1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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letztem Buchprojekt, um den Bestseller-Autor des letzten Jahres dort abzuholen, wohin seine Gedanken vermutlich schweifen mochten.“

      Rathenau lachte. Sein 1917 veröffentlichtes Buch Von kommenden Dingen wurde bis Weihnachten mehr als fünfzigtausend Mal verkauft. Die Berliner Presse feierte den Autor als feinfühligen Philosophen, der über gehörige Bodenhaftung verfüge.

      „Das Lob aus deinem Munde freut mich besonders, Gustav. Ich vermute, dass meine Themen doch noch etwas weiter von der realen Welt des Jahres 1918 entfernt sein mögen als deine Dinge.“

      „Ich bringe es schnell auf den Punkt, Walther.

      Ding Nummer eins ist der Friede mit Russland. Ich telefonierte vor nur einer halben Stunde mit Oberst Bauer, Ludendorffs Vertrautem in Spa. Dort wird es jetzt ernst. Unsere Truppen werden im Osten wieder vorrücken. Dann bricht Lenins Widerstand am Verhandlungstisch zusammen und Deutschland wird herrschen über Europa von Finnland bis zur Ukraine.

      Ding Nummer zwei sind Wilsons 14 Punkte. Da hast du selbstverständlich richtig vermutet, wie sehr mich diese Friedensinitiative beschäftigt. Wenngleich das Reich diesen Plan nicht annehmen kann, enthält er einzelne Punkte, auf die wir zurückkommen werden, wenn Deutschland den Zeitpunkt für gekommen hält, um Frieden zu schließen.

      Und Ding Nummer drei, was ist das? Das ist meine feste Absicht, mein Vertrauensverhältnis zu Kronprinz Wilhelm zum geeigneten Zeitpunkt in die Wagschale zu werfen, damit unser Reich den Frieden nicht doch ohne besseres Wissen verspielt!“

      Walther Rathenau hat mir offenbar aufmerksam zugehört. Ohne zu zögern antwortet er mit einer unüberhörbaren Süffisanz.

      „So, so, lieber Gustav. Du hast also in den letzten Tagen deine nun wirklich allerbesten Beziehungen mal wieder spielen lassen und dich bei der OHL und, wer weiß, vielleicht sogar noch beim Kronprinzen direkt nach der Großwetterlage erkundigt. Und jetzt hat sich allmählich ein schlauer Plan in deinem Kopf formiert. Der erhält indes erst seine letzten Weihen, wenn du diesen Plan deinen treuen Freunden Albert und Walther zum Fraß vorgeworfen hast. Und ich will nicht ausschließen, dass du es mit deinen demokratischen Freunden Erzberger und Haußmann ähnlich hältst. Nur Scheidemann wird von dir wohl nicht die ganze Wahrheit zu hören bekommen.

      Doch um mich nicht misszuverstehen. Ich finde es absolut toll, dass es dich danach verlangt, mit Albert und mir zu sprechen. Unsere Namen klingen zwar in der Wirtschaft gut, doch in so harten Zeiten wie den unsrigen hat der Vorsitzende der strategisch wichtigsten Reichstagsfraktion uns Pfeffersäcken etwas Unglaubliches voraus: Auf dein Urteil, auf deine Unterstützung sind sie alle angewiesen! Die Sozen wie die Ultramontanen, die Militärs wie der Reichskanzler und selbst dein Vertrauter Kronprinz Wilhelm benötigt für Argumente, die bei seinem alten Herren durchschlagen, den guten Klang des Namens Stresemann. Lieber Gustav, es macht Spaß, dein Freund zu sein.“

      Ich bin beschämt. Walther tut gerade so, als wäre ich die Macht, an der in Deutschland keiner vorbeikäme. Und dabei empfinde ich es ganz anders: Ich bin zwar die Spinne im Netz der Interessen, weil sie alle mit mir reden, mich gewinnen wollen. Aber ich habe deshalb überhaupt noch keine Vetomacht, um einen Alleingang der Konservativen, der Militaristen, der Alldeutschen und der Expansionisten in den Reihen der Schwerindustrie aufzuhalten, falls all jene Gruppen es vermöchten, sich mit dem Kaiser, dem Kanzler und dem Generalstab zu verbünden!

      „In Wahrheit, lieber Walther, liegen Macht und Ohnmacht so gefährlich nahe beieinander, dass bei deiner Lobhudelei auf meine Wichtigkeit vielleicht doch eher der Wunsch Vater des Gedankens ist, als dies die Realität im Kaiserlichen Deutschland des beginnenden Kriegsjahres 1918 abbildet.“

      „Nehmen wir zu Gunsten deines scharfen Verstandes, Gustav, leider einmal an, dass du Recht hast, um so viel mehr wird es für Albert und mich eine Herausforderung sein, dich nach bestem Wissen und Gewissen zu beraten. Ein weitsichtiger Friede, der Deutschland Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet, ist schließlich das höchste Gut!“

      Tatsächlich sitzen wir drei Freunde nur zwei Tage später um 16.30 Uhr im Wintergarten von Walther Rathenaus Haus in Grunewald, blicken in einen malerisch verschneiten Garten, lauschen dem leisen Knistern des Kaminfeuers und genießen bei einer Tasse Tee ein herrliches Stück Apfelstrudel. Wir sind überaus gut gelaunt. Die Erwartung des Friedensschlusses mit Russland verbreitet Optimismus. Erstmals seit September 1914 tut sich plötzlich wieder die handfeste Perspektive auf, dass Deutschland den Krieg gewinnen kann. Wir schwadronieren über die bekanntermaßen etwas behäbige, aber nichts desto weniger zielstrebige Verhandlungsführung des Generals Max Hoffmann, tatkräftig und clever unterstützt vom Staatssekretär des Äußeren Richard von Kühlmann. Wir sind uns einig, dass der einseitige Friedensschluss der Mittelmächte mit der Ukraine Trotzki und Lenin endgültig zur Aufgabe zwingt, sobald unsere Truppen auch nur wieder die ersten Kilometer vorgerückt sein werden. Plötzlich wissen wir aber auch ganz genau, dass die politische, militärische und selbst die wirtschaftliche Hegemonie des Reiches über Mittel- und jetzt auch Osteuropa kaum ausreichen dürfte, um die Weltmachtstellung der größten Industrienation Europas auf Dauer abzusichern. Viel zu bedeutsam sind die Märkte jenseits unserer Frontlinien, insbesondere Frankreichs, Großbritanniens und der USA, um unseren modernen Exportindustrien ohne dortige Präsenz die Weltmarktführerschaft zu gestatten. Das mag zwar den Herren Stinnes und Hugenberg reichlich egal sein, weil für ihre Industrien der europäische Absatzmarkt ausreichend erscheinen kann. Für Elektro und Chemie, für die Handelsflotte und die Banken aber gilt das nicht! Albert, Walther und ich stellen sofort darauf fest, dass diese unsere Sichtweise eine krasse Minderheitenmeinung in Deutschland sein wird. Wir öffnen uns für die brutale Wahrheit, dass die alten Eliten und dass die breite Öffentlichkeit ebenfalls gar nicht einsehen mögen, dass Deutschland viel nötiger freie Weltmärkte als große, öde Kolonien im menschenleeren tropischen Regenwald oder den Savannen Mittelafrikas benötigt. Diese Erkenntnis mutet leider viel zu abstrakt, zu volkswirtschaftlich gedacht, zu klar auf die Zukunftsbranchen als auf die dominierenden Industrien der Jetztzeit ausgerichtet an. Mit einem Mal begreifen wir, dass wir drei verdammt mächtige Verbündete benötigen werden, um die alten Eliten im Heer, in der Regierung, im diplomatischen Dienst, in den alten Industrien an der Ruhr und in Schlesien im entscheidenden Moment zu übertrumpfen. Jener Zeitpunkt wird dann gekommen sein, wenn Seine Majestät der Kaiser und sein Reichskanzler zu entscheiden haben werden, ob sie weiter unsere gesamte nationale militärische Macht in den Kampf im Westen werfen wollen oder ob sie einen überraschenden, kreativen, fairen, auf Zukunft gerichteten eigenen Friedensplan offerieren werden, vor dem die Welt dann verblüfft ausrufen wird: Wau! Das hätten wir dem alten, militaristischen Preußen-Deutschland nicht zugetraut, dass es einen Weltfrieden erstrebt, der allen Völkern ihre Chancen bietet.

      Es ist bereits nach 18 Uhr, als Walther uns auf die 14 Punkte Wilsons stößt. Er bittet um unsere Aufmerksamkeit für seine Schilderung des Besuchs, den er bei Graf von Bernstorff am 28. Dezember in Potsdam abstattete. Der vormalige deutsche Botschafter in Washington D.C. hatte im Dezember die Ostküste der USA bereist. Von Boston über New York führte ihn sein Weg zu alten Freunden, Bekannten und Geschäftspartnern. Deutsche und englische Kaufleute befanden sich ebenso darunter wie amerikanische Staatsbürger, vornehmlich aus der wirtschaftlichen Elite Neuenglands. Schon vor seiner Reise hatte Graf von Bernstorff das Gespräch mit Rathenau und Ballin gewünscht und gesucht, um aktuelle Eindrücke von den politischen Verhältnissen im Reich mitzunehmen. Walther Rathenau erwähnte dies mir gegenüber vor Weihnachten nur beiläufig, so dass ich Bernstorffs Reise keine weitere Beachtung geschenkt hatte. Doch heute, nach der Verkündung der 14 Punkte durch Präsident Wilson, war mein Interesse naturgemäß groß.

      „Der Graf schien aufgeblüht zu sein, weil er an seine alte Wirkungsstätte kurzzeitig zurückkehren durfte. Frohen Mutes erzählte er mir davon, wie schlecht es um Englands Kriegsindustrie stehe. Aber leider schilderte er ebenso überzeugend, dass die Rüstungslieferungen und die Truppenentsendungen der Vereinigten Staaten seit dem Herbst 1917 die Schwäche der Briten und Franzosen mehr als auszugleichen vermochten.

      Bernstorffs Gesprächspartner erkundigten sich sehr neugierig nach der Stärke von Deutschlands Rüstung. Die Kaufleute und Bankiers wollten dann vor allem wissen, wie eine vom Reich gestaltete Wirtschafts- und Zollunion für den Kontinent denn nun aussehen werde. Würden Briten und Amerikaner