1918 - Wilhelm und Wilson. Magnus Dellwig

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Название 1918 - Wilhelm und Wilson
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683647



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England und Frankreich begreifen, dass der Frieden allein zu ihren Bedingungen nicht zu haben ist.“

      „Damit wäre ich noch einverstanden, wenn ich nicht genau wüsste, dass Hindenburg und Ludendorff einzig und allein für den Angriff im Westen planen. Die Junker und die Militärs wollen keinen Friedenskongress! Falls sie mir nur versichern könnten, dass unsere Regierung Frieden schließt statt unsere Truppen im Sommer im Westen sich ausbluten zu lassen. Ja dann würde ich ernsthaft darüber nachdenken, hinter den Kulissen für jenen Tag X eine neue, große Friedensinitiative des Reichstags vorzubereiten.“

      „Da bin ich mit dem Fortschritt sofort dabei, lieber Matthias. Ob aber unser Freund Stresemann das für seine Fraktion auch versprechen kann, was du da von ihm verlangst? Ich glaube kaum.“

      Ich fühle mich trotz der sehr offenen Atmosphäre, der guten Gesprächsstimmung unwohl. Natürlich hat Erzberger Recht. Ich wünsche mir, dass die Reichsleitung im Westen flexibel und moderat auftreten wird, statt alles auf den Angriff zu setzen. Ich will mit Kronprinz Wilhelm darüber sehr bald sprechen. Denn ich spüre, dass es ohne seine Mitwirkung, seinen Einfluss auf den Kaiser und auf Ludendorff keine Chance für meine Perspektive auf ein Kriegsende ohne totalen Sieg geben wird.

      Am 18. Januar verließ Leo Trotzki die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk, nachdem er mit dem deutschen Verhandlungsführer General Max Hoffmann eine Verhandlungspause vereinbart hatte. Am darauf folgenden Tag löste die Regierung der Bolschewiki in Petrograd die russische Konstituierende Versammlung auf. In dieser erst am 25. November gewählten, Verfassung gebenden Versammlung hatten die Bolschewiki nur 20 Prozent der Sitze errungen. In den sich zwangsläufig anschließenden Turbulenzen brachte Trotzki Lenin dazu, die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk seitens der russischen Delegation ohne Einigung zu verlassen. Nur zu dem Zweck, dies dem Gesprächspartner mitzuteilen, kehrte er am 30. Januar nach Brest zurück. Die Januarstreiks in Deutschland und Österreich ermunterten die russischen Revolutionäre, noch weitgehender auf Verzögerung statt auf einen Abschluss zu setzen. Dazu nutzte Trotzki das Instrument, Gespräche abzulehnen, bei denen zugleich die ukrainische Delegation zugegen war. Doch seine Taktik scheiterte, als die Volksrepublik Ukraine am 9. Februar einen Separatfrieden mit den Mittelmächten schloss. Damit war die Hinhaltetaktik nicht mehr fortzusetzen. Also wählte Trotzki die propagandistische Offensive. Einseitig erklärte er den Kriegszustand mit Deutschland und Österreich-Ungarn am 10. Februar für beendet. Die Oberste Heeresleitung ermächtigte General Hoffmann daraufhin, sofort mit der Wiederaufnahme von Kampfhandlungen zu drohen, falls Russland Verhandlungen weiterhin ablehne. Davon unbeeindruckt tat Trotzki nichts. In dieser Lage telefonierte ich am 12. Februar mit Oberst Bauer im großen Hauptquartier der OHL in Spa.

      „Die herzlichsten Grüße von Herrn Generalquartiermeister Ludendorff möchte ich bestellen, Herr Doktor Stresemann. Es ist uns von der OHL ein inniges Bedürfnis, mit ihnen als dem unbestrittenen Rückgrat vaterländischer Politik im Reichstag in diesen Tagen großer Ereignisse in direktem Kontakt zu stehen. Auch Herr Generalfeldmarschall von Hindenburg dankt ihnen und ihrer Fraktion nachdrücklich für die tadellose Haltung der Nationalliberalen in den zurückliegenden, schwierigen Wochen der großen Streiks. Dass wir den Arbeitsfrieden in der Industrie wieder hergestellt haben, ist die zwingende Voraussetzung für alles Kommende. Und ich versichere ihnen, Herr Doktor Stresemann, endlich geht es los!“

      „Sie sind sehr aufgeräumt, Oberst Bauer. Und sie machen mich natürlich neugierig. Ich denke kaum, dass es im Westen nun los geht. Gibt es neue Direktiven für General Hoffmann im Osten?“

      „So ist es. Trotzki ist aus Brest abgereist und tut so, als könnte er einseitig einen Frieden ohne Annexionen verkünden. Heute hat die Oberste Heeresleitung General Hoffmann zu einem geheimen Treffen in Spa geladen. Morgen schon wird er hier sein. Dann werden wir verabreden, wie genau die deutsche Ankündigung ausfällt, den Kampf wieder aufzunehmen. Lieber Herr Doktor Stresemann, ich garantiere ihnen: Spätestens in einer Woche haben wir den Waffenstillstand aufgekündigt. Dann setzen wir den Vormarsch in die Ukraine fort und besetzen das gesamte Baltikum bis zur russisch-estländischen Grenze kurz vor Petersburg! Und dann müssen die Russen aufgeben. Da gibt es keinen Zweifel!“

      „Wahrscheinlich haben sie Recht, Oberst Bauer. Wenn wir wieder vorrücken und Trotzki keine Truppen mobilisieren kann, um uns aufzuhalten, wird Lenin Frieden schließen. Und dann, dann endlich werden die Divisionen frei, die Herr Generalfeldmarschall von Hindenburg so dringend in Frankreich benötigt. Aber wie sieht der Friedensvertrag aus, den General Hoffmann dem reumütig nach Brest zurückkehrenden Trotzki vorlegen wird?“

      In der Leitung tritt eine Pause ein. Ich höre für Sekunden nur ein von unregelmäßigem Knacken unterbrochenes Grundrauschen. Dann raschelt im Hintergrund Papier.

      „Der Frieden mit der Ukraine vom 9. Februar ist eine Weichenstellung, Herr Doktor Stresemann. Wir erklären Russland zu dem Staat, der in Europa im Wesentlichen auf die Grenzen eines russischen Nationalstaats zurückgeworfen wird. Selbstverständlich für sie und für mich ist es, Polen, Litauen und Kurland aus dem vormaligen Zarenreich herauszulösen. Doch jetzt, in der Stunde des Triumphes, gehen wir natürlich weiter: Wir werden Livland und Estland ebenfalls herauslösen. Damit bekommt das Baltikum die Chance, mit einer deutschen Führungsschicht kleine Nationalstaaten zu bilden, die in Union mit der preußischen Krone regiert werden. Finnland wird ebenso von Russland getrennt wie die Ukraine und schließlich Georgien, um für Deutschland die Rohstoffe und die strategische Bedeutung des Kaukasus zu sichern. Sind sie nun beeindruckt von der Dimension unseres Erfolges?“

      Auch wenn mich der weite Bogen nicht sehr überraschte, in dem Oberst Bauer die deutschen Kriegsziele im Osten umriss, wirkte die Gesamtschau auf mich überaus eindrucksvoll. Das sagte ich dann auch.

      Was ich sehr bewusst verschwieg, bestand aus einem plötzlichen Einfall, der mich innerlich sogleich aufwühlte: Die Bildung einer hegemonialen deutschen Einflusssphäre von Finnland bis Georgien für sich allein betrachtet kam einem so unglaublichen Sieg gleich, dass unser Reich für den Fortgang der Ereignisse im Westen gut beraten war, den Erfolg zu sichern und keinesfalls durch überhand nehmende Ambitionen gegenüber einem immer mächtiger werdenden Feind zu gefährden. Hätte ich Bauer dies gesagt, so wäre meine Äußerung garantiert Generalleutnant Ludendorff zu Ohren gekommen. Und dieser hätte mich fortan für die vor uns liegenden Wochen und Monate der Westoffensive als einen unsicheren Kantonisten eingeordnet. Ludendorff mitsamt seinen Vertrauten Stinnes und Hugenberg wären womöglich nicht umhin gekommen, mich in ihrem durchaus einfach gestrickten Freund-Feind-Schema fortan als Gegner zu identifizieren, weil ich eben nicht zu jenen zählte, die ausschließlich den vollständigen militärischen Sieg im Westen als notwendige Bedingung für einen Friedensschluss ansahen.

      Stattdessen beglückwünschte ich die Herren Hindenburg, Ludendorff und Hoffmann zum baldigen Friedensschluss in Brest, ließ der Doppelspitze der OHL meine allerherzlichsten Grüße ausrichten und sagte die weitere parlamentarische Unterstützung für die Politik der zivilen wie der militärischen Reichsleitung zu. Oberst Bauer und ich verabschiedeten uns freundlich. Wir sahen ein baldiges Wiedersehen in der Reichshauptstadt voraus.

      Kaum hatte ich den Hörer in meinem Arbeitszimmer zu Hause aufgelegt, wählte ich wie in Trance die private Rufnummer meines Freundes Walther im Grunewald. Da es inzwischen nach 18 Uhr geworden war, vertraute ich darauf, ihn zu Hause und nicht bei der AEG anzutreffen. Walther Rathenaus Buttler nahm ab und stellte mich umgehend durch. Walther berichtete sogleich, was er gerade eben tue. Er saß im Salon vor dem brennenden Kamin und las in Immanuel Kants überwiegend in Vergessenheit geratener Schrift Zum ewigen Frieden. Walther zeigte sich in aufgeräumter Stimmung, erläuterte mir enthusiastisch, durch den Friedensplan des US-Präsidenten dazu motiviert worden zu sein, Kants Schrift erneut zu studieren. Schließlich sei ja nicht Wilson in 1917, sondern bereits Kant im Jahr 1795 der Erfinder jenes Bundes der Völker, den Wilson im Rahmen eines Friedensschlusses zu errichten gedenke.

      „Es ist wunderbar, wie sich die Bahnen unserer Gedanken immer wieder aufs Neue kreuzen, lieber Walther. Ich habe zwar nicht an Kant, aber um so mehr an Wilsons Plan und seine Folgen gedacht, als ich eben deine Rufnummer wählte. Hast du Lust, so schnell wie möglich mit Albert Ballin und mir ein Treffen in Berlin zu veranstalten und mit uns über die Weltlage zu debattieren?

      Ganz