Biola und das geheimnis der alten Mühle. Thees Carstens

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Название Biola und das geheimnis der alten Mühle
Автор произведения Thees Carstens
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783865067760



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Maus. Oder wurde der Mäusegeruch durch den Geruch des Stiefels überdeckt? Jedenfalls war es ziemlich dunkel darin.

      Biola gab sich einen Ruck und kroch vorsichtig hinein.

      „Hallo?“, flüsterte sie. „Ist da jemand?“

      Keine Antwort.

      Etwas mutiger geworden ging Biola weiter. Aber nur ein kleines Stück. Und dann noch ein Stück. Die Überraschung hätte nicht größer sein können: In der Stiefelspitze lag nur eine Streichholzschachtel. Eine ganz gewöhnliche alte Streichholzschachtel.

       Urahn Alter Gouda

      Biola wartete noch ein wenig, bevor sie zu ihrer Familie zurückkehrte. Sie hoffte, dass niemand fragen würde, wo sie gewesen war, denn sie wollte nicht zugeben, dass sie Mascarpone belauscht hatte. Und sie wollte auch keine Lüge erzählen.

      „Fo warft du denn fo lange?“, rief ihr Pecorini fröhlich entgegen – den Mund voller Körner.

      „Äh …“ Biola zögerte und nahm sich etwas Weizen.

      „Ich war …“

      „Sprich nicht mit vollem Mund, Pecorini“, brummte Großvater Mascarpone streng. Schnell stopfte sich auch Biola eine Pfote voll Weizenkörner in den Mund.

      „Heute ist ein besonderer Tag!“, hob Großvater Mascarpone an und sah bedeutungsvoll in die Runde.

      „Wieso? Verteilst du heute Abend schon wieder irgendwelche Orden?“, fragte Onkel Gorgonzolo.

      „Nein“, antwortete Mascarpone und ignorierte den feindseligen Unterton in Gorgonzolos Stimme. „Die Ordensverleihung findet erst morgen Nachmittag statt. Heute ist der Jahrestag von Urahn Alter Goudas Heldentat!“

      „Oh, ja! Erfähl noch mal die Gefichte!“, rief Pecorini mit vollem Mund, aber dieses Mal schien das ihren Großvater nicht zu stören.

      „Gerne, denn das hatte ich sowieso vor.“ Großvater holte tief Luft. Biolas Vater Koriander seufzte.

      „Was gibt es da zu seufzen?“, fragte Mascarpone. „Die Geschichte unseres Ahnen wird von Generation zu Generation weitergetragen. So ist es Brauch! Damit auch die Jugend sie eines Tages weitererzählen kann! Immerhin berichtet sie uns von den Fundamenten unserer Zivilisation!“

      „Ja, jaaa …“, murmelte Biolas Vater.

      Und während alle anderen weiterknabberten, begann Mascarpone die Geschichte vom legendären Urahn Alter Gouda zu erzählen.

      „Unser Urahn war noch eine ganz junge Maus, als er die Heldentat vollbrachte, die den Menschen die Ehrfurcht vor uns Mäusen lehrte. Damals stand diese Mühle noch gar nicht, dieser mächtige Turm, der für uns errichtet wurde, in dem wir leben und in dem uns der Müller Tag um Tag, Jahr um Jahr seinen Korntribut entrichtet. Nein, die Mäuse mussten noch voller Angst vor Menschen und Katzen unter Steinen und Wurzeln am Waldrand hausen …“

      „Na und?“, unterbrach Koriander Mascarpone. „Ich bin auch am Waldrand aufgewachsen. Ich kann daran nichts Schlechtes erkennen. Außerdem …“

      Sanft legte sich Ricottas Pfote auf Korianders Rücken. Biolas Vater verstand das wortlose Zeichen seiner Frau sofort und verstummte – mit einem weiteren Seufzer.

      Mascarpone aber wartete noch einen Augenblick ab, erst dann hob er erneut seine Stimme:

      „Wie gesagt: Unser Urahn Alter Gouda war noch eine junge Maus, als er die Heldentat vollbrachte, die ihn für uns alle zu einem Vorbild werden ließ. Und trotz seines geringen Alters war er schon damals beseelt von großem Mut! Und so hatte er im Gegensatz zu allen anderen Mäusen auch keine Angst davor, die Küche des Menschenhauses aufzusuchen, um für seine Sippe einen schmackhaften Käse oder ein würziges Stück Räucherspeck zu ergattern.

      Eines Tages aber begab es sich, dass unser Urahn einen entsetzlichen Schrei vernahm, als er sich der Küche näherte. Helena, die junge Frau des damaligen Hausherren Hector, stand voller Angst auf einem Küchenhocker, und ihr von Entsetzen gezeichneter Blick starrte auf eine gewaltige Ratte, die im Begriff war, einen Käse zu rauben, den Helena auf einem Teller in ihren Händen hielt. Einen wunderbaren Käse, den das Schicksal eigentlich unserem Urahn zugedacht hatte – das spürte dieser sofort, als er das schmackhafte Stück sah. Doch bevor sich die Ratte auf Helena und den Käse stürzen konnte, hatte sich unser tapferer Urahn voller Todesverachtung auf die große Ratte geworfen und sie mit übermäusischer Kraft niedergerungen. Der schreckliche Riesennager aber wehrte sich mit aller Macht, sodass ein heroischer Kampf zwischen ihm und unserem Urahn entbrannte. Das feige Quieken der Ratte übertönte sogar noch die Schreie der jungen Frau auf dem Küchenhocker. Auf dem Höhepunkt des titanischen Kampfes unseres Urahns mit der Ratte betrat schließlich der Hausherr Hector die Küche!“

      Als Mascarpone diesen vorläufigen Gipfel der dramatischen Ereignisse erreicht hatte, begann Pecorini, sich an ihre Mutter zu kuscheln, die sofort ihren schützenden Arm um sie legte und ihr zärtlich über den Kopf streichelte. Ohne darauf zu achten, fuhr Mascarpone fort: „Aber Hector, der Hausherr, brauchte im selben Moment schon keine Angst mehr zu haben. Unser Urahn hatte die Ratte bezwungen und brach ihren letzten Widerstandswillen, indem er ihr zwei Schnurrhaare ausriss! Auf jeder Seite ein Schnurrhaar!“

      Jetzt ging ein Raunen durch die Zuhörerschaft. Man kannte diese Stelle der Erzählung zwar, aber jeder wusste aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft bereits das bloße Ziehen an einem Schnurrhaar war. Um wie viel schrecklicher musste es sein, wenn einem die Schnurrhaare AUSGERISSEN wurden. Das beeindruckte alle Zuhörer zum wiederholten Mal. Sogar Koriander.

      „Die feige Ratte“, fuhr Mascarpone fort, „schrie laut auf. Aber noch stärker als der körperliche Schmerz wirkte die Demütigung, die unser Urahn dem eigentlich überlegenen, scheußlichen Nager beigebracht hatte. Denn, wie ihr wisst, gab und gibt es auch heute noch keine größere Schande als den Verlust eines seiner Schnurrhaare im Kampf durch die Pfote eines überlegenen Gegners.“

      Für einen Augenblick schwieg Mascarpone, dann blickte er seltsam ernst und abwesend in die Ferne. Biola schien es, als wanderten seine Gedanken an einen anderen Ort jenseits unserer Welt. An einen finsteren Ort, einen Ort dunkler Geheimnisse, die Mascarpone mit niemandem teilen wollte. Schließlich besann er sich und fuhr mit seiner Schilderung der historischen Ereignisse fort: „Als der damalige Hausherr Hector sah, mit welchem Mut und welchen Urkräften unser Ahn die große Ratte besiegt und ihn selbst und seine junge Frau gerettet hatte, da nahm er das Stück Gouda-Käse von dem Teller, den seine Frau immer noch in Händen hielt, und reichte es unserem Urahn. Dabei verneigte er sich tief und schwor, so hat es unser Urahn erzählt, dass er ihm, dem Retter seiner Frau und Beschützer aller Menschen, zu ewigem Dank verpflichtet sei und ihm darum ein Denkmal setzen wolle, das einer großen Maus wie ihm würdig sei. Am nächsten Tag dann begann der Bau der Mühle, der mit der Aufstellung unseres Schlosses seinen Höhepunkt fand. Und seitdem bringen uns alle Menschen der Umgebung Tag um Tag, Jahr um Jahr Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Dinkel als Tribut – um sich unsere Gunst zu erhalten. Unser Urahn aber war der Erste, der seinen alten Namen ablegte und einen aus der Käseliste annahm, die schon damals den Boden unserer Schlosshalle schmückte. Alter Gouda – so nannte er sich, wie wir alle wissen.“

      Biolas Vater sah ihre Mutter an, und Biola bemerkte, dass er gerne etwas losgeworden wäre, aber Ricotta lächelte nur und legte ihre Pfote auf seine.

      Die kleine Pecorini aber fragte: „Wie hieß unser Urahn denn vorher?“

      Großvater Mascarpone antwortete: „Sauerampferich Kerbelfeld. Warum?“

      Biola musste sich ein Grinsen verkneifen. Diesen Teil der Geschichte kannte sie noch gar nicht. Aber mit dem Namen Sauerampferich Kerbelfeld hätte sie sich ganz bestimmt auch nach einem neuen Namen umgesehen. Das war sicher!