Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete. Albrecht Gralle

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Название Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete
Автор произведения Albrecht Gralle
Жанр Юмористические стихи
Серия
Издательство Юмористические стихи
Год выпуска 0
isbn 9783865068323



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Meine Frau hätte es sicher gemerkt, vor ihr hätte ich meinen Unglauben auf Dauer nicht verstecken können. Aber sie hat mich zurückgelassen, und an ihrem Grab konnte ich gerade noch eine pseudogläubige Haltung durchziehen und so tun, als würde nach dem Tod noch etwas kommen.

       „Es ist ja schön, dass man wenigstens einen Glauben hat, wenn der Ehepartner stirbt, nicht wahr, Herr Pfarrer?“ Kommentar nach der Beerdigung. „Ja, das kann einen schon trösten.“ In Klammern: Wenn man daran glaubt. Wieder nicht direkt gelogen.

       Ich werde trotzdem ab und zu mal im Gottesdienst auftauchen und interessiert zuhören, was meine Kollegen über den Phantomgott so alles sagen. Stelle ich mir irgendwie … abgefahren vor.

       Und was ist mit meinem täglichen Leben? Mit meinen Alltagsritualen? Wird sich an meinem Tagesablauf wirklich so viel ändern als Ungläubiger?

       Gut, das Beten fällt schon mal weg, aber ich denke, die Routine wird bleiben: frühes Aufstehen, nach dem Frühstück Lektüre und einen Vortrag ausarbeiten – immerhin bin ich Mitglied im philosophischen Freitagsklub. Kontakt zu meinen Enkeln weiter ausbauen, ein paar Leute betreuen. Wohne ja neben dem Altenheim und bin dort bekannt. Und die Alten sind froh, wenn jemand mal nur zuhört und die Klappe hält. Die brauchen keine Bekenntnisse.

       Ich denke, das meiste kann man alles wunderbar hinkriegen, ohne an Gott zu glauben.

      Meine Güte, wie kann das sein, dass man sein Leben lang an einem Phantom festgehalten hat? An einem Wesen, das man gar nicht richtig beweisen kann? Ich habe tatsächlich mein Leben, meinen Beruf, auf etwas Nebulösem aufgebaut.

       Nicht zu fassen!

       Ein neues, gottloses Leben liegt vor mir. Die nächsten Jahre sind knisternd, abenteuerlich und offen. Der Tod ist für mich jetzt ein echter Schlusspunkt. Da kommt einfach nichts mehr. So schlimm finde ich das gar nicht. Keine Lebensbeurteilung, kein jüngstes Gericht, keine Gedanken darüber, dass man bestimmte Leute wiedertreffen könnte. Wohltuende Dunkelheit, vielleicht Nirwana, Auflösung, Ende.

       Mein Leben war ja nicht schlecht gewesen, ich hatte meine Ideale, meine Moralvorstellungen, die mich gehalten haben. Habe sogar das Gefühl, ich könnte getrost irgendwann abtreten.

       Endlich Freiheit von dem Joch, gut und harmlos sein zu müssen. Ich könnte plötzlich jemand sein, vor dem die Leute Angst haben. Na ja, nicht direkt Angst, aber ich könnte jetzt dummes Zeug machen, mit einer Spur Bosheit. Kleine böse Streiche. Zum Beispiel im Straßencafé sitzen und ab und zu Leuten (aus Versehen) ein Bein stellen. „Oh, das tut mir aber leid“, würde ich sagen. „Haben Sie sich verletzt?“

       Endlich mal lügen wie gedruckt, mit unschuldigem Augenaufschlag. „Aber wenn ich’s dir doch sage: Ich habe gestern Frau Dinkelmann gesehen, wie sie im Supermarkt eine Parfumflasche mitgenommen hat, ohne zu bezahlen. Hätte ich nie von der gedacht, ehrlich! Und wusstet ihr, dass die Frau des Pfarrers aus der Nachbarschaft ein Kind großgezogen hat, das nicht von ihrem Mann stammt? Ja, ich weiß es von ihr selbst! Aber – das bleibt unter uns!“

       Herrlich! Gerüchte wie kleine Feuer in die Welt setzen und sich bei dem Flächenbrand die Hände wärmen … obwohl, das würde ich vielleicht doch nicht bringen … Die Gewohnheit, nett zu sein, sitzt tief.

      Aber dafür könnte ich schon nach dem Frühstück einen Whisky trinken und auf offener Straße Frauen anquatschen! Oder im Spielkasino tausend Euro verpulvern.

       Nein, da wär mir das Geld zu schade.

       Aber wenigstens im Prinzip ist jetzt alles erlaubt. Es gibt keine höhere Instanz mehr, die einem auf die Finger schaut.

       Natürlich ist es irgendwie gemein, dass der kirchliche Steuerzahler meine Rente finanziert. Die Gläubigen unterstützen einen atheistischen Pfarrer! Auf der anderen Seite: Sollen sie doch! Ich hab mich mein Leben lang für den anonymen Kirchenchrist abgerackert. Dafür kann er auch mal ein paar Jahre meinen Atheismus finanzieren.

       Bin gespannt, wie die nächsten Jahre verlaufen.

       Und wenn es Gott trotz allem gibt? Wenn ich nach dem Tod immer noch existiere? Na und? Gott hat schließlich diese Menschheitssache ganz schön vermasselt. Das ist ihm ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Und genau das würde ich ihm dann mal erzählen. Einfach den ganzen Gottesfrust auspacken und vor seinen Thron werfen … Gott, würde ich sagen, wie konntest du diese fruchtbaren Gräuel zulassen? Ja, ich weiß: Die Freiheit des Menschen bedeutet, dass er auch böse sein darf. Aber es gibt auch Grenzen. Du hättest zumindest die Auswüchse verhindern können. Warum machst du es uns so schwer, an dich zu glauben? Im Grunde bist du selbst schuld, dass die Leute sich von dir abwenden. Das und vieles andere würde ich ihm dann vor den Latz knallen.

       Aber – das wird nicht passieren, weil es ihn gar nicht gibt. Er ist nur eine Projektion unserer Wünsche, weiter nichts. Der gute, alte Feuerbach! Wie recht er doch hatte!

       Und wenn doch? Eines ist klar: So schnell käme ich nicht in die Hölle, hab mich ja für den himmlischen Verein lange genug eingesetzt. Das wären eine Menge Pluspunkte.

       Und wenn ich genauer drüber nachdenke, dann ist mein Atheismus auch eine Entlastung für Gott.

       Warum lässt Gott das Leiden Unschuldiger zu? Die Frage gibt es jetzt nicht mehr, weil es Gott gar nicht gibt. Manche super schwierigen Probleme erledigen sich von selbst.

       Prost, mein lieber Sonnhüter, du hast Gott überflüssig gemacht.

      „Die Kirschen, Luther!“

      „Was für Kirschen?“

      „Du hast mir’s in die Hand versprochen, ein paar Körb herabzupflücken!“

      Katharina, Luthers Frau, stand unten vor dem offenen Fenster der Studierkammer und rief ihre Bitten zu ihrem Mann nach oben, der von dem Vorschlag nicht gerade begeistert war.

      Er beugte sich aus dem Fenster: „Kann mir nit denken, dass ich mich derart hab breitschlagen lassen. Ist außerdem die Arbeit der Knecht und Mägd.“

      „Aber die Knecht und Mägd sind nit da. Und wenn das Gwitter kömmt, sind meine Kirsch zerhagelt und zerquetscht. Denk an den schön Kirschwein, den ich dir zubereiten werd!“

      „Bin itzo dabei, den Katechismus noch mal durchzukneten. Das ist wichtiger als alle Kirsch der Welt. Und: Wie soll ich alter und schwerer Mann die Leiter nauf? Wo ist der Bub?“

      „Der ist mit dem Michel weg.“

      „Ja, da soll doch der Donner …“

      „Vergiss dich nit. Du hast’s mir in die Hand …“

      Brummend trat Luther zur Seite, murmelte: „Ja, Herr Käthe“, legte die Feder auf einen Lederlappen und schimpfte: „Sonst ist das Haus voller Gäst, Studenten und Verwandtschaft, und heut ist alles leer wie ein Bauch, aus dem der letzte Furz entwichen ist. Man kömmt zu keiner Arbeit mehr!“

      Immer noch missmutig ging er die Stufen hinunter, verließ das Haus, steckte den Saum seiner schwarzen Kutte in den Gürtel, so dass seine Knie frei wurden, und holte die alte Holzleiter. Katharina ging währenddessen mit großen, unweiblichen Schritten vor ihm her in den von ihr angelegten Obstgarten.

      Vor den zwei Kirschbäumen blieb sie stehen. „Den Korb bindest an die Leiter, somit hast zween Händ frei.“

      Luther fügte sich in sein Schicksal. Er wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, sich in diesem Stadium zu verweigern.

      Dass die Frauen so einen unbändigen Willen haben, dachte er. Beißen sich fest wie hungrige Hund, wenn sie einen mal gepackt haben. Dabei sollte das Weib doch eine Gehilfin des