Deutschland oder Jerusalem. Claus-Steffen Mahnkopf

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Название Deutschland oder Jerusalem
Автор произведения Claus-Steffen Mahnkopf
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783866742871



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in Freiburg, von wo aus jedoch Francesca immer wegstrebte; dabei war Frankfurt ihre erste Wahl. Später räumte sie ein, daß Berlin natürlich die bessere sei. Frankfurt war definitiv zu klein und längst von einer linksintellektuellen Hochburg zu einer kalten Kapitalismusstadt mutiert. Ihre lange Odyssee fand ins neue Zuhause, von Rom über Freiburg nach Berlin, mit den Zwischenstationen Jerusalem, Frankfurt und Cincinnati. In Kairo erklärte sie mir 2001, daß ihre Reise viel verschlungener war: von der ägyptischen Gefangenschaft über Kanaan, die sephardische Diaspora mit Spanien und dem Elsaß nach Rom und von dort nach Deutschland. Wer sonst kann auf eine fünftausend Jahre lange Reise zurückblicken als das jüdische Volk?

      Man fragt sich, ob Francesca arbeitswütig war, ob sie überhaupt das Leben genießen konnte, ob sie so etwas wie Hobbys kannte. Immerhin: In den zwölf Jahren in Deutschland schrieb sie zwei Bücher, übersetzte zwei, veröffentlichte etwa 30 Aufsätze, hielt über 50 Vorträge und bestritt gut 60 Lehrveranstaltungen zu stets unterschiedlichen Themen. Nach Francescas Tod fragte mich einer ihrer Kollegen, wie denn Francescas unglaublicher Ehrgeiz bei gleichzeitiger Höchstgeschwindigkeit zu erklären sei. Ich konnte eine mehrschichtige Antwort geben. Zunächst besaß Francesca eine unstillbare Neugierde und Freude am Entdecken, einen Wissensdurst, der nicht zu stillen war. Sodann wußte sie im Inneren (oder ging davon aus), daß sie nicht lange leben sollte. Schließlich, und das dürfte der tiefere Grund sein, war diese Art von geistiger Existenz eine Lobpreisung Gottes. Der letzte Grund für Francescas enzyklopädisches Verhalten war ein religiöser, und zwar ein zutiefst jüdischer.

      Ich fragte sie einmal: »Hast Du wirklich den ganzen Shakespeare gelesen?« Sie antwortete: »Natürlich, das ist doch eine Mitzwa.« Mithin eine Pflicht, eine gute Tat im jüdischen Denken. Gott habe uns Menschen auferlegt, daß wir uns mit der Schöpfung ausgiebig beschäftigten, und dazu gehört alle Kunst, alle Weltkultur, alle Musik, und so auch die Weltliteratur mit ihrem Shakespeare. Ein umfassendes Bildungsideal, aber grundiert von der emphatischen Idee einer universalen Gelehrsamkeit. Und diese ist prinzipiell unendlich, also unerreichbar. Francesca schrieb mit zwanzig in eines ihrer Notizbücher, wie sehr sie darunter litt, so wenig zu wissen, so unreif zu sein, gerade weil sie so viele Bücher gelesen habe, wisse sie von ihren Defiziten und Lücken. Schon damals verkörperte sie die sokratische Weisheit, daß mit dem Wissen das Nichtwissen zunehme. Auch noch in Freiburg glaubte sie in Augenblicken der Niedergeschlagenheit, die »schlimmste Lehrerin der Welt« zu sein, was nun wirklich reiner Unsinn war.

      Francesca hielt nichts von Halbheiten oder Schummellösungen. Bereits im ersten Studienjahr in Rom ging sie aufs Ganze. Seminare zur Theoretischen Philosophie mußten alle Studenten besuchen, sie aber schrieb eine Hausarbeit über Hegels Wissenschaft der Logik – sicherlich das ungenießbarste seiner Werke – und darin über das Kapitel des Grundes. Sie verkörperte das genaue Gegenteil einer gewissen populären Pädagogik, die glaubt, junge Menschen langsam an die Dinge heranführen zu müssen, um sie bloß nicht zu überfordern. Francesca, die dafür nur Spott übrig hatte, bevorzugte das Gegenmodell: ins kalte Wasser springen, sich dem Größten aussetzen, sich von den letzten Maßstäben herausfordern lassen.

      Gewiß, ihre Intelligenz half dabei – oder umgekehrt, diese bedurfte der entsprechenden geistigen Nahrung. Francesca besaß ein phänomenales Gedächtnis, vor allem für Sprache und Geschichte. Sie konzentrierte sich beim Lesen so sehr, daß selbst ich, ihr Lebensgefährte, staunte: Betrat ich das Zimmer, in dem sie las, bemerkte sie das nicht und erschrak aufs Heftigste, wenn sie meiner, vor ihr stehend, gewahr wurde. Sie hatte eine extrem schnelle Auffassungsgabe. Man mußte nicht lange erklären. Wenn Francesca einmal etwas nicht verstand, dann weil sie es nicht wollte, weil sie ihren Kopf freizuhalten suchte. Deswegen hatten wir auch kaum längere Diskussionen, der Dissens, wenn er denn bestand, war in wenigen Schritten erkannt und benannt. Und sie besaß ein sicheres, zumindest für ihr eigenes Denken sicheres Urteilsvermögen, das ich nicht anders denn als Ausdruck einer äußerst starken Intuition erklären kann.

      Francesca, das würde man von außen blickend sagen, war eine Workaholikerin. Eine Frau, die immer arbeiten mußte und dabei von einem Perfektionismus angetrieben wurde, der zuweilen dazu führte, daß dieser sie beherrschte. Dazu kam Francescas Ungeduld. Alles mußte rasch und möglichst sofort geschehen. Häufig mußte ich sie ermahnen, niemand könne erwarten, daß sie, die Frühaufsteherin, die nach acht Uhr abends zu größeren geistigen Anstrengungen kaum in der Lage war, am Samstag- oder Sonntagabend nach einem Besuch des Theaters oder eines Konzertes noch E-Mails beantworte. Aber so war sie nun einmal. Hatte sie erst einmal einen Blick in ihre Mailbox geworfen, konnte sie gar nicht anders, als die Briefe zu bearbeiten, sie hätte keinen Schlaf gefunden, obwohl sie todmüde war.

      Workaholismus ist auch der Name für ein Krankheitsbild, eine Symptomatik, die bis zum Tode führen kann, weil Menschen zu Dauerhyperaktiven werden, zu kleinen Hamstern, die sich im Laufrad drehen, bis sie umfallen. In diesem Sinne war Francesca definitiv keine Workaholikerin. Sie konnte sehr wohl einen zweckfreien Fernsehabend verbringen, mit Freunden in Cafés und Restaurants Stunden geselligen Zusammenseins genießen oder zehn Tage am Strand des Lago Maggiore (und noch mehr im Whirlpool) faulenzen. Offen gesagt, eine Workaholikerin an meiner Seite hätte ich nicht ertragen. Nein, was Francesca tat, machte ihr Spaß. Sie sagte mit großem Ernst und aller sachlichen Richtigkeit, daß wir, die Professoren, das unbeschreibliche Glück hätten, für unsere »sinnlosen Hobbys« auch noch gut bezahlt zu werden. Francesca war somit durchaus der Ferien fähig. Allerdings mußte das Gehirn stetig gefüttert werden, wenn nicht mit Arbeit, dann mit Romanen oder Sightseeing, Museen, Ausstellungen, Veranstaltungen. Dolce far niente, »das süße Nichtstun«, war ihr fremd. Schließlich, und das macht Francesca in der Rückschau sehr menschlich, wurde sie auch von Depressionen, von Melancholie, ja Defätismus befallen. Dann litt sie, und sie litt auch darunter, nichts zu haben, worauf sie sich konzentrieren konnte. Dann fehlte ihr die Arbeit.

      Trotz ihrer beeindruckenden Karriere war Francesca das genaue Gegenteil einer Karrieristin, zumindest, wenn man darunter eine Person versteht, die jede Minute durchplant und jeden menschlichen Kontakt unter einem strategischen Gesichtspunkt betrachtet. Francesca war viel zu individualistisch, als daß sie sich einem, auch unter Frauen, immer verbreiteteren Typus von Managerverhalten angepaßt hätte. Es wäre ihr wie ein Verrat am Leben vorgekommen. Sie war hier wie eine Schriftstellerin, die ihre Einsamkeit braucht, um zu Sinnen und zur Besinnung zu kommen. Francesca hatte stets Zeit für zwanglose Treffen mit Freunden, Nachbarn, Kollegen, Gemeindemitgliedern. »Laß uns einen Cappuccino trinken«, war fast so etwas wie ihr Lebensmotto.

      Gewiß, sie reagierte gereizt, wenn man ihr Zeit stahl, sie haßte sinnlos vergeudete – ihr Gehirn hatte dann nichts zu tun oder, schlimmer noch, wurde von unnötiger Verwaltungsarbeit und Bürokratie fremdbestimmt. Da konnte sie wild und fuchtig werden, regelrecht ungerecht, unerträglich – besser, man ging ihr aus dem Wege. Doch sie arbeitete schnell, faßte rasch Entschlüsse und ging konsequent vor. Sie zauderte nicht und hatte eine präzise Auffassungsgabe. Das sparte ihr Zeit, und diese hatte sie dann auch. Für die Weihnachtsferien 2010/11 kündigte sie ein großes Arbeitspensum an, das keinen Aufschub duldete. In der Tat machte sie sich gleich ans Werk, vollführte das aber so schnell, daß sie dann mehrere Tage einfach nur frei hatte.

      Bevor ihr Ehemann allzu sehr ins Schwärmen kommt, sei eine vergleichsweise neutrale Stimme wiedergegeben, die Francesca nur einmal, für wenige Tage am Stück, erlebte. Tamara Albertini, Professorin für Philosophie an der Universität Honolulu, lud sie nach Hawaii ein, um dort für eine Woche zu weilen und Vorträge zu halten. Im Sommer 2008 flog Francesca von Cincinnati auf die Pazifikinsel. Trotz des gleichen Namens sind die beiden Damen nicht verwandt. Francesca hatte eines Tages im Internet Tamara entdeckt und über E-Mail Kontakt aufgenommen, wie sie das mit Hunderten von Kollegen oder anderweitig interessanten Menschen zu tun pflegte. Francesca war begeistert von dieser Vulkaninsel, die sie mit einem Leihwagen durchquerte. In einem Kondolenzbrief erzählt Tamara: »Francesca hat einen kolossalen Eindruck auf meine Kollegen und unsere Studenten gemacht. Sie war sehr professionell, zeigte aber anders als deutsche Akademiker keine Arroganz. Ihre römische Seele schien immer durch. Sie konnte sehr technisch sein und zugleich große Flexibilität zeigen. Sie besaß intellektuelle Demut und wußte sich doch zu verteidigen, wenn sie unfair angegriffen wurde. Ich konnte das hautnah erfahren, nachdem sie ein orthodoxer Jude nach einem Vortrag des Verrats am Judentum beschuldigt hatte.