Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete. Albrecht Gralle

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Название Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete
Автор произведения Albrecht Gralle
Жанр Юмористические стихи
Серия
Издательство Юмористические стихи
Год выпуска 0
isbn 9783865068323



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Rollstuhl stand in der Ecke. An der Wand: ein heller Fleck, wo einmal ein Bild gehangen hatte.

      Als die beiden saßen, fragte Andreas Sonnhüter: „Man sagte mir, dass Sie … sich Martin Luther nennen?“

      „Ich bin nit sie, sondern er oder du“, stellte Luther klar.

      „Gut, also du. Ich bin der Andreas.“ Er gab Luther die Hand, die dieser zögernd ergriff.

      „Dein Name ist also Martin Luther.“

      „Ja. Doktor Martinus Luther.“

      „Hm“, machte der Pfarrer und strich sich über das Kinn. Er dachte nach. Plötzlich hob er den Kopf und sagte: „Quid custodiens placebo Deo?“1

      Luther schaute ihn verwundert an, aber antwortete sofort: „Non confidas in tua iustitia, sed in iustitia Dei.“2

      Sonnhüter war beeindruckt, überlegte kurz und fuhr auf Hebräisch fort: „Bereschit bará Älohim …“3

      Und Luther ergänzte: „Ha schamajim we ha ärätz.“4

      „Mein lieber Luther“, sagte Andreas Sonnhüter. „Entweder hast du dich auf deine Rolle sehr gut vorbereitet, oder du bist wirklich Luther. Und nun erzähle mal, wie du hierhergekommen bist.“

      Luther holte tief Luft und erzählte alles, so gut er es vermochte. Der Pfarrer stellte Fragen, wenn er nicht alles verstand oder das alte Deutsch ihm unverständlich erschien, und hörte aufmerksam zu.

      Als Luther schwieg, schaute er ihn lange an und sagte: „Das ist das Merkwürdigste, was ich jemals in meinem Leben erfahren habe, aber was du sagst, hört sich … irgendwie stimmig an. Soll ich dir nun sagen, wo du bist?“

      Luther nickte und hatte Tränen in den Augen.

      „Also, aus irgendeinem Grund“, sagte Sonnhüter und betonte jedes Wort, „aus einem Grund, den ich nicht kenne, bist du nicht im Himmel oder in einem fremden Land, sondern bist in die Zukunft versetzt worden.

      Du befindest dich nicht mehr in deinem Jahrhundert, sondern über fünfhundert Jahre später im Jahr des Herrn 2017.“

      Luther starrte den anderen an und war zunächst sprachlos. Er erhob sich, ging erregt auf und ab, murmelte etwas und setzte sich wieder. Sein Gesicht hatte eine blasse Färbung angenommen.

      „Über fünf … hundert Jahr später?“, stammelte Luther. „Die … die Welt ist nicht an ihr End kommen?“

      „Nein, sie ist immer noch da.“

      „Aber über fünfhundert Jahr!“

      Sonnhüter schwieg und ließ Luther Zeit, diesen ungeheuren Gedanken zu fassen.

      „Dann … dann werd ich … Das ist ein Abgrund, wo ich nit vermag nüberspringen. Ich kann nit zurück in mein Wittenberg!“

      Er vergrub sein Gesicht in den Händen. Sonnhüter war erschüttert, aber als er sich vorstellte, wie es ihm wohl gehen würde, wenn er plötzlich im Jahr 2517 auftauchen würde, konnte er Luther etwas nachempfinden.

      „Nun, nach Wittenberg könnten wir schon reisen“, sagte er leise und legte Luther die Hand auf die Schulter, „aber es wird ein anderes Wittenberg sein.“

      Der theologische Gast blickte auf, zog die Nase hoch und spuckte das Ergebnis auf den Boden.

      Sonnhüter sagte nichts dazu.

      „Pass auf, Martin“, fing er an, „Folgendes werden wir machen: Wir gehen nicht zur Polizei … ahm … zum Rat der Stadt. Die können mit so etwas nicht umgehen. Wir gehen erst mal zu mir nach Hause. Du nimmst ein Bad, ziehst dich um, bekommst von mir ein paar andere Kleider, und ich werde sagen, dass du ein Ausländer bist … ahm …, dass du von sehr weit her kommst. Und dann werden wir eine Reise unternehmen und vieles entdecken. Du wirst sehen, was aus der Welt und aus deinem neuen Glauben geworden ist. Wir müssen nur der Dame an der Pforte plausibel erklären, wer du bist und dass du … Ja, wo wohnst du dann eigentlich?“ Sonnhüter blickte sich in dem fast leeren Zimmer um und sagte dann: „Du wohnst am besten bei mir! Er klopfte Luther auf die Schulter: „Luther, ich weiß, es ist schwer, aber was du erlebst, das erlebt sonst keiner. Vielleicht hat das Leben noch etwas mit dir vor. Und wenn das Schicksal dich in die Zukunft versetzt hat, dann kannst du auch wieder zurückgebracht werden. Solange du hier bist, stehst du unter meinem Schutz!“

      „Nehmen sie den Leib“, murmelte Luther, „Weib, Gut, Ehr, Kind und Weib, lass fahren dahin. Sie haben’s kein Gewinn …“

      „… das Reich muss uns doch bleiben“, fuhr der Pfarrer fort.

      Luther blickte überrascht auf. „Du kennst den Gesang?“

      „Oh ja, er ist auf der ganzen Welt bekannt!“

      „Auf der ganzen Welt?“ Luther schüttelte verwundert den Kopf.

      Andreas Sonnhüter erhob sich, Luther machte dasselbe. Bevor sie das Zimmer verließen, nahm Sonnhüter ein Stück Toilettenpapier, wischte den Lutherrotz vom Boden auf und warf das feuchte Papier in den Papierkorb.

      „Hier bei uns spucken die Leute nicht auf den Boden“, meinte er. Dann gingen sie gemeinsam zur Pforte des Seniorenheims. Sonnhüter erzählte, dass er herausgefunden habe, wie der Mann heißt und dass er ihn zuerst mit sich nach Hause nehmen würde.

      „Sollten wir nicht die Polizei …?“

      Sonnhüter winkte ab. „Das ist ein harmloser Fall. Wenn es Schwierigkeiten gibt, rufe ich natürlich dort an, aber ich denke, wir klären das unbürokratisch ab.“

      Luther zog Sonnhüter an seinem Ärmel und sagte laut und deutlich: „Man hat mir g’sagt, dass der Zwingli und der Calvin hier sein und auf mich warten. Ist ein ziemlich groß Sach, dass ich die beiden hier treffen mag.“

      Die Frau an der Pforte grinste: „Ja, das hat vorhin die Nachbarin, Frau Brückner, gesagt, die ihn gebracht hat. Ein Scherz.“

      „Komm, Martin, das war ein Versehen, ein Scherz …“

      „Ein Scherz? Das wär schad. Ich hätt gern dem Calvin sein Abendmahl um die Ohren g’schlagen. Hatt er doch g’redet, dass es nur bloße Zeichen sein und der Leib Christi so weit entfernt sei vom Brot als der höchste Himmel von der Erden …“

      „Luther, der Calvin ist nicht hier. Die Frau hat es nicht so gemeint.“

      „Ja, ja, ich versteh gut“, nickte Luther. „Alls Lug und Trug.“

      Und damit verließen die beiden Herren die Seniorenresidenz. Luther fuhr nun in einer dieser flachen Kutschen ohne Pferde und klammerte sich am Sitz fest, als das Auto mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern über die Landstraße „raste“. Nach einem heißen Bad und neuen seltsamen Kleidern, die auf der Haut kratzten, ließ sich der Zeitreisende Bohnen, Brot und ein Steak schmecken, was unter anderem dazu führte, dass er nach dem Essen laut rülpste.

       24. 6. 2017

       Habe einen Mann getroffen, der sich Martin Luther nennt und auch das so genannte Lutherdeutsch spricht. Zuerst habe ich an einen Scherz oder an eine geistige Verwirrung gedacht, aber als ich den kleinen, dicken Mann auf Latein und Hebräisch anredete, antwortete er mir spontan. Dann erzählte er mir seine Geschichte, und ich kann mir nicht helfen – es klang überzeugend. Er muss durch einen Blitzstrahl in unsere Zeit geschleudert worden sein. So kommt es mir jedenfalls vor. Oder das ist jemand, der ein großes schauspielerisches Talent besitzt. Ich werde meinen Schwager anrufen. Er hat Physik studiert.

       Jedenfalls: Luther oder der Mann, der behauptet oder denkt, dass er Luther ist, hat Vertrauen zu mir gefasst. Und ich werde mit ihm durch Deutschland reisen und ihm einiges zeigen. Zum Glück lebe ich im Ruhestand. Ich habe also Zeit und kann nur hoffen, dass ich keinem Betrüger aufgesessen bin.