Название | Warum es so schwierig ist, in die Hölle zu kommen |
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Автор произведения | Hans Conrad Zander |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783897109582 |
Am 28. Juni 548 ist Kaiserin Theodora gestorben. In den Kirchen des Ostens, bei den Kopten vor allem, wird sie bis heute als ganz große Heilige verehrt. Am 14. November ist ihr Festtag. Nur der Vatikan weigert sich immer noch, die Frau, die stark genug war, den Papst zu stürzen, zur Ehre der katholischen Altäre zu erheben.
Schon aber hat die Unesco in Paris den ersten Schritt getan. Das grandiose byzantinische Mosaik in der Kirche San Vitale von Ravenna, der einstigen oströmischen Kapitale für Italien, hat sie zum Weltkulturerbe erklärt. Es zeigt Kaiserin Thedora mit Perlen behangen, mit Edelsteinen gekrönt in überirdischer Verklärung. Bildungstouristen ohne Zahl ziehen andächtig vor diesem gewaltigen byzantinischen Mosaik vorbei. Wann wird Papst Franziskus den Mut finden, selber nach Ravenna zu pilgern, um, stellvertretend für uns alle, vor Theodoras überweltlichem Bildnis das Knie zu beugen?
Heilige Theodora von Byzanz, bitt für uns Sünderinnen und Sünder!
„Adieu in alle Ewigkeit, mi Cicero!“
Worin wir von Petrarca lernen, wie man alte weiße Männer kulturell cancelt.
Nicht erst mit sechzig oder siebzig, nein schon mit vierzig Jahren galt ein Mann im Alten Rom als „senex“, als Greis. Einundsechzig Jahre alt war Marcus Tullius Cicero, als er sich im Jahr 45 vor Christus entschloss, ein Buch über das Greisenalter und über den näherkommenden Tod zu schreiben: „de senectute“. Das heißt, mit dem Altwerden und mit der Erwartung des Todes hatte Cicero zu dieser Zeit schon viel eigene Erfahrung. Mehr noch hatte er sich die Meinungen anderer anhören müssen: vor allem die bitteren Klagen der Alten selber.
Dieser würdelosen Jammerei vieler senes, vieler Greise, wollte Cicero jene gelassene Selbstsicherheit entgegensetzen, mit der, lange vor ihm schon, die großen Philosophen Griechenlands dem hohen Alter und dem Tod entgegengesehen hatten, Plato etwa und Sokrates im „Phaidon“. Dabei stand Cicero aber vor einer Schwierigkeit: Er selber galt vielen in Rom als „graeculus“, als „Griechelein“, als „Salongrieche“. Wichtig war ihm deshalb, urgriechische Gedanken über Alter und Tod als etwas Eigenes, etwas Urrömisches darzustellen.
Wie macht man das? Mit einem literarischen Kunstgriff. Cicero schreibt sein Buch de senectute als einen fiktiven Dialog, in dem der berühmteste, der römischste, der männlichste aller Greise Roms, der Alte Cato, zwei jungen Römern über seine Erfahrungen im letzten Lebensalter Rede steht – mit 84, ein Jahr vor seinem Tod und ein Jahrhundert vor Ciceros Geburt.
Nun zuerst zum greisen Gejammer über das Greisenalter. Da sei etwas dran. Ist doch das Alter mit vielerlei Beschwerden verbunden. Doch lohnt es, sich bei jenen, die im Alter so laut jammern, ihre frühen Jahre näher anzuschauen. In aller Regel sind das Leute, die schon in der Jugend laut und gern gejammert haben. Da ist dann das Jammern über das Altern nichts als der jammervolle Schlusspunkt lebenslanger Jammerei. Nicht Alterssache, lehrt der Alte Cato seine jungen Zuhörer, sei das Jammern, sondern Charaktersache, Charakterschwäche von früher Jugend auf.
Natürlich stimme es, dass im Alter die körperlichen Kräfte schwinden. Aber braucht denn der Alte große körperliche Kraft? Wie ist es auf Schiffen? Muss da der Kapitän die nötige Behendigkeit besitzen, um jederzeit selber in alle Masten hochzuklettern? Nein, das überlässt er am besten dem Schiffsjungen. Der wahre Kapitän sitzt unbewegt, gelassen vor seinem Steuer. Wird nicht auch der römische Staat in höchster Instanz vom Senat gesteuert? „Senat“ kommt von „senex“. Er ist der Rat der Greise.
Dass der Körper im Alter nachlässt, hat auch sein Gutes: Der Geist hat jetzt mehr Ruhe. Mehr als in der Jugend ist der Mensch im Alter „secum“, „bei sich“. Zum Beweis lässt Cicero vor dem Alten Cato eine lange Galerie von altrömischen Zeitgenossen auftreten: Richter, Schriftsteller, Priester, Redner, Senatoren aus seiner eigenen Zeit, lange vor Cicero. Ohne Altersgrenze haben sie bis in die spätesten Jahre Großes geleistet, Größeres oft als in der Jugend.
Überdies gebe es körperliche Arbeiten, die zum Alter nicht weniger passen als zur Jugend. Gerade deshalb, weil er als Bauernsohn aufgewachsen war, galt der Alte Cato noch zu Ciceros Zeit als Verkörperung römischer Männlichkeit. Als Soldat, als Feldherr, als Staatsmann war er zu Ruhm gekommen. Jetzt mit 84, berichtet er seinen beiden jungen Zuhörern, bereite es ihm die größte Lust, zur Arbeit seiner Jugend zurückzukehren, durch seine Gärten zu gehen, nicht anders gekleidet als seine Arbeiter, und selber Hand anzulegen.
Aber kommen wir zur eigentlichen Sache. Hängt nicht das nahe Verhängnis des Todes wie eine düsterschwarze Wolke über den letzten Lebensjahren jedes Menschen? Wörtlich antwortet der Alte Cato mit einem Vergleich aus seinem Bauerngarten: „Wie das Obst, wenn es unreif ist, sich kaum vom Baum reißen lässt, jedoch, wenn es gereift ist, sich von selber löst, so nimmt dem jungen Menschen die Gewalt das Leben, dem alten aber die Reife.“
Der intelligente Alte weiß, dass sein Tod nicht, wie beim jungen Menschen, eine Tragödie ist, sondern Erfüllung eines Naturgesetzes. Der Natur so gehorsam zu folgen „wie einem Gott“ aber ist höchste Weisheit des Alters, sagt Cicero durch Catos Mund. Und er schreibt den schönsten Satz, der je über das philosophische Alter und den Tod geschrieben worden ist:
„So geht das Leben unmerklich über ins höchste Alter, und nicht plötzlich bricht es ab, sondern die Länge der Zeit löscht es aus – diurnitate exstinguitur.“
Nach seinen großen Reden zur Verteidigung der res publica – manche würden heute sagen: der Demokratie – haben die Römer Cicero den Titel „pater patriae“ verliehen: „Vater des Vaterlands“. Die christliche Antike wird ihn doppelt verehren: als sprachliches Vorbild der latinitas und als Verkünder edelmütiger humanitas.
Das Mittelalter ließ ihm seinen Ruhm, versagte ihm aber die Nachfolge. Es sprach ja ein ganz anderes, nicht ciceronianisches, sondern modern strukturiertes Latein, die „lingua Parisiensis“. So ereilte Cicero jenes Schicksal, das, wie Voltaire klagen wird, jedem noch so großen Autor bestimmt ist: hochgepriesen, aber ungelesen zu vermodern im Staub der Bibliotheken.
Bibliotheken sind stille Orte. Dass große Dramen sich in Bibliotheken abspielen, dürfte eher selten sein. Solches aber geschah anno 1345 in der Bibliothek der Kathedrale von Verona. Dort saß Francesco Petrarca. Mit Dante und Boccaccio ist er einer der drei Giganten der italienischen Literatur. Für die Italiener ist er auch der eigentliche Begründer des rinascimento, der Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance. Längst kannte Petrarca Ciceros große staatspolitischen Reden, auch seine tiefgründigen Dialoge über das Alter und den Tod. Jetzt aber gingen ihm die Augen über. Was er unerwartet entdeckt hatte, war nichts anderes als, in vielen hundert Exemplaren, Ciceros private Korrespondenz. Von einem aufmerksamen Sekretär einst kopiert und gebündelt, hatten diese ganz persönlichen Briefe die Jahrtausende überstanden.
Außer sich vor Begeisterung stürzte sich Petrarca in die Lektüre von Ciceros Briefen. Doch je länger er las, desto mehr wandelte sich die Begeisterung in Beklemmung. Die Beklemmung wandelte sich in Bestürzung.
In heller Empörung schrieb jetzt Petrarca, durch die Jahrhunderte zurück, einen Wutbrief an Cicero persönlich. In perfekt ciceronianischem Latein. „Amantissime“, in leidenschaftlicher Liebe habe er seit früher Jugend Cicero verehrt und nachgeahmt. Jetzt aber sei für ihn Ciceros antike Maske gefallen. „Was für ein Lehrmeister du den andern warst, habe ich längst gewusst; jetzt habe ich erkannt, was für einer du für dich selber warst.“ Derselbe alte Cicero, der öffentlich unentwegt den heldenhaften Verteidiger der Republik spielte, war ganz privat damit beschäftigt, sich bei den aufstrebenden Jung-Diktatoren, etwa bei Cäsar, einzuschleimen. Und er rechtfertigte das vor seinem entgeisterten Freund Atticus mit so verräterischen Sätzen wie: „Ich werde doch auch einmal an mich selber (…) denken dürfen.“ Voll von Gejammer und von Wankelmut, wirft ihm Petrarca vor, seien Ciceros private Briefe. Vom großen Lehrmeister würdigen Alterns bleibe als realer Cicero