Deutschland oder Jerusalem. Claus-Steffen Mahnkopf

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Название Deutschland oder Jerusalem
Автор произведения Claus-Steffen Mahnkopf
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783866742871



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      NATURELL

      Die meisten, die Francesca im öffentlichen Raum erlebten, würden sie als eine Sanguinikerin, eine Optimistin beschreiben. Und sie war es. Sie war eine Italienerin, eine Römerin, eine Frau des Mittelmeerraums, auch dann noch, wenn sie so deutlich deutsch war. Sie konnte lachen, strahlen, mit den Augen funkeln, sie konnte auf die Menschen zugehen, war präsent, direkt, sie konnte schauspielern, theatralisch sein. Ihr Auftreten hatte etwas von Inszenierung, nur daß es authentisch war. Es war ihre Lebendigkeit, ihr Feuer. »Love and compassion appeared to me as the most natural connection to the world«, erklärte sie einmal.

      Die Menschen beschrieben Francesca als warmherzig, gesellig, begeisterungsfähig, sympathisch, fröhlich, konzentriert, heiter, engagiert, klug, voller Zukunft, lebendig, quirlig und belegten sie mit Attributen wie Herzensgüte, Menschlichkeit, Liebenswürdigkeit, unbedingter Leidenschaft, Freude; es hieß, sie sei eine »eindrucks- und ausdrucksvolle Person ganz besonderer Art« gewesen; eine religiöse Stimme sprach von »einer von Gottes Wort durchdrungenen und bewegten Frau«. Ein hervorragender Menschenkenner unter den Komponisten beschrieb Francesca, die er nur ein paar Mal kurz erlebte, mit einer »Art Schweben«, als »einen Menschen voller Helligkeit und dabei von freundlichem Dunkel, etwas Ernstes und Heiteres zugleich war um sie …« Das trifft es.

      Die positiven Attribute dominieren. Aber sie decken nur eine Seite ab. Francesca konnte immer auch wieder zusammenbrechen, weinen, sich unter der Bettdecke verkriechen. Himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, das konnte sich rasch abwechseln. Ich habe Jahre erlebt, in denen sie auch deprimiert, ja depressiv war und Tabletten nehmen mußte. Dann strengte sie sich an, daß die Außenwelt davon nichts bemerkte, verlangte doch ihre Ethik den Respekt vor dem Anderen. In diesen Augenblicken war der Schatten ihrer Existenz ganz auf den Partner und die Familie gerichtet. Sie hat immer wieder betont, daß sie im Verhältnis zu mir die Pessimistin sei, und zwar sowohl was die private, ihre ganz persönliche Zukunft anbelangt, als auch die zukünftige Weltentwicklung. Andererseits ging sie wie selbstverständlich davon aus, daß die Menschheit eines Tages andere Planeten bewohnen wird, was ein hohes Maß an Zukunftsoptimismus unterstellt. Francesca, eine Frau voller Sehnsüchte, war extrem widersprüchlich. Das muß man immer im Auge behalten.

      Sergio war einer ihrer Lehrer am Gymnasium, ein sehr linker Römer mit großem Vermögen. Er entdeckte Francescas Hochbegabung, war von ihrer sozialkritischen Wachheit fasziniert und wurde ihr väterlicher Freund. (Genaugenommen war er der Lehrer für Maschinenschreiben, ein Fach, das er jedoch nicht beherrschte, was die Schulbehörde freilich ignorierte. So bat er Francesca, die diese Fähigkeit in kurzer Zeit erwarb, informell den Unterricht zu übernehmen, und bezahlte sie dafür aus eigener Tasche, womit diese wiederum, ganz typisch, Bücher kaufte.) Sergio sagte einmal, er habe in seinem ganzen Leben keine Frau kennengelernt, die wie Francesca zugleich so stark und so zerbrechlich sei. Das muß man wörtlich nehmen. Francesca war stark in ihren Ansichten und Handlungen. Aber sie konnte auch zusammenbrechen, und dies ziemlich unerwartet. Dann half nur, wie sie sagte, daß ich sie in den Arm nehme und einfach nur drücke. Francesca konnte eine beispiellose Empathie entwickeln. Als in der letzten Zeit wieder einmal in Israel eine Bombe hochging, schrieb sie sofort allen Freunden und Bekannten vor Ort und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Zugleich war Francesca nicht frei von Wutausbrüchen, auf die schwere Anschuldigungen folgen konnten, und Projektionen, die ihr Umfeld in ungebührlicher Weise belasteten.

      Wie erklärt sich dieses Doppelwesen? Sicherlich lag eine bestimmte charakterliche Grundprägung vor. Diese aber wird in der Entwicklung abgeschliffen oder verschärft. Wenn man mit der zartesten Poesie, den erhebendsten Romanen, der hehrsten Philosophie lesend und im Umfeld der weltweit beeindruckendsten Kunstschätze aufwächst, zugleich jedoch mit der politischen und gesellschaftlichen Realität eines durch und durch korrupten Landes, das Italien nun einmal ist, konfrontiert wird, stumpft man ab und läßt es mit der Literatur und den großen Gedanken oder, wie Francesca es tat, entwickelt diese eigentümliche, fast schizophrene Doppelexistenz, die viele an ihr bewunderten. Eine Doppelexistenz führen auch die Juden. Sie sind Teil der Gesellschaft und doch wieder nicht. Sie sind auserwählt, exklusiv, mit hohem universalistischem Impetus und zugleich eine Minderheit, die Haß auf sich zieht. Eine Doppelexistenz führte sie auch als Italienerin, die Deutsche wurde, und als Frau in einer immer noch von Männern dominierten Wissenschaftswelt. Eine Doppelexistenz führte sie als Kind, als sie nicht wie die anderen draußen spielte, sondern sich hinter ihren Büchern fast versteckte. Und natürlich führte sie eine Doppelexistenz als chronisch Kranke unter »Gesunden«. Doppelexistenzen befördern Komplexität, die sich bei Francesca als Vielseitigkeit und extreme Schnelligkeit artikulierte. Und es führt zum »humani nihil a me alienum puto« (»nichts Menschliches ist mir fremd«), wenn man das ganze Auf und Ab des Lebens durchmißt.

      Man denke aber nicht, daß Francesca mit der Welt eins gewesen wäre. Sie litt auch unter Einsamkeitsgefühlen, unter Verlassenheit, was selbst ich nicht immer ausgleichen konnte. Hinzu kam die Todesangst wegen des Diabetes. Manchmal schien sie wie verloren. Ich erinnere mich, wie sie einmal am Bahnsteig auf dem Berliner Hauptbahnhof auf mich wartete. Eine große Menschenmenge, nichts Ungewöhnliches. Und doch stand sie dort, als ob sie nicht dazugehörte, und erwachte zum Leben erst in dem Augenblick, als sie mich erblickte. Wieder eine Doppelexistenz. Als ob sie aus einer zweiten, nur ihr zugehörigen Welt gekommen wäre.

      Diese zweite Welt, verstärkt durch die diversen Doppelexistenzen, ist typisch für Sonderbegabungen, die – etwas kitschig formuliert – eine intensivere Welt in sich tragen, als es die äußere ist. Francesca blieb auch ein Kind bis zum Schluß, typisch für Wunderkinder und Hochbegabte, die keine Zeit, sprich keinen Willen und keine Energie aufbringen, »normal« zu werden. Sie verweigern sich der Anpassung an die ordinäre Welt, an das Realitätsprinzip. Letztlich ist das auch sehr vernünftig, wenn es darum geht, Kreativität zu bewahren und zu steigern. Für eine juvenile Diabetikerin kann es freilich fatal sein.

      Sie wußte sich zu schützen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wollte sie keine Spielfilme zum Thema Judenverfolgung mehr sehen. Ich glaube, der Pianist von Polański war der letzte. Ein Lied von Liebe und Tod – Gloomy Sunday, diesen Film verweigerte sie; aber auch Pane e tulipani (»Brot und Tulpen«), trotz der Paraderolle von Bruno Ganz. Dieser Film erinnerte sie wohl zu sehr an ihr eigenes Land. Den Untergang über Hitlers letzte Tage hingegen sah sie mit großem Interesse.

      Francesca war eine hochemotionale Frau, deren Gefühlshaushalt zwar ihre Lebenslust und den Arbeitseifer antreiben, aber auch ihre Entscheidungen und Überlegungen bestimmen konnte. War sie erst einmal in Rage, konnte sie zu schnell reagieren und machte Fehler, die sie bei besonnenerer Haltung vermieden hätte. Francesca fehlte das Abgebrühte und Ausgebuffte. Sie war ein klarer Kopf, kein kühler. Sie hatte nicht das lebenserleichternde Privileg, intellektuell oder emotional zu sein. So konnte sie, wenn sie sich, weniger im Berufs- als im privaten Leben, angegriffen fühlte, aggressiv und launig werden. Es kam auch zu unschönen Szenen. Francesca war alles andere als ein Mensch ohne Schwächen. Sie kam aus der Spur, wenn es nicht so klappte, wie sie es vorbereitet hatte.

      Francesca war von schnellem Urteil und von großem Selbstbewußtsein in ihren Ansichten. Was »man« denkt, war für sie niemals eine Größe. Sie lebte ihre »determinazione«, ihre Bestimmtheit. Sie war nicht arrogant in der konkreten Begegnung mit einem Menschen, konnte aber vernichtende Urteile fällen und abfällige Meinungen bilden. Im Sommer 1999 war sie auf einer berühmt gewordenen Tagung auf Schloß Elmau, zu der Bernhard Casper sie mitnahm. Sie kam zurück und erzählte lebhaft. Als ich in der Zeitung las, daß auch Peter Sloterdijk aufgetreten war, und sie danach fragte, warum sie denn diese Berühmtheit nicht erwähnt hatte, wurde sie energisch: »Was, dieser Schwätzer, dieser aufgeblasene Pseudophilosoph soll berühmt und anerkannt sein? Das kann ich nicht glauben!« Sie hat späterhin ihre Ansicht nicht geändert. Hatte sie einmal jemanden »gefressen«, so die Ministerin Ursula von der Leyen, war jedwede Diskussion vergebens.

      Verlief das Leben hingegen, wie sie es sich eingerichtet hatte, dann war sie relativ ruhig und berechenbar. Dabei konnte sie sehr wohl Melancholie befallen, und das nicht erst, seit die Krankheit ihr Leben zur Gänze umwarf. Francesca litt mit, wenn im Privaten oder Politischen Unglücke passierten. »Ich fühle mich schwach und zerbrechlich«, schrieb sie an Freunde nicht nur einmal. Allein,