Deutschland oder Jerusalem. Claus-Steffen Mahnkopf

Читать онлайн.
Название Deutschland oder Jerusalem
Автор произведения Claus-Steffen Mahnkopf
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783866742871



Скачать книгу

Obwohl ich beteuere, daß ihrer Immatrikulation in Freiburg nichts im Wege stehe, ist Francesca skeptisch und geht davon aus, daß sie zuerst einen Sprachtest für Deutsch bestehen müsse. In der Angst, bei diesem zu scheitern, besucht sie einen Fortgeschrittenenkurs am Goetheinstitut und arbeitet wie eine Wahnsinnige, die um ihr Leben fürchten muß. Einmal, bei einem scheußlichen Wetter, gerät sie in Panik, weil sie des typisch römischen, mithin undurchdringlichen Verkehrs auf den Straßen wegen zu spät kommen sollte. Francesca ist überpünktlich und extrem gewissenhaft.

      Francesca hat sich sehr früh als Jüdin zu erkennen gegeben, und zwar auf eine Weise, als sei das das Normalste der Welt. Dabei lebt sie gänzlich unorthodox. Zu keinem Zeitpunkt ist etwas unmöglich, nur weil ein jüdisches Gebot dies unterbunden hätte. Sie geht zur Synagoge, gewiß, erwartet aber von mir keine Änderung der Gepflogenheiten. Ich erfahre, daß Francesca in der römischen jüdischen Gemeinde sehr aktiv und für ihr junges Alter bereits ausgesprochen angesehen ist. Sie könnte sich dort entfalten, will aber ihre Leidenschaft für das Jüdische mit dem Beruf verbinden, und das sollte erst in Deutschland möglich sein.

      Als Lebensgefährte von Francesca, die immer häufiger in der Villa Massimo als bei ihren Eltern anzutreffen ist, werde ich in ihre Familie integriert. Gemeinsame Ausflüge, Treffen und Mahlzeiten werden regelmäßig. Vater und Mutter haben kein Problem mit mir, dem Deutschen und dem Nichtjuden. Sie sind liberale, aufgeklärte Menschen mit dem politisch linken Hintergrund der 1970er Jahre, im Alter meiner älteren Geschwister. Auch ihre zwei Jahre jüngere Schwester mag mich; sie frotzelt ab und an mit den schweren deutschen Sprüchen aus der Sprache der Hundeerziehung, auf die sie sich spezialisiert hat (»Sitz«, »Platz«), hat mich aber von Anfang an akzeptiert. Als wir zum ersten Mal zu den Großeltern, die im Krieg Schlimmes durchmachen mußten, gehen, werde ich um Umsicht gebeten. Doch vor allem die Großmutter, mit der Francesca eine große Liebe verbindet, akzeptiert mich – zumindest spüre ich keine Ablehnung –, weil sie Vertrauen in die richtigen Entscheidungen ihrer Enkelin setzt. Francesca ihrerseits konfrontiert mich niemals, zu keinem Augenblick, mit einer möglichen Schuld oder Verantwortung für das, was »mein« Volk der Welt, Europa und vor allem den Juden antat. Natürlich ist die Shoah für uns ein zentrales Thema, aber von Rancune, Ressentiment, gar Rache ist Francesca gänzlich frei.

      Sylvester 98/99 feiern wir auf der Villa Massimo mit den anderen – ein großes heiteres Fest, wie ein lieto fine in der Oper, mit allen Protagonisten. Ein paar Tage später packt Francesca die Koffer, darunter einiges Übergepäck für die vielen Bücher, die sie benötigt. Ihre Eltern und ich fahren sie zum Flughafen, meine Neffe holt sie in Basel ab. Drei Monate später werden alle ihre Habseligkeiten, darunter kistenweise Bücher, nach Freiburg transportiert. Francesca hat Italien verlassen, sie ist nach Deutschland gezogen, ihre Zeit auf der Villa Massimo ist zu Ende.

      VITA

      Anfang 1999 zieht Francesca nach Deutschland und wohnt in Freiburg in meiner kleinen Wohnung, während ich noch drei Monate Stipendiat auf der Villa Massimo bleibe. Sie muß sich einleben, sich mit der Universität vertraut machen. Und mit dem extremen Winter zurechtkommen. Trotz meiner Schwester und ihrer Familie ein paar Fußminuten entfernt, fühlt sie sich verständlicherweise einsam. Ihr Piccolo ist in Rom; sie faxt Hunderte von Briefseiten. Ende März kommt sie nach Rom und berichtet von ihren ersten universitären Erfahrungen. Man habe ihr bedeutet, sagt Francesca, daß für eine universitäre Laufbahn bis zum höchsten Punkt (schon damals wollte sie sich alle Türen offen halten) eine deutsche Staatsangehörigkeit von großem Vorteil sei. Diese erhält man nach acht Jahren Residenz in Deutschland oder nach dreien, wenn man verheiratet ist. Spontan mache ich ihr einen Heiratsantrag. In meinem Inneren gibt nicht den geringsten Zweifel, daß Francesca die Frau meines Lebens ist. Francesca stimmt sofort zu. Uns verbindet, wie so häufig, eine tiefe Syntonie. Die Heirat in Deutschland wird Francesca in fast allen Belangen helfen, nicht zuletzt bei den Ärzten, die sie teilweise zurückweisen, weil die Honorare aus Italien nicht überwiesen werden. Nach meiner Rückkehr aus Rom betreiben wir zielstrebig die Planung für die – standesamtliche – Hochzeit, die am 3. September im kleineren Familienkreis stattfindet. In der Familie herrscht anfänglich Skepsis, da man unseren Schritt für übereilt hält. Aber sie ist unbegründet. Als wir nach unserer Hochzeit in die gemeinsame, für unsere damaligen Verhältnisse großzügige Wohnung ziehen, funktioniert das Zusammenleben wunderbar.

      Francesca wurde am 20. Mai 1974 in Rom geboren. Sie war das erste Kind. Ihre Eltern sind assimilierte Juden mit sephardischem Hintergrund. Im Übergang von den Urgroßeltern zu den Großeltern paßten sich die Familien an den in Italien üblichen Katholizismus an, ohne diesen gläubig zu leben. Die Eltern, die bald noch eine zweite Tochter bekamen, kauften in diesen Jahren eine Wohnung, die sowohl in der Nähe des Monte Mario als auch der Vatikanstadt, also ausgesprochen zentral liegt. Die Großeltern mütterlicherseits wohnten in der Nähe. Das zu erwähnen, ist nicht unerheblich. Später, als die Immobilienpreise in der italienischen Hauptstadt anzogen, wäre es für Francescas Familie gänzlich unmöglich gewesen, im Zentrum zu leben. Sie hätte, wie ihre Tante in der Peripherie, sich der dortigen öden Kulturlosigkeit und den sozialen Spannungen aussetzen müssen. So aber wuchs Francesca inmitten des Geschehens auf: einer städtischen Kultur mit allen historischen Bezügen, politischen Aktivitäten und Kulturangeboten. Sie durchlief für dreizehn Jahre die Schule, erst die Grund-, dann die Mittelschule, schließlich das Gymnasium, so, wie es in Italien üblich ist. Anstelle des Liceo classico, das sich die Familie nicht leisten konnte, wurde eine auf Wirtschaft und Tourismus spezialisierte Schule gewählt, der Francesca nicht nur drei lebende Fremdsprachen, sondern auch gründliche Kenntnisse in der Landeskunde, mithin auch in Kunstgeschichte verdankt.

      Francesca wurde zwar, ganz nach Landessitte, katholisch getauft und zur Kommunion geschickt, nicht aber religiös erzogen und hielt ihrerseits auch wenig von Religion. Statt dessen zeigten sich sehr früh ihre sprachliche Begabung und ihre Leidenschaft für das Lesen. Francesca durchlief das Drama des hochbegabten Kindes in der falschen Umgebung. Sie war in allen Fächern (von Sport abgesehen) die Klassenbeste, dabei bemüht, den anderen zu helfen (teilweise bot sie einen Telephonservice für die Hausaufgaben an), konnte aber keinen richtigen Kontakt zu den Gleichaltrigen aufbauen. Sie fühlte sich häufig allein und einsam. Sie flüchtete sich in die Bücher und die verschiedenen Wissensgebiete, was diesen Abstand natürlich nicht eben verringerte. Francesca überfiel das Gefühl existentieller Einsamkeit auch später immer wieder schubweise. Sie war mitunter regelrecht verzweifelt. Ich versuchte ihr zu helfen, soweit es ging. Aber letztlich litt sie bis zu ihrem Lebensende darunter. Ihre allseits bewunderte und genossene kommunikative Art war auch dieser tiefsitzenden, inneren Einsamkeit geschuldet.

      Als junger Teenager setzte ihr Interesse für Politik ein; sie trat in die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei ein. Daß sie nach einem Jahr die Partei wieder verließ, lag weniger an der Politik, sie konnte vielmehr wenig mit den Gleichaltrigen anfangen. Dann wurde sie Mitglied der Linksdemokraten (»Partito Democratico della Sinistra«, die Nachfolgepartei der Kommunisten), aber eher aus Solidarität ihrem väterlichen Freund Sergio gegenüber; aktiv war sie nicht. Der Marxismus und seine Theorien, zumindest in der flexiblen italienischen Fassung, waren ihr früh vertraut. Der deutsche Leser möge wissen, daß Kommunismus in Italien nicht das Furchterregende wie in Deutschland zur gleichen Zeit hatte; im Gegenteil: Kultur und Intellektualität, kritisches Denken und avantgardistische Kunst waren hier zu Hause. Luigi Nono oder Pier Paolo Pasolini waren wie selbstverständlich Kommunisten. So auch Francesca in jenen Jahren. Während der Schulzeit setzten ein umfangreiches gesellschaftliches und politisches Engagement sowie eine rege Schreibtätigkeit ein, über die noch zu berichten ist.

      Direkt an das Abitur, das Francesca mit der höchstmöglichen Punktzahl absolvierte, schloß ihr Universitätsstudium an. Francesca wählte die Philosophie als zentrales Fach, weil diese in der Tat die Universaldisziplin der Geisteswissenschaften ist, von der aus alle anderen Gebiete der Geschichte, der Kultur und der menschlichen Existenz erreicht werden. Darin war sie klassisch. Die 18jährige schrieb in ihr Tagebuch mit der bezeichnenden Ortsangabe »irgendwo«: »An der Philosophie liebe ich ihr kontinuierliches In-die-Krise-Setzen (auch von den solidesten Alltäglichkeiten ausgehend) und ihre kraftvolle imaginative Vision. Daß ich mich in allen meinen heiklen Interessen der Philosophie widme, ist eines unter den