, mein Herz?«, fragte sie. Bruno murmelte einen Fluch in sich hinein.

      »Das kann man wohl sagen. Sieht von Monat zu Monat schlechter aus.«

      »Ganz so schlimm wird es nicht sein«, meinte Barbara betont optimistisch.

      »Komm, wir schauen uns die Sache mal gemeinsam an.« Erleichtert stimmte Bruno zu. Barbara würde bestimmt, wie schon so oft, eine Lösung finden!

      Barbara setzte sich neben ihn und begann, die Tabellen zu studieren. Mehrere Minuten lang sagte sie gar nichts, dann holte sie aus ihrer Handtasche Block und Farbstifte hervor und fing am, ein Schema zu malen. In die Mitte des Blattes zeichnete sie einen schwarzen Kreis und schrieb hinein: Defizit. An diesen Kreis setzte sie etwa ein Dutzend Pfeile an, in alle Richtungen weisend. An die Enden der Pfeile malte sie Kästchen in verschiedenen Farben und schrieb Stichworte hinein, etwa Lohnkosten, Kapitalkosten, Steueraufschub, Verzögerung bei Matter, Einspruch von Meyer, Kostenüberschreitung bei Sieber. Dann malte sie weitere Pfeile, neue Kästchen, bis das ganze Blatt wie ein Labyrinth aussah.

      Bruno schaute fasziniert zu. Frauen denken einfach irgendwie anders! Am Ende notierte Barbara, immer wieder in den Computertabellen nachschauend, neben jedes Kästchen eine Zahl. Sie lehnte sich zurück, schaute auf das Blatt und meinte: »So, jetzt haben wir, auf diesem sogenannten Mindmap, die grafische Übersicht unserer geschäftlichen Probleme.« Bruno war perplex.

      »Wo hast du das nur gelernt?« Barbara lächelte, der Stolz war ihr anzusehen.

      »Schliesslich habe ich die Management Akademie in Thun abgeschlossen. Da lernt man eben, Probleme mal anders anzugehen, als man es schon immer gemacht hat. Du zum Beispiel marschierst, wenn ein Problem vorliegt, einfach schnurgerade darauf zu, du denkst sozusagen eindimensional, gehst von A zu B und dann nach C. Ein Mindmap hingegen ist zweidimensional, da kannst du Abhängigkeiten, Rückkopplungen und Blockaden besser darstellen. So wirst du, wenn es optimal gemacht wird, mit einem Blick die kritischen Schwachstellen der Projekte überblicken.« Bruno umfasste Barbaras Kopf mit beiden Händen.

      »Ich staune, Frau Professorin.« Barbara lachte und drückte ihrem Mann einen dicken Kuss auf den Mund.

      »Hoffentlich auch, mein Männlein!«

      »Aber«, meinte Bruno zaghaft, »was heisst jetzt das konkret für unser Geschäft?« Barbaras Miene wurde eine Spur besorgter.

      »Ja, Reserven haben wir tatsächlich kaum mehr. Ich sehe drei Alternativen, um über die Runden zu kommen: Entweder holen wir nächstes Jahr zwanzig Prozent mehr Aufträge herein, oder wir kaufen die Ware um mindestens zehn Prozent billiger ein, oder wir bauen beim Personal ab und erledigen die ganze Administration selber.« Bruno war die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Auch Barbara hatte kein Wunderrezept!

      »Das scheint mir aber alles unrealistisch. Die ersten beiden sind auf legalem Weg unerreichbar, und die dritte würde für uns eine Siebentagewoche ohne Ferien bedeuten.« Barbara nickte.

      »Apropos legalem Weg: Was machen wir mit dieser Drohung?« Bruno erwiderte schulterzuckend: »Da müssen wir wohl oder übel bezahlen. Ich will nicht noch grösseren Ärger im Haus.«

      »In dem Fall erhöht sich aber unser Defizit nochmals um ein Drittel«, meinte Barbara trocken und fügte dem Mindmap ein weiteres Kästchen mit einer negativen Zahl zu.

      »Das heisst doch im Klartext«, sagte Bruno, »unser Geschäft können wir nur retten, wenn die Familienvilla sehr bald zum Verkauf kommt. Wir müssen Matthias umstimmen. Ach, ich könnte ihn erwürgen, ihn mit seiner blödsinnigen Sturheit!«

      Linda Moser stieg aus der Duschkabine, trocknete sich ab, schlüpfte in ihren pinkfarbenen Morgenmantel und trat auf den langen Gang hinaus, an dessen Ende ihr Zimmer lag. Morgen würde sie, da war sie sicher, in Beinen und Armen einen tüchtigen Muskelkater verspüren, aber im Augenblick fühlte sie sich rundum wohl. Die Klettertour mit Michael hatte ihre Laune beinahe in den Himmel gehoben, hatte ihr ein Stück Glück geschenkt. Das war der Mann, mit dem sie wirklich zusammen sein wollte! Und er wollte doch auch, begehrte sie seit Jahren, wie noch kein Mann sie begehrt hatte. Linda blieb vor ihrer Zimmertüre stehen. Ihre gute Laune sank im Bruchteil einer Sekunde in den Keller hinunter, ihre Gedanken begannen zu kreisen.

      Und jetzt? Da drinnen sitzt mein miesepetriger Ehemann Matthias. Nein, er wird nicht fragen, wo ich gewesen sei. Mit keinem Wort wird er meine Eskapade erwähnen. Seine Rache besteht darin, mich anzuschweigen und mich traurig anzublicken. Warum lässt er mich dann nicht gehen? Warum will er um jeden Preis nach aussen die heile Familie spielen, will sogar in die alte Villa seiner Eltern ziehen, damit alle Welt sieht, er hat es geschafft, er hat seine Ehe gerettet, seine weisse Weste ist unbefleckt, er bleibt der untadelige Anwalt, er leistet perfekte Arbeit in seiner klinisch sauberen Kanzlei an der Bahnhofstrasse… Oh ja, er glaubt, er sei gerecht, jeden Verstoss gegen das Gesetz müsse er aufklären und den Übeltäter seiner Strafe zuführen. Oh ja, er ist gerecht, vor allem aber selbstgerecht bis zum Überdruss. Und ich? Nach dem Gesetz bin