Mosers Ende. Urs W. Käser

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Название Mosers Ende
Автор произведения Urs W. Käser
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783967525847



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Tag, Frau Dietrich, auch ich freue mich sehr, hier im Rosenlaui einige ruhige Tage verbringen zu dürfen.«

      Hotelchefin Claudia Dietrich lächelte charmant. Sie musste um die fünfzig sein, sah aber viel jünger aus.

      »Ja, mit ruhig treffen Sie den Nagel auf den Kopf. Wie Sie wissen, gibt es bei uns für die Gäste weder Fernsehen noch Radio noch Internet, und der Mobiltelefonempfang ist sehr schlecht. Höchstens das Bimmeln der Kuhglocken könnte Sie beim Schreiben stören. Und abends, da kann man zwar noch in unserer Bar sitzen und sich amüsieren, aber es läuft keine laute Musik, und betrunkene Gäste gibt es kaum. Und um viertel vor zwölf ist strikte Nachtruhe im Haus, da pochen wir darauf.«

      »Wunderbar, genau das, was ich jetzt brauche. Wissen Sie, ich schreibe an einem Kriminalroman, dessen Handlung hier in der Umgebung spielt, und ich erhoffe mir Inspiration durch Landschaft und Leute.«

      »Oh, das freut mich sehr«, erwiderte Claudia Dietrich mit wachem Blick und legte einen Formularblock vor mich hin, »aber hüten Sie sich bloss davor, unser Tal in einem schlechten Licht zu zeigen. Sonst lasse ich alle Ihre Bücher verbrennen…«

      »Im Gegenteil, ich will die schöne Gegend im allerbesten Licht darstellen. Ein kleines Verbrechen kann ja schliesslich überall passieren…«

      »Na gut, hoffen wir das Beste. Nun muss ich Sie aber bitten, auf diesem Formular noch die Angaben für das Fremdenverkehrsamt auszufüllen.« Ich nahm meinen Kugelschreiber zur Hand und füllte das Formular aus.

      »Aha, jetzt ist der Groschen gefallen«, kommentierte Claudia Dietrich, »ich habe die ganze Zeit nach Ihrem Vornamen gesucht. Valentin Wolf, was für ein schöner Name!«

      »Ist nicht mein Verdienst, trotzdem Danke für das Kompliment«, sagte ich, nahm den Zimmerschlüssel in Empfang und begann mit meinem Gepäck die Treppe hochzusteigen.

      Ach so, erinnerte ich mich beim Anblick des Schlüssels in meiner Hand, Nummer Neunzehn, also habe ich dasselbe Zimmer wie vor zwei Jahren, wie aufmerksam von der Chefin! Ich hatte das Zimmer damals explizit gelobt, und sie hatte es sich notiert. Die mehr als hundertjährige Treppe war mit einem Läufer belegt, aber unter dem weichen Belag knarrte und quietschte das Holz bei jedem Schritt in allen Variationen. Auf dem ersten Treppenabsatz hörte ich plötzlich ein bedrohliches Knurren. Ich blieb abrupt stehen und hob meinen Kopf.

      »Ach so, du bist es, Bäri«, sagte ich halblaut und streckte meinen rechten Arm aus, »komm zu mir, kennst du mich denn nicht mehr?« Der grosse, alte Berner Sennenhund, der seit elf Jahren zum Rosenlaui gehörte, hörte sofort auf zu knurren, bellte zweimal kurz, begann eifrig zu wedeln und kam langsam die Stufen herunter. Ich streichelte seinen Kopf und kraulte ihn ausgiebig hinter den Ohren, wie er es so gern mochte. Dann entliess ich ihn die Treppe hinunter und stieg weiter hinauf in die dritte Etage.

      Ja, der Hotelprospekt versprach wahrlich nichts Falsches: Beim Eintreten ins Zimmer fühlte ich mich auf einen Schlag um hundert Jahre zurückversetzt. Der Fussboden mit breiten, langen Dielen aus Tannenholz belegt, die Wände mit blassblauen Tapeten in Lilien-Muster, ein Landschaftsgemälde in überdimensioniertem Rahmen, an der Zimmerdecke geschwungene Bögen aus weissem Stuck, neben dem Fenster ein mächtiger Heizungsradiator, an der linken Wand ein viel zu hohes Bett mit weissem Leintuch und braunen Wolldecken, in der Ecke ein klobiger Schrank aus dunklem Holz, rechterhand eine schwere Kommode auf vier Füssen, darauf eine Waschschüssel und ein riesiger Krug. In den Zimmern gab es, wie eben vor hundert Jahren, kein fliessendes Wasser. Toilette und Bad befanden sich am Ende des langen Ganges.

      Beinahe drei Stunden hatte meine Reise von Bern aus gedauert, und ich fühlte eine leichte Müdigkeit in mir aufsteigen. Vor dem Abendessen blieb mir noch genügend Zeit für ein Nickerchen und vielleicht einen ersten Spaziergang in der sauberen Bergluft. Ich räumte mein Gepäck provisorisch ein, legte mich angekleidet auf das Bett, und bald schon begannen mir die Augen zuzufallen.

      Woher kommt denn diese Musik? Das klingt doch nach Chopin! Langsam richte ich mich im Bett auf, schaue auf die Uhr. Zehn vor sieben, jetzt habe ich doch tatsächlich fast zwei Stunden lang geschlafen! Schnell mache ich mich zurecht und steige die Treppe hinunter. Vor dem Eingang zum grossen Speisesaal in der ersten Etage bleibe ich stehen und schaue hinein. Am Flügel, hinten im Saal, sitzt Claudia Dietrich und spielt ein buntes Potpourri aus Chopin-Walzern. Wie leicht ihre Finger, durch tausendfache Übung geschult, über die Tastatur gleiten! Schwebend und perlend kommen die Töne aus dem mächtigen Instrument, steigen empor, verteilen sich im Saal, nehmen mich gefangen, lassen mich eintauchen in eine himmlische Klangwelt. Gebannt höre ich eine Weile einfach nur zu. Was für ein wunderschöner Auftakt zum Abendessen!

      Das Hotel scheint gut besetzt zu sein, denn auf allen Tischen ist gedeckt. Zum Glück bin ich noch rechtzeitig aufgewacht! Ich hatte mir nämlich vorgenommen, mir einen Einzeltisch in der vorderen Ecke des Saales zu schnappen. Wenn man schon alleine essen muss, will man doch wenigstens die anderen Gäste ausgiebig beobachten können! Ich habe Glück, mein Wunschtisch ist noch frei.

      Kaum habe ich Platz genommen, erscheint der Herr des Hauses, Daniel Dietrich, ein grosser, hagerer Mann mit grau-blondem Fünftagebart, durch die hintere Saaltür und eilt sofort auf meinen Tisch zu.

      »Mein lieber Herr Wolf, willkommen im Rosenlaui! Ich hoffe, Sie bleiben einige Wochen bei uns.«

      »Na ja, einige Wochen«, erwidere ich trocken, »das würde mein Budget sprengen. Die Preise sind seit dem Bau des Hotels leider nicht stehengeblieben…« Daniel Dietrich lacht. Wie seine Frau, sieht auch er noch ziemlich jung aus, obwohl er seit mehr als zwanzig Jahren das Rosenlaui führt.

      »Da haben Sie Recht. Aber immerhin sind wir, im Vergleich zum Schweizer Durchschnitt, noch sehr günstig.«

      »Das muss ich zugeben. Und man bekommt für sein Geld auch etwas. Wunderschöne Zimmer und ausgezeichnete Verpflegung.«

      »Danke für die Blumen, Herr Wolf, und jetzt wünsche ich Ihnen einen guten Appetit.«

      Unterdessen hat Claudia Dietrich unter starkem Applaus ihr kleines Konzert beendet. Fast alle Tische sind jetzt besetzt und der Geräuschpegel im Saal hat markant zugenommen. Aufmerksam mustere ich die anderen Hotelgäste. Vom Aussehen her und aus den Gesprächsfetzen, die an mein Ohr dringen, stammen die meisten Gäste aus der Deutschschweiz. Nur von der Fensterfront her kann ich Worte in Hochdeutsch und in Holländisch aufschnappen. Was mir am meisten auffällt und woher die lautesten Stimmen kommen, ist ein sehr langer Tisch in der Saalmitte, an dem zehn Personen sitzen. Ob das wohl ein Verein ist, oder ein Freundeskreis, der hier logiert, frage ich mich. Nein, von der Altersstruktur her ist das unwahrscheinlich. Es sind sieben Erwachsene, alle im Alter etwa zwischen vierzig und fünfzig, sowie drei Teenager. Also wohl eher eine Zusammenkunft mehrerer Familien, denke ich. Meine Neugier ist definitiv geweckt!

      »Herr Wolf?«

      »Oh«, schrecke ich auf, »Entschuldigung, ich habe Sie gar nicht kommen hören. Sie sind doch, hm, Maria?« Maria Manzoni lächelt.

      »Genau, Herr Wolf, Sie haben ein gutes Gedächtnis. Hier, bitte, Ihre Suppe.«

      »Vielen Dank, Maria. Und ich nehme dann, wie immer, einen Dreier Rioja zum Essen.« Eine Weile lang vertiefe ich mich in die sämige, wunderbar gewürzte Tomatensuppe und nippe ab und zu an meinem Wein. Als Maria mit dem Hauptgang kommt – Kalbskotelette, Kartoffelpüree und grünen Bohnen – frage ich sie diskret nach dem grossen Tisch. Sie beugt sich etwas zu mir herunter und flüstert: »Das ist die grosse Familie Moser aus Meiringen. Alle vier Geschwister sind hier, zusammen mit den Frauen und Kindern. Und sie haben zusammen ein grosses Problem…« Ich nicke dankend und verzichte darauf, sie weiter auszufragen. Allein an meinem Tisch sitzend, habe ich Musse, die zehn Menschen, ihre Stimme, Mimik und Gestik ausgiebig zu studieren. Von ihren Gesprächen kann ich einen Teil, wenn auch längst nicht alles, verstehen. Nachdem Maria den Nachtisch – Vanillecreme mit Himbeeren – abgeräumt hat, bilde ich mir ein, die Rollen und Charaktere der Mosers zuordnen zu können und zu wissen, wer wie gut auf wen zu sprechen ist.

      Da ist ein alleinstehender Mann um die fünfzig namens Samuel. Er könnte der älteste in der Geschwisterreihe