Mosers Ende. Urs W. Käser

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Название Mosers Ende
Автор произведения Urs W. Käser
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967525847



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Ein kräftiger Ruck am Seil riss Michael aus seinen Träumereien.

      »Kannst nachkommen!«, rief Linda fröhlich von oben.

      Eine knappe Stunde später hatten sie den Gipfel des Grossen Engelhorns erreicht, setzten sich auf einen grossen, flachen Stein und packten ihren Lunch aus dem Rucksack. Es war ein herrlicher Sommertag, die Sonne schien kräftig, und nur wenige Quellwolken schwebten über den Gipfeln. Aber hier oben auf fast 2‘800 Metern über Meer war die Luft frisch, und ein leichter Nordwind liess die verschwitzten Kletterer trotz Windjacke beinahe frösteln. Aber die Aussicht war atemberaubend. Tief unten schimmerte der Rosenlaui-Gletscher, dahinter erhoben sich die schneebedeckten Gipfel von Wellhorn, Wetterhorn, Rosenhorn und Hangendgletscherhorn. Weiter weg, im Osten, leuchteten die Schneefelder vom Sustenhorn, Dammastock und Galenstock. Die höchsten Gipfel des Oberlandes hingegen, das Finsteraarhorn und die Jungfrau, waren hinter dem Wetterhorn verborgen.

      Zwei andere Seilschaften waren schon vor ihnen oben angekommen, man hatte sich kameradschaftlich begrüsst und tauschte bald Neuigkeiten aus der Kletterszene aus. Michael Steuri kannte fast alle einheimischen Bergsteiger. Er hatte schon als Gymnasiast, vor mehr als dreissig Jahren, zu klettern begonnen und kannte mittlerweile die meisten Routen im Berner Oberland aus eigener Erfahrung. Er hatte sich immer mit gezieltem Training fit gehalten und bewältigte auch jetzt noch, als Zweiundfünfzigjähriger, Routen bis zum fünften Schwierigkeitsgrad. In den letzten vier Jahren hatte er seine sportliche Schwägerin, Linda Moser, nach und nach für die Felswände begeistern können und sie zu einer fast ebenbürtigen Kletterpartnerin ausgebildet.

      »Michael, was denkst du?«, fragte Linda, nahm seine Hand und sah ihn mit ihren grossen, dunklen Augen an.

      »Ach, ich bin so glücklich, mit dir hier oben zu sein«, sagte er, »weit weg von den Sorgen des Alltags.«

      »Hast du denn Ärger im Spital?« Michael seufzte.

      »Ach, diese leidige Geschichte mit der Operation von Frau R… Und dann dieser lästige Brief… Aber ich kann dir jetzt noch nichts davon erzählen, vielleicht später mal… «

      Michael blieb eine Weile stumm. Dann begann er unvermittelt leise zu lachen.

      »Was ist?«, fragte Linda.

      »Weisst du, ich dachte an deine Bemerkung vom Puppenhaus während des Aufstiegs. Von hier oben betrachtet, erscheint wirklich alles so winzig, das Tal mit seinen Alltagsproblemen so weit weg, alles so nichtig und klein. Rund um uns herum nur die Berge mit ihrer grossartigen Ruhe, voll von Klüften, Abgründen, senkrechten Wänden, Schutthalden, Schnee und Eis. Was suchen wir eigentlich hier oben? Warum zieht uns diese majestätische Welt mit solch magischer Kraft an, lässt uns keine Ruhe, bringt uns zum Träumen vom Klettern an senkrechten Wänden, vom Sieg über die Schwerkraft, vom Überwinden aller Schwierigkeiten, vom Erlebnis des Gipfels, von der tiefen Zufriedenheit nach dem Abstieg? Scheinbar leblos ist sie, diese Bergwelt, und doch voller Leben. Tausende blühender Pflanzen überziehen die steilen Abhänge, Murmeltiere tollen im Gras herum, Gämse und Steinbock trotzen den kargen Bedingungen, Adler und Alpendohlen segeln hoch in der Luft. Und nur ganz selten, an schönen Sommertagen, wagen sich auch wir Zweibeiner zaghaft ins Hochgebirge.«

      »Mensch, du bist ja richtig poetisch«, staunte Linda, »aber eben, da unten im Rosenlaui, so winzig sie von hier aus auch erscheinen mag, braut sich ein tüchtiges Donnerwetter zusammen. Dort sitzt Matthias und widersetzt sich allen Geschwistern, will das Haus um jeden Preis behalten, nimmt alles dafür in Kauf. Ich kenne ihn nun schon lange genug, und ich glaube kaum, dass er nachgeben wird.«

      »Ja, das wird schwierig«, stimmte Michael zu.

      »Meine Liebe, so schön es hier oben ist, wir sollten uns langsam an den Abstieg machen.«

      

       Freitag, 20. Juli 2012

      Ich bin jetzt hellwach und schaue auf meine Uhr: Zwanzig Minuten vor Mitternacht. Zum Glück bin ich immer noch angekleidet! Schnell schlüpfe ich in meine Schuhe und eile aus dem Zimmer. Von unten höre ich lautes Wehklagen, deshalb renne ich, so schnell es geht, die Treppe hinunter. Auf dem untersten Treppenabsatz, oberhalb der Rezeption, bleibe ich abrupt stehen und lasse unwillkürlich einen kleinen Schrei fahren. Eine dunkelhaarige Frau, die ich sogleich als zum grossen Tisch gehörig erkenne, steht mitten im Raum, klammert sich mit beiden Händen an die Hotelchefin und schreit in einem fort: »Matthias ist tot, Matthias ist tot, …« Claudia Dietrich versucht, sich von ihr loszureissen, schafft es aber nicht. Als sie mich erblickt, ruft sie erleichtert: »Schnell, holen Sie meinen Mann, in der Bar, schnell!« Ich renne ins Freie und will mich zum Nebengebäude wenden, da kommt schon Daniel Dietrich gelaufen.

      »Was ist denn los?«

      »Offenbar ein Todesfall…« stammle ich, und wir laufen zusammen zur Rezeption zurück.

      »Schnell, Zimmer siebzehn«, schreit Claudia Dietrich uns zu, während sie immer noch von der Frau umklammert wird. Der Hotelchef und ich rennen keuchend die Treppe hoch.

      Die Türe zum Zimmer siebzehn steht halb offen. Ein Mann, nur mit einem dunklen Pyjama bekleidet, liegt reglos am Boden. Auf der Höhe seines Rückens bedeckt ein grosser Fleck, offenbar von eingetrocknetem Blut, die Holzdielen. Der Mann kommt mir ebenfalls vom grossen Tisch her bekannt vor. Daniel Dietrich kniet sich hin und versucht, dem Mann Puls und Atem zu fühlen. Dann erhebt er sich kopfschüttelnd.

      »Ich denke, er ist wirklich tot. Sie, Herr Wolf, bleiben hier und passen auf, dass niemand hereinkommt und nichts angefasst wird. Ich rufe unterdessen den Notarzt an.« Er schliesst die Türe von aussen, und ich bleibe ganz allein mit dem Toten im Zimmer. Ein mulmiges Gefühl schleicht an mir hoch, die Zeit will kaum vergehen, ich stehe am Fenster und starre hinaus in die Dunkelheit. Schliesslich kommt Dietrich zurück und meldet, der Arzt sei unterwegs. Es würde mich natürlich brennend interessieren, mehr über den Verstorbenen zu erfahren, aber ich wage nicht zu fragen, und Dietrich, sichtlich geschockt vom Ereignis, schweigt vor sich hin.

      Endlich, um zwanzig nach zwölf, höre ich ein Auto vorfahren, und eine Minute später erscheint ein grossgewachsener, schlanker, älterer Mann mit Glatze und kurzem weissem Bart im Türrahmen.

      »Grüss dich, Fritz«, sagt Daniel Dietrich, sichtlich erleichtert, »ich habe dich wahrlich nicht gern aus dem Bett geholt, aber hier sieht es ganz nach einem unnatürlichen Todesfall aus. Übrigens, das ist Herr Valentin Wolf, Hotelgast, und Doktor Fritz Tschanz, diensttuender Arzt aus Meiringen.« Tschanz zieht sich Einweghandschuhe über und untersucht den am Boden liegenden Mann vorsichtig und gründlich. Dann erhebt er sich seufzend.

      »Ja, dem armen Matthias Moser ist leider nicht mehr zu helfen. Dürfte seit einer guten Stunde tot sein. Über die Todesursache kann nur eine Autopsie letzte Klarheit bringen, aber jedenfalls wurde der Mann von hinten niedergestochen, vermutlich mit einem Messer.« Tschanz wendet sich zu Dietrich.

      »Ich fülle jetzt den Totenschein aus, und du, Daniel, avisierst die Polizei. Ich denke, es reicht, wenn die morgen früh anrückt. Bis dann muss aber das Zimmer verschlossen bleiben und niemand darf etwas anrühren.«

      »In Ordnung«, erwidert Dietrich, »dann versuche ich, direkt Polizist Peter Kehrli zu erreichen. Er ist doch ein Neffe der Ehefrau des Verstorbenen.«

      »Ach ja, stimmt, die Linda Moser ist seine Tante. Wo steckt sie eigentlich?«

      »Ich nehme an, immer noch unten bei Claudia. Gehen wir doch hinunter.« Unglaublich, denke ich, hier in der Gegend scheinen alle irgendwie miteinander verwandt zu sein. Wir treten auf den Flur hinaus, und der Hotelchef schliesst das Zimmer von aussen ab. Mittlerweile haben sich im Flur etwa zwanzig Hotelgäste versammelt, sprechen durcheinander, gestikulieren, wollen wissen, was passiert ist. Daniel Dietrich erklärt, es habe einen Todesfall gegeben, und bittet die Leute, auf ihre Zimmer zu gehen und Ruhe zu bewahren. Aber da mich selbst das Geschehen so fasziniert und mich niemand weiter beachtet, gehe ich einfach mit hinunter, immer einige Schritte hinter Tschanz und Dietrich bleibend, und beobachte vom untersten Treppenabsatz aus, was weiter passiert.

      Während