Die Reisen des jungen Mr Happy. Marco Höne

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Название Die Reisen des jungen Mr Happy
Автор произведения Marco Höne
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783843806848



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mehr danach. Er eroberte sein Mädchen und packte die Schuld in seinen Rucksack. Wie ein Gewicht, das man trägt, wog die Schuld mit jedem Tag ein Stückchen schwerer. Nach nunmehr 40 Jahren war er gebeugt und ging zur Buße jeden Tag auf Golgatha. Sein Leben bestand daraus, jeden Tag Vergebung zu erbitten. Krebs hatte sein Mädchen dahingerafft. Eine weltliche Strafe hatte er nie bekommen.

      Zu diesen Dauergästen kamen nicht weniger mysteriöse Tagesgäste. In Erinnerung blieb mir insbesondere ein Mann, der den ganzen Tag weinend durch die Flure lief und sich abends auf seinem Zimmer mit einer Bibel bei offener Tür auf den Kopf schlug.

      Alle Bewohner hatten ein Kreuz, an das sie sich tagtäglich schlugen. Und alle hatten ihre Leidensgänge. Ryan ging jeden Tag auf den Ölberg, Hannah um 5.30 Uhr zur Klagemauer und Peter eben jeden Abend auf Golgatha. Mich marterte kein Gott, sondern die Erkenntnis, dass ich in 25 Lebensjahren noch nicht in der Lage gewesen war, meine zahlreichen Schwärmereien für Männer in eine einzige echte Beziehung zu überführen. In meinem Geist leierte eine Dauerschleife: »Es gibt keine Liebe für dich.« Es war eine plötzliche Erkenntnis beim Bier: Ich hatte mich in meiner Verklemmtheit maximal eingerichtet.

      Für mich – wie für alle Hostel-Bewohner – schien Jerusalem nicht die Erlösung vom Leiden zu sein, sondern sein Verstärker. Wir krochen alle immer tiefer in unsere Abgründe. Peter bekam keine Vergebung, Hannah dachte nur an ihren schmerzhaften Tod, der orthodoxe Jude regte sich jeden Tag mehr über den Säkularismus in der Welt auf.

      Ich schwärmte immer stärker für Jannes: sein Lachen, seine Bewegungen, seine Haare. In Jerusalem klopfte mein Herz schneller. Die eine Nacht spukte mir unruhig im Kopf herum: Seine Stirn gegen meine Wange gedrückt, sein Atem auf meiner Brust.

      Jeden Abend in Jerusalem quälte mich meine Verklemmtheit. Ich war für Julia, Mareike und Annika eine Sackgasse gewesen und auf meiner Seite des Ufers nie über das Level betrunkenen Spaßfummelns hinausgekommen. Sören, Fabian und Dennis hätten große Lieben sein können, waren aber meine Einbahnstraßen gewesen. Weil ich es auch nie gewagt hatte, es zu versuchen. Nicht zu erwähnen, die unzähligen Schwärmereien für Promis wie Bill Kaulitz und Kim Frank (bevor er ein aufgeschwemmter Grunger wurde).

      Mein Leidensgang führte mich zu Elias, einem Kioskbesitzer, der mir Bier verkaufte, aber nicht ausschloss, mich irgendwann zum Islam zu konvertieren. Dann ging ich vom Jaffator an der Altstadtmauer entlang zum Damaskustor. Dabei überschritt ich die unsichtbare Grenze zum besetzten Ostjerusalem. Dort trank ich das Bier, beobachtete Katzen, die sich wie Affen an Stromleitungen entlanghangelten und folterte mich mit Sehnsüchten nach Sex und Zärtlichkeit. Ich träumte davon, wie Jannes mich am Flughafen abholen würde und wusste, dass das nicht passieren würde. Wenn ich dann angetrunken war, schrieb ich ihm SMS, auf die er fast nie reagierte. Wenn er doch antwortete, dann oft nicht mal ein richtiges Wort wie »lol« oder »aha«. Am schlimmsten war die Abkürzung für Okay: »k«. Auf ihn musste ich völlig schizophren wirken.

      Die Stadt war voller Extremisten. Ihre Grimmigkeit legte sich wie Smog auf die Dächer und Gemüter. Dazwischen wuselten UN-Mitarbeiter und Massen von Politikstudenten, für die der Konflikt wie Amphetamin wirkte.

      Der Konflikt, der mich und andere anlockte, war in Jerusalem auf die Spitze getrieben worden. Die Grenze, die ich jeden Abend, ohne es weiter zur Kenntnis zu nehmen, überschritt, war für jüdische Israelis wie eine Mauer. Taxifahrer weigerten sich, darüberzufahren. Am Rathaus von Jerusalem sah man Einschusslöcher aus der Zeit vor 1967, als arabische Scharfschützen aus kurzer Distanz, direkt vom Jaffator aus, ihrer Arbeit nachgingen. Überall wachte das Militär, den Finger schon am Abzug. Aber vielen Zivilisten schien das nicht zu reichen. Die Knarre im Hosenbund eines radikalen Siedlers wurde mir bald zum gewohnten Anblick. Eltern brachten, wenn sie im Viertel der anderen wohnten, ihre Kinder mit entsicherter Waffe vom Haus ins Auto.

      Natürlich verschaffte mir meine Tätigkeit bei ICHAD einen noch tieferen Einblick in den täglichen Kampf zwischen Israelis und Palästinensern. Dieser war nicht immer so augenscheinlich wie eine Intifada mit brennenden Reifen auf der Straße, aber es ging tagtäglich um jedes Staubkorn. Nichts wurde freiwillig hergegeben. Nimm, also wird dir gegeben, war das Gebot. Auf manchen T-Shirts stand »Guns n’ Moses« als Landesmotto.

      Bei ICHAD war man sehr froh, dass ich tatsächlich gekommen war. Es käme ständig vor, dass Praktikanten in letzter Minute absagten, »weil irgendwo mal wieder eine Bombe explodiert« sei. Tatsächlich flogen einige Raketen aus dem Gazastreifen herüber, da dort verschiedene Extremisten um die Macht kämpften und sich profilieren wollten. Am Jaffator wurde eine Autobombe gefunden, aber rechtzeitig entschärft.

      Die Einblicke, die mir ICHAD gab, ließen mich den Freiheitsgeschmack aus Tel Aviv vergessen. Als ich das erste Mal einen Checkpoint in die besetzten Gebiete überquerte, war ich fassungslos: Ein Tor von der ersten in die dritte Welt. Die Menschen lebten im Elend. Auch in Israel muss man sich an große Kakerlaken und streunenden Katzen gewöhnen, aber was ich nach dem Checkpoint sah, war brennender Müll am Straßenrand und Kinder, die dazwischen spielten. Es gab keine Gehsteige, keine Parks und kaum Beleuchtung.

      Was es gab, war eine große Gastfreundschaft bei den Palästinensern. Unsere Fahrt führte uns zu einem Richtfest. ICHAD organisierte Freiwillige, die die Häuser wiederaufbauten, welche die israelische Armee wegen mangelnder Baugenehmigung (die nirgends zu bekommen war) zerstörte. Zwei Häuser waren fertiggestellt worden und das sollte gefeiert werden. Auf staubigen Plastikstühlen saßen wir zwischen unverputzten Häusern und trockener Wüste. In Sichtweite war ein israelischer Militärposten. Soldaten blickten mit Ferngläsern herüber. Auf der Bühne hielten Jeff Halper und Vertreter der Fatah ihre Reden. Jeff hatte seine Tochter auf dem Arm. Er benutzte sie als Zeichen seines Vertrauens, das er an die Stelle von Paranoia und Feindschaft gesetzt hatte. Ein palästinensischer Junge brachte mir Tee und sah, dass ich die billigsten Zigaretten rauchte. Er bot mir seine an. Ich empfand eine große Freude, dass zumindest einige wenige Menschen auf der Welt sich für das schmutzige Schicksal der Palästinenser interessierten.

      Nach den Förmlichkeiten waren wir bei einer Familie zu Hause zum Essen eingeladen. Die Frauen kümmerten sich ums Essen, die Männer saßen faul herum. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich mit Jannes gekommen wäre. Ich wusste es. In Tel Aviv hätten wir Hand in Hand durch die Straße in dutzende Bars gehen können. In Jerusalem aber gab es keine Schwulenbar. Der Christopher Street Day war wiederholt angegriffen, Teilnehmer sogar niedergestochen worden. In Palästina hatten sich die Schwulen noch nie auf die Straße gewagt.

      Diese Gedanken wurden überdeckt von den düsteren Geschichten der freiwilligen Helfer. Während des Baus kampierten sie vor Ort und mehrfach wäre es vorgekommen, dass das israelische Militär sie nachts überfallen und zusammengeschlagen hat. Bruno, ein drahtiger Finne, war in diesen Nächten zum Antisemiten geworden. Er war mit einem großen Herzen und dem Glauben an eine Welt in Harmonie und Frieden ins Land gekommen und nun schimpfte er den ganzen Abend auf »die Juden«, als wäre der Geist von Julius Streicher in ihn gefahren.

      Dieser muffige und unreflektierte Hass widerte mich an, aber ich musste zugeben: Ich begann, mich vor den israelischen Sicherheitskräften mehr zu fürchten als vor den Palästinensern.

      An einem anderen Tag besuchten wir eine Familie in Ostjerusalem. Kinder, Eltern, Großeltern lebten mit Matratzen unter freiem Himmel auf der Straße. In Sichtweite befand sich ihr Haus, auf dem allerdings eine Israelfahne wehte und aus dessen Fenster ein Schnellfeuergewehr auf uns zielte. Israelische Siedler hatten das Haus besetzt, da es angeblich jüdischer Besitz sei. Die Familie hatte zwar seit drei Generationen in dem Haus gelebt, aber der entsprechende Grundbucheintrag war bei den jordanischen Behörden verschlampt worden. Die Siedler waren mitten in der Nacht gekommen und hatten neben Gewehren auch die Besitzurkunde eines Rabbis von vor hundert Jahren dabei. Gerechtigkeit sieht anders aus.

      In der Davidstadt südlich der Altstadtmauern hingegen hatte eine palästinensische Familie alle Besitzurkunden und lebte in einem ärmlichen Verschlag. Viele interessierte Juden boten ihnen dafür Millionenbeträge, damit sie wegzögen und so die Besiedlung wieder einen Millimeter voranschreiten konnte. Die Familie weigerte sich und lebte lieber in Armut als dieses Fleckchen Land aufzugeben. Es war klar: Wer sein Land verließ, würde es nie wieder betreten. Direkt über dem Haus war ein