1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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in der Erwartung baldiger Arbeiterunruhen auch bei uns im Reiche. Und auf die Frage nach den Friedensbedingungen, die seine Regierung zu akzeptieren bereit sei, geht er mit keinem Sterbenswörtchen ein. Genauso schlimm ist indes, dass die Arbeiter im Industriegebiet an der Ruhr tatsächlich in vielen Werken mit der heutigen Frühschicht in den Ausstand getreten sind. Ich versicherte mich darüber gleich fernmündlich. Die Zentralverwaltung der Gutehoffnungshütte in Oberhausen wusste schon von Arbeitsniederlegungen bei Thyssen in Hamborn und bei Hoesch in Hörde. Auch bei Krupp soll es los gehen. Nur bei der GHH selbst blieb alles vorläufig noch ruhig.“

      „Herr Oberst, wir werden uns gleich in der Sitzung genügend Zeit nehmen, uns über die Bedeutung der Ereignisse, die weltweit seit Jahresbeginn eingetreten sind, auszutauschen. Bitte tragen sie ihre Erkenntnisse dann ebenfalls vor. Ich selbst werde zu Beginn einen Überblick geben zum Kronrat in Potsdam am 3. Januar und natürlich zur Rede des amerikanischen Präsidenten von gestern.“

      Geradezu verächtlich blickte der Oberst mich an. Seine Mundwinkel klappten ebenso nach unten wie seine rechte Hand.

      „Dieser Wilson hält sich wohl für allmächtig, dass er sich herausnimmt, der ganzen Welt Vorschriften über den Frieden machen zu wollen. Ich plädiere sehr dafür, diesen Träumer nicht all zu ernst zu nehmen. Wenn unsere Truppen im Frühling die französischen Stellungen an der Marne überrennen werden, sind Wilsons 14 Punkte nicht mehr als eine knappe Fußnote in der Geschichte des letzten Kriegsjahres 1918.“

      Von Gilsas abfällige Einschätzung zur Friedensbotschaft des US-Präsidenten erwies sich als vielsagendes Omen für die anschließende Sitzung. Der rechte Flügel meiner Fraktion begrüßte den Kronrat und vor allem sämtliche Beschlüsse hin zu einem Siegfrieden mit Russland und einer anschließenden Offensive im Westen überschwänglich. Aus dieser Stimmung heraus fiel die Ablehnung der 14 Punkte Wilsons kategorisch aus. Seine Vorschläge zu Elsass-Lothringen und Polen genügten der Mehrheit leider bereits, um die Unverhandelbarkeit festzustellen. Ich hatte mir vor der Sitzung fest vorgenommen, neben meiner Kritik auch Anerkennung für einzelne Inhalte und schon aus grundsätzlichen wie taktischen Gründen selbst für die diplomatische Offenheit mancher Formulierung auszudrücken. Als ich damit begann, unterbrachen mich gleich mehrfach besonders hitzige Abgeordnetenkollegen. Oberst von Gilsa gar rief in die Runde hinein, die vaterländische Gesinnung aller Reichstagsfraktionen werde sich jetzt daran beweisen, wie kompromisslos ihre Ablehnung der Wilsonschen Inhalte ausfiele. Im Ergebnis schwächte ich meine Ausführungen ab und beließ es bei vorsichtigen Hinweisen auf den Nutzen solch weicher Ziele, wie sie der US-Präsident nunmehr vertrete. Zum Abschluss der Beratung erklärte ich meinen Kollegen, dem Herrn Reichskanzler sogleich die Haltung der Fraktion mitzuteilen und eine eigene Pressemitteilung herauszugeben. Meine Ausführungen wurden dann zu einem guten Stück davon überholt, dass unser Pressesprecher den Raum betrat und mir einen Zettel reichte mit der kurzen Notiz: Das Reichskabinett lehnt die 14 Punkte von Wilson ab!!! Ich beendete die Fraktionssitzung nach einem denkbar knappen Bericht über die Festlegungen des Kronrats vom 3. Januar in dem Bewusstsein jetzt Wichtigeres zu tun zu haben.

      Sogleich darauf bat ich meine Sekretärin, bei der Fraktion des Zentrums nachzufragen, ob Herr Erzberger heute im Hause sei. Da die Ultramontanen erst am folgenden Tag ihre Sitzung abhielten, erhielt ich Gelegenheit, mit dem Vorsitzenden des Zentrums nur 25 Minuten später in seinem Büro einen Kaffee zu trinken. Die Zwischenzeit genügte, um den Chef der Reichskanzlei fernmündlich über den Beschluss meiner Fraktion zu unterrichten. Reichskanzler Graf Hertling werde schon übermorgen vor dem Reichstag eine Regierungserklärung abgeben, lautete die Botschaft. Darin erführen zwei Positionen eine große Betonung: Die Ablehnung der 14 Punkte und weiter der erklärte Wille der Reichsleitung, schnell und notfalls mit Druck den Frieden im Osten zu erzwingen. Dann schlenderte ich durch die Flure zum Zentrum. Matthias Erzberger sah mich weniger triumphierend als vielmehr besorgt an, als er sagte:

      „Sie werden es heute nicht geschafft haben, lieber Stresemann, die Annexionisten in ihren eigenen Reihen zu zügeln und eine nüchterne Prüfung der Initiative des amerikanischen Präsidenten zuzulassen. So sehr ich das natürlich bedauere, ebenso sehr fühle ich mich darin bestätigt, dass man mit den Herrschaften der Schwerindustrie keine von Verantwortung für die Zukunft getragenen Kompromisse zur Erreichung des Weltfriedens finden wird. Entweder sie klagen mir jetzt ausführlich ihr Leid, oder wir grübeln ein wenig darüber, welche Aussichten der Friede im neuen Jahr womöglich noch erhalten wird.“

      Diese Aufforderung nahm ich gleich dankend an.

      „Wilson geht in einigen für das Reich sehr substanziellen Fragen erheblich über ihre Friedensresolution vom letzten Juli hinaus, Kollege Erzberger, weil er den Mut aufbringt, konkreter zu werden.“

      Der nickt und starrt versonnen an die Wand.

      „Ein Frieden ohne Sieger, wie ihn die Amerikaner proklamiert haben, als sie noch nicht im Krieg gegen uns standen, ist heute so leicht nicht mehr zu bekommen. Trotzdem finde ich mich in einigen der Forderungen Wilsons wieder. Das mag ein Anfang sein um darüber nachzudenken, welche Chancen die Diplomatie in den nächsten Monaten noch erhält. Schließlich dürfen weder wir noch die Entente darüber hinwegsehen, dass vor Verhandlungen nicht auch zugleich unüberbrückbare Widersprüche bestehen bleiben.“

      Es klopft an der Türe. Matthias Erzberger ruft lässig herein, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. Ich sehe zur Türe, durch die jetzt Conrad Haußmann seinen Kopf ins Zimmer hinein steckt. Er blinzelt uns an und lächelt dabei geradezu amüsiert.

      „Als ich eben hörte, die Kollegen Stresemann und Erzberger in trauter Zweisamkeit zusammen hockend anzutreffen, musste ich es einfach wagen. Ist für mich auch noch eine Tasse Kaffee übrig?“

      Erzberger bittet den Fraktionsvorsitzenden der Fortschrittspartei herzlich herein.

      „Anders als der Kollege Doktor Stresemann sind wir beide, Conrad, uns doch wohl einig, dass man dem Friedensplan des amerikanischen Präsidenten durchaus und mit gutem Willen etwas abgewinnen mag?“

      „Gewiss, Matthias. Etwas, das ist der richtige Zungenschlag. Wilsons Plan jetzt nicht gleich in Bausch und Bogen zu verwerfen, das wäre schon etwas. Aber ich höre eben, Hertling habe die 14 Punkte vollständig abgelehnt. Ich denke, die Stunde der Demokraten ist in dieser Angelegenheit noch nicht gekommen. Und was ist mit Russland und den Streiks im Ruhrgebiet? Zwingt uns nicht all das, diese neue Konstellation bedeutender Ereignisse dazu, als die treibenden Kräfte des Reichstags selbst wieder tätig zu werden?“

      Erzberger streckt die Finger seiner linken Hand leicht abwehrend und mit einer nach oben gerichteten Spreizung aus.

      „Ich habe mir letzten Juli schon gehörig die Finger verbrannt, meine Freunde. Was glaubt ihr eigentlich, dass die Lage jetzt einfacher wird? Der Reichskanzler und die OHL scheinen sich einig zu sein, dass es jetzt nicht um Frieden, sondern um Angriff geht. Kollege Stresemann weiß sicher mehr darüber, wie der Kronrat entschieden hat. Das ist jetzt eine Weichenstellung!“

      „Der Schlüssel liegt in Russland, wehrte Kollegen. Ich weiß vertraulich von einem der Teilnehmer, dass unser Ostheer bei Bedarf den Druck auf die Russen erhöhen wird, um den Frieden zu erzwingen und sich dann gegen Westen zu wenden.“

      „Nicht mit mir, lieber Doktor Stresemann! Das Zentrum hat endgültig genug davon, an Stelle einer ehrlichen Friedensofferte unserer eigenen Regierung stets neue Ausflüchte zu hören, wie nun der Sieg erfochten werden könne. Ich traue Ludendorff da keinen Zentimeter weit mehr über den Weg. Die OHL verbreitet so konsequent Optimismus, dass die Herren Generäle gar nicht bemerken, wo ihr eigener Selbstbetrug beginnt!“

      In mir steigt Hitze auf. Nur das nicht! Dass die Mehrheit des Reichstags bereits vor der Westoffensive die Lage im Reich destabilisiert, wäre eine Katastrophe. Das Reich braucht jetzt zuerst den Sieg im Osten und einen machtvollen Auftritt im Westen, bevor ein Verhandlungsfriede in Sicht kommt, der irgendwo zwischen Erzberger, Wilson und Hertling angesiedelt ist. Für unsere Aussichten auf die Erreichung dieses Friedens wäre es unzweifelhaft besser, wenn nicht auch noch Stinnes seinen Einfluss geltend machen könnte.

      „Lieber Kollege Erzberger, ich teile persönlich ihre Hoffnung darauf, dass Wilsons Worte auch konstruktive diplomatische Ansätze