Biola und das geheimnis der alten Mühle. Thees Carstens

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Название Biola und das geheimnis der alten Mühle
Автор произведения Thees Carstens
Жанр Учебная литература
Серия
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783865067760



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er die Maus sehen, ohne in die Sonne zu schauen. Und dort würde er auch einen warmen Stein zum Schlafen finden. Während er durch das hohe Gras strich, flatterte ein Schmetterling an seiner Nase vorbei. Er flog über die duftenden Wildblumen und Kräuter in Richtung Waldrand. Dann machte er eine Wende und flatterte zum Hof von Müller Tom. Das kleine, aus Feldsteinen errichtete und efeubewachsene Haus döste zwischen zwei uralten Eichen vor sich hin. Aus seinem Inneren hörte man Edna, die Tochter des Müllers, singen und in der Küche mit dem kupfernen Wasserkessel klappern.

      Remus erreichte den Gemüsegarten. Mühsam kletterte er auf den Steinwall, der die wilden Kaninchen vom Salat fernhielt, und sah hinauf zum Mühlendach. Die Maus war noch da und werkelte an einem Stück Stoff herum. Plötzlich warf sie das weiße Tuch in die Höhe. Sie hatte etwas Schweres mit Bindfäden daran befestigt, sodass sich das Tuch wie ein Fallschirm öffnete und langsam zu Boden schwebte.

      Was für eine ungewöhnliche Maus!, dachte Remus. Der Fallschirm segelte herab und verschwand im hohen Gras. Remus gähnte. Er schloss die Augen und rollte sich zusammen.

      Biola hatte den Flug ihres kleinen Fallschirms verfolgt. Sie war tatsächlich eine ungewöhnliche Maus. Eine von der eher seltenen Sorte junger Mäusemädchen, die gerne widersprechen, ihren eigenen Kopf haben und auch sonst ziemlich neugierig und unvorsichtig sind. Sie schlich manchmal heimlich durch die Mühle. Das war eigentlich verboten, weil der Müller einen Kater hatte, Remus, und tagsüber viele Menschen durch die Mühle gingen: der Müller Tom selbst natürlich und seine Tochter Edna und viele Bauern, die Getreide in die Mühle brachten.

      Biola wusste, dass der Müller großen Respekt vor Mäusen hatte und dass er täglich Korn in die Mühle bringen ließ, um sich die Gunst der Mäuse zu erhalten. Das hatte ihr Großvater Mascarpone erzählt, und der wusste es von seinem Vater. Mascarpone war das Oberhaupt der Mäuse im Dachgeschoss des Mühlenturms. Er kannte sich aus, auch mit allen Gefahren. Täglich warnte er die Schlossmäuse vor den Ratten, die unter der Mühle in stickigen Gängen und feuchten Höhlen hausten und in der späten Nacht aus ihren Löchern krochen, um Getreide aus der Mühle zu stehlen. Man konnte sie im Dunkeln hören, und jede Maus hatte Angst vor ihnen, denn man kannte unheimliche Geschichten über ihre Grausamkeit. Aber merkwürdigerweise, oder besser gesagt zum Glück, kamen sie nie bis ins oberste Mühlenstockwerk. Hier stand das Mäuseschloss, in dem Biolas Familie zuhause war.

      Biola kletterte durch einen Spalt im Kupferdach der Mühle hinunter in das Dachgebälk. In der Mühle war es dunkel, und es roch es nach Holz und Mehl. Staub schwebte in den Sonnenstrahlen, die durch das löchrige Dach in das Gebäude fielen. Die Mühlenflügel standen still, und es war ganz leise. Flink huschte Biola von Balken zu Balken, hinüber zum Mühlengestänge und auf die großen hölzernen Zahnräder. Wenn das Mahlwerk nicht in Bewegung war, boten sie eine bequeme Abkürzung auf dem Weg zu Biolas Nest.

      Nach einigen Sprüngen hatte Biola ihr Zuhause fast erreicht – das Mäuseschloss. Es war eigentlich ein großer, ehemals weiß gestrichener Vogelkäfig aus Holz und Draht, sah aber aus wie ein alter indischer Palast mit Säulen, einer Kuppel aus Draht und einer Doppeltür, die nachts geschlossen wurde, wenn die Ratten in die Mühle kamen, um Korn zu stehlen.

      Der Mäusepalast mit der abgeblätterten weißen Farbe stand auf einem Berg aus Gerümpel, direkt vor einem Fenster im obersten Stockwerk der Mühle. Durch das Fenster hatten die Mäuse von ihrem Schloss aus einen weiten Blick auf die Wiese bis hinüber zum Wald, auf das Haus des Müllers, die alten Eichen und den Gemüsegarten.

      Der Gerümpelberg war ein großes Durcheinander. Kisten voller Werkzeug und Dinge, die man vielleicht noch mal gebrauchen konnte, stapelten sich da: ein Paar Stiefel, ein Regal, eine Tasche mit Büchern, ein kaputter Stuhl, eine Kiste mit Geschirr, mehrere Koffer mit alten Kleidern, ein Schaukelpferd, eine Hutschachtel, ein Reisekoffer, mehrere Laternen und vieles andere mehr. Und oben auf diesem Haufen stand das Mäuseschloss. Für die Mäuse war der Gerümpelhaufen des Müllers ein Paradies. Besonders die Kleiderkisten wurden von Biolas Familie und den anderen Schlossmäusen häufig aufgesucht, denn mit den Stoffen, die sie darin fanden, polsterten sie ihre Nester im Mäuseschloss aus.

      Biola liebte ihr Zuhause. Die Mäuse hatten Pappen als Zwischenböden in ihren Palast eingebaut und fünf gemütliche warme Nester eingerichtet. Für jede Mäusefamilie ein eigenes kleines Nest. Nur die Eingangshalle des Schlosses hatten die Mäuse nicht mit Papier und Stoff ausstaffiert. Hier trafen sich alle, wenn etwas Wichtiges besprochen werden musste, oder wenn Großvater Mascarpone eine seiner Reden über gefährliche Ratten und siegreiche Mäuse hielt.

      Den Boden der Eingangshalle bedeckte etwas ganz Besonderes: ein Stück Papier. Aber nicht irgendein Papier, sondern eine Preisliste aus einer Käsehandlung, die – trotz der langen Zeit, die sie hier schon lag – immer noch ganz wunderbar nach Käse duftete. Auf dem Papier stand oben „H. J. C. Käsespezialitäten“, darunter die Namen verschiedener Käsesorten mit den dazugehörigen Preisen. Auch Biolas Namen konnte man hier lesen, denn sie hieß eigentlich „Robiola“ — so wie ein berühmter italienischer Weichkäse. Fast alle Schlossmäuse hatten ihre Namen von dieser Liste: Großvater Mascarpone, Biolas bester Freund Cheddar, den alle „Ched“ nannten, Biolas Schwester Pecorini und auch ihre Mutter Ricotta.

      Ihre Tante Halbfettstufe hatte ihren Namen ebenfalls von der Liste. Das Wort „Halbfettstufe“ hatte für die Eltern von Biolas Tante nach einem ganz besonderen Käse geklungen.

      Tante Halbfettstufes Mann, Biolas Onkel Gorgonzolo, hatte man nach einem italienischen Blauschimmelkäse benannt. Auch Großvater Mascarpones Frau Camemberta hatte als Kind den Namen eines Käses von der Preisliste bekommen. Aber seit sie Mascarpone und die Mäusesippe eines Nachts vor langer Zeit verlassen hatte, sprach man ihren Namen nicht mehr aus. Biola wusste nicht warum, aber sie folgte dem Beispiel der Erwachsenen. Niemand, außer vielleicht Großvater Mascarpone, wusste, warum sie fortgegangen war oder wo sie lebte und ob sie überhaupt noch am Leben war.

      Einer der Wenigen, die keinen Namen von der Liste trugen, war Biolas Vater Koriander. Er war draußen am Waldrand aufgewachsen und hatte später in die Sippe der Schlossmäuse eingeheiratet.

      Biola sprang auf den Fußboden des obersten Mühlenstockwerks, da öffnete sich ein Flügel des Mäuseschlosstores, und eine junge Maus steckte ihre Schnurrhaare heraus. Als sie Biola kommen sah, piepste sie aufgeregt und lief den Gerümpelberg hinunter auf sie zu. Es war Biolas kleine Schwester Pecorini. „Zeigst du mir den Knopf?“, rief sie. „Zeigst du mir den Knopf? Du hast es versprochen!“

       Der Knopf

      „Nicht so laut“, sagte Biola zu ihrer Schwester, die wie ein kleiner Gummiball vor ihr auf und nieder hopste. „Ich zeige dir den Knopf! Aber mach nicht so einen Flohzirkus.“

      Pecorini stieß vor Freude einen kleinen Jauchzer aus und sprang noch ausgelassener herum als vorher.

      Der Knopf war Biolas größter Schatz. Sie hatte ihn bei einem der seltenen Ausflüge in den Gemüsegarten gefunden, den die Mäuse im letzten Sommer unternommen hatten. Und er war golden. Tom, der Müller, musste ihn verloren haben. An einem Sonntag, denn der Knopf gehörte zu seiner Sonntagsjacke. Biola und Ched hatte es einige Mühe gekostet, den Schatz nach Hause zu schaffen. Aber nun lag er gut versteckt irgendwo unter den vielen Kisten, Kästen und anderen Dingen, die der Müller im obersten Stock der Mühle lagerte.

      „Komm mit, Ini“, sagte Biola. Sie hüpfte auf eine Bücherkiste, kletterte hinein, huschte über die fleckigen Buchrücken und zwängte sich durch ein Loch in einer dunklen Ecke der Kiste hinaus in einen höhlenartigen, finsteren Gang zwischen einem Sack und einem Pappkarton. Biola drehte sich um. Sie wollte sehen, ob Pecorini ihr gefolgt war. Dann wandte sie sich nach links und kroch in eine Laterne mit zerbrochenen Gläsern.

      „Schneid dich nicht am Glas, Ini“, sagte sie.

      „Nein,