1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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der wie ein moralisches Fanal an die Krieg führenden Völker appelliert. Wenn schon der Inhalt seiner Friedensinitiative der Realpolitik und den diplomatischen Gepflogenheiten hohen Tribut zollt, so soll doch die Inszenierung für die Weltöffentlichkeit keine Wünsche, nämlich keinen seiner eigenen Wünsche offen und vor allem keinerlei Ansprüche der Verbündeten in London und Paris an demokratisch-freiheitlichem Pathos unerfüllt lassen. Louis Brandeis spricht laut denkend und bezeichnet eine Konferenz für die Washingtoner Presse als viel zu wenig. Edward House sinniert darüber, eine große Zahl geladener Gäste zu versammeln und ihnen die 14 Punkte vorzutragen. Dem Präsidenten gefällt das alles noch nicht.

      „Am kommenden Dienstag nimmt der Kongress zum Jahresbeginn wieder seine Plenarsitzungen auf. Wie wäre es denn, wenn wir, die Ritter der Demokratie in diesem Krieg, vor dem amerikanischen Parlament das neue Friedensangebot offerierten? Die Idee ist schon ganz gut, aber so eine gewöhnliche Sitzung des Abgeordnetenhauses allein genügt mir eigentlich noch nicht.“

      „Setz doch eins drauf, Woody. Lade doch das Abgeordnetenhaus und den Senat zu einer gemeinsamen Sitzung ein. Was könnte es Erhabeneres geben als Symbol und Repräsentation der amerikanischen Demokratie, als dass der Präsident vor beiden Kammern des Kongresses spricht!“

      Der Vorschlag von Edward House wird sofort vom Präsidenten und auch von Louis Brandeis für gut befunden und angenommen. Für heute sind die drei Freunde sehr mit sich, mit dem Outcome ihres Treffens, ihrer Arbeit zufrieden. Es folgt die Verteilung der Aufgaben unter Einbezug des persönlichen Referenten des Präsidenten sowie seiner Sekretärin. Erst um 19 Uhr fühlt sich Woodrow Wilson von der Last der Vorbereitungen befreit, deren Organisation noch zwischen ihm und seiner Rede vor dem Kongress am 8. Januar gestanden hat.

      Nachdem seine Mitarbeiter das Oval Office verlassen haben, bleibt der Präsident noch eine kurze Weile am Schreibtisch sitzen. Sein Blick richtet sich scheinbar starr auf die gegenüberliegende Wand, von der aus Woodrow Wilson der Staatsgründer George Washington von einem Porträt in stolzester Haltung anlächelt. Ganz unmerklich, dann klar und deutlich legt sich auch ein Lächeln auf seine Züge. Leise murmelt er nur für sich:

      „Wir Amerikaner waren doch immer schon selbstbewusst genug, in guter Partnerschaft, aber doch auch im Eifer, unseren eigenen Weg zu finden, den Europäern einfach nicht alles so selbstverständlich nachzumachen!“

      Jetzt greift der Präsident zu seinem schweren, schwarzen Füllfederhalter mit der weichen, breiten Miene. Als letzte Zeilen für seinen baldigen Auftritt vor dem Kongress schreibt er in fein säuberlicher Handschrift auf ein blütenweißes Blatt Papier, so dass er selbst kaum das Streichen der Füllermiene über die Blattoberfläche zu hören vermag:

      „… Wir hegen keine Missgunst gegenüber deutscher Größe. Und da befindet sich nichts in diesem Programm, das sie schmälert.

      Wir wünschen sie nicht zu beeinträchtigen oder in irgendeiner Weise den legitimen Einfluss und die Macht der deutschen Nation zu hemmen.

      Wir streben nicht danach, weder mit Waffengewalt noch mit gegen sie gerichteten Handelsverträgen, deutsche Größe zu bekämpfen. Das gilt, falls die deutsche Nation willens sein möge, sich ihrerseits mit uns und den übrigen den Frieden liebenden Nationen der Erde zu verbinden in einem Vertragswerk, das gekennzeichnet ist von Gerechtigkeit, Recht und einem Achtung gebietenden Umgang miteinander.

      Wir wünschen uns, dass die deutsche Nation einen Platz der Gleichheit unter den Völkern der Erde akzeptieren möge, der neuen Welt, in welcher wir jetzt bereits leben, anstelle eines Platzes der Herrschaft, der Überlegenheit.“

      Mit diesem breiten Lächeln, voller Gelassenheit, voller Selbstzufriedenheit und Gewissheit, das unbedingt Richtige zu tun, schraubt Woodrow Wilson die Schutzkappe auf seinen Füllfederhalter und lässt sich ganz allmählich und entspannt in das tiefe Sitzpolster und in die hohe Rückenlehne seines Schreibtischsessels sinken.

      7 Friede mit Russland

      Wie durch einen schweren dunklen Schleier, der im Wind schwingt, nehme ich Bewegung vor meinen Augen wahr. Es treten Geräusche hinzu. Augenscheinlich ist mein Patientenzimmer randvoll mit Ärzten und Pflegepersonal gefüllt, die sich in mehr als nur Zimmerlautstärke unterhalten. Ich selbst bin ganz ruhig, so als bräuchte ich zum Leben nicht einmal mehr die rudimentärsten Körperfunktionen, wie das Atmen oder das Schlucken oder das Schlagen der Augenlieder. Als Nächstes geht mir auf, dass diese Untätigkeit nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein muss. Ich zwinge mich dazu, meine Erinnerung an Wilsons Erzählung über den Januar 1918 hinter mir zu lassen und in die Gegenwart des Septembers 1929 einzutauchen. Am besten wird wohl sein, Sinn erfassend den Gesprächsfetzen der eifrig um mein Wohlergehen besorgten Beschäftigten der Charité etwas Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz allmählich schälen sich aus dem Geräuschwirrwarr die Stimmen von Professor Kraus und des jungen, freundlichen Stationsarztes heraus. Eine dritte Stimme erkenne ich. Es ist diejenige der resoluten Oberschwester, die dennoch nichts militärisches an sich hat. Kraus verlangt danach, dass man ihm Infusionen aufziehe und reiche. Der Stationsarzt misst scheinbar unaufhörlich und abwechselnd meinen Puls und Blutdruck. Die Oberschwester gibt knappe, präzise, dabei kaum laut geäußerte Anweisungen an das übrige Pflegepersonal im Raum. Aus einem Satzfetzen entnehme ich die Information, dass wir uns am späten Nachmittag des 30. Septembers befinden. Somit ist es einen Tag her, dass der Kaiser mich hier in der Charité besuchte.

      Ganz vorsichtig öffne ich erst das linke, dann das rechte Auge. Mir starrt Kraus ins Gesicht. Auf mich wirkt es durchaus emotional und erleichtert als er ausruft:

      „Herr Reichsaußenminister! Wie schön es ist, ihnen wieder in die wachen Augen blicken zu dürfen! Wir waren bisweilen nicht sehr hoffnungsvoll. Sie drohten uns zu entgleiten, denn, nun ja, sie hatten einen schweren Schlaganfall und wir mussten sie reanimieren. Bitte sorgen sie sich jetzt um überhaupt nichts, sondern erholen sie sich und kommen sie ein wenig wieder zu Kräften. Wir werden unentwegt ihre Körperfunktionen überwachen und sie mit Medikamenten versorgen, die das Herz-Kreislaufsystem so gut wie möglich stabilisieren werden.“

      Ich lächele Professor Kraus an und möchte etwas sagen. Doch dies gelingt mir nach schmaler Öffnung der Lippen nicht. Mein Lächeln erstirbt.

      „Ganz normal, ganz normal, lieber Doktor Stresemann. Das sind Wortfindungsstörungen, wie sie nach jeder Art der neurologischen Abnormalität auftreten, oftmals nur kurzzeitig. Die Sprache kommt am schnellsten wieder, wenn sie sich jetzt selbst so umfassend wie möglich schonen.“

      Professor Kraus blickt den Stationsarzt an. Der wendet sich sogleich an mich.

      „Wir haben ihre Gattin umgehend verständigt, Herr Reichsaußenminister, nachdem wir ihren Schlaganfall in den frühen Morgenstunden diagnostizierten. Sie wollte gleich kommen. Auf Anraten des Herrn Professors konnte ich sie allerdings davon überzeugen, dass es ihrem Gesundheitszustand mehr zum Wohle gereiche, wenn wir hier zuerst einmal unsere Arbeit leisten, sie betreuen und stabilisieren. Anschließend ist der Zeitpunkt für Besuch wieder gekommen. Schlafen sie sich jetzt erst einmal einige Stunden aus. Das entspannt. Wenn sie dann aufwachen, werden wir ihre Gattin fernmündlich unterrichten und ihr gerne die Möglichkeit einräumen, ins Klinikum zu ihnen zu gelangen.“

      In meinem Kopf formt sich mühsam die Frage: Nur meine Frau verständigt? - Aussprechen kann ich die Worte nicht. Vielleicht sahen meine Gesichtszüge gerade eben verzweifelt oder ringend aus. Das genügte offenbar der Oberschwester, um annähernd zu erahnen, welcher Gedanke mir kam. In einem sehr kurzen Blickkontakt holt sie sich das Einverständnis des Chefarztes ein zu sprechen.

      „Es haben weitere Personen in den letzten Stunden angefragt, ob sie Besuch empfangen könnten. Wir haben das selbstverständlich zu ihrem Wohle zurückgewiesen. Die fraglichen Personen waren ihr Sohn Wolfgang und erneut Seine Majestät, Herr Reichsaußenminister. Der Chef des Zivilkabinetts Seiner Majestät brachte die übergroße Ungeduld Seiner Majestät zum Ausdruck und trug uns auf, ihnen im Moment der Rückkehr ihres Bewusstseins die allerherzlichsten Wünsche zur Genesung auszurichten.“

      Ich danke der Oberschwester mit einem kaum sichtbaren Nicken, einem deutlich kontrollierter ausgeführten Wimpernschlag und einem Hauch von Lächeln um meine Mundwinkel.