Franz spricht. Elisabeth Hauer

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Название Franz spricht
Автор произведения Elisabeth Hauer
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783990400289



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konnte in der Hauptstadt, wo Heinz K. und sie selbst zu Hause waren, den Namen und den Wohnort seiner geschiedenen Frau nicht finden. Trotz mühsamer Nachforschung in den Unterlagen von Meldeamt und Standesamt blieb ihre Suche ergebnislos. Sie konnte nicht wissen, dass die geschiedene Frau von Heinz K. nach der Geburt ihrer Tochter, deren Vater nicht Heinz K. war, ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte.

      Wenn ich immer wieder über meinen Bruder Paul nachdenke, und das muss ich während meiner Aufzeichnungen, fällt mir vor allem jene Geschichte ein, in die Franz in unguter Weise verwickelt gewesen war. Mein Vater war, wie gesagt, Gymnasiallehrer in der nahe gelegenen Kreisstadt. Paul und ich saßen in jenen Parallelklassen, in denen mein Vater nicht unterrichtete. Es war schon schlimm genug, in derselben Schule wie Vater zu sein. Jede kleinste Unregelmäßigkeit von uns Brüdern wurde ihm berichtet. Aber Paul fiel in der Schule nicht auf, und ich wollte nicht auffallen. Mädchen gab es in unserer Schule nicht. Eine Haushaltsschule, in der auch Englisch unterrichtet wurde, war die einzige Möglichkeit für Mädchen aus der Kreisstadt. Aus unserem Ort waren es nur zwei. Eine war die Tochter des Volksschullehrers, die andere die Tochter des Betreibers der Fabrikskantine. Ich fand beide nicht interessant. Wenn ich zurückrechne, war Franz damals vierzehn Jahre alt, ja, ebenso alt wie Paul. In jenem Sommer sprachen die Leute wochenlang über Franz. Aber nicht in gutem Sinn.

      Man muß sich vorstellen: Ein kleiner Ort, in dem jeder jeden kennt. Noch dazu ein Ort mit einer mit Fabrik und einer Arbeitersiedlung. In unserer Familie war es selbstverständlich, dass es keine Standesunterschiede gab. Stets predigte uns der Vater, dass wir nichts Besseres seien, dass wir eben nur andere Möglichkeiten hätten, uns fortzubilden. Paul sah es auch so. Ich, zwei Jahre älter, hatte meine Zweifel. Für mich waren die Menschen aus der Siedlung anders als wir. Von ihrer Art her. Von ihrer Lebensweise. Und von ihrer Moral. Das sollte sich an Franz bestätigen.

      Wir hatten Ferien, der Sommer war heiß. Fast jeden Tag fuhren meine Klassenkollegen und ich mit den Rädern zu dem kleinen Teich, der nicht weit entfernt in einer von Gras bewachsenen Mulde lag. Meistens war Paul mit, und wo Paul war, war auch Franz. Wir Sechzehnjährige kümmerten uns nicht um die Jüngeren. Schon gar nicht um Franz, der seine Hauptschule mit Müh und Not abgeschlossen hatte und im Herbst als Lehrling in der Fabrik anfangen würde. Trotzdem erweckte Franz unser Interesse. Wir wollten es nicht zugeben, aber wir beneideten ihn um sein Äußeres. Keiner von uns war so kräftig gewachsen wie er. Keiner von uns hatte wie er jene Hautfarbe, die auch im Winter noch aussah, als käme er gerade aus dem Süden. Keiner von uns hatte so helle blaue Augen.

      Und keiner von uns war so stark. Es war klar, dass Franz es jederzeit darauf anlegte, vor uns zu paradieren. Dann führte er imaginäre Boxkämpfe auf der Wiese aus, schlug Räder und zog sich mit kräftigen Klimmzügen hinauf in die Wipfel der Bäume oder sprang kopfüber ins Wasser. Nur wenn er sprang, schäumte das Wasser wie eine Fontäne auf. Wir konnten es noch so oft versuchen, es kräuselten sich nur die Wellen.

      Paul bewunderte Franz, er konnte es nicht verbergen. Franz wusste es. Trotzdem machte Franz den Eindruck, als sei er Paul untertan.

      Es war in diesem Sommer, als die Geschichte mit dem Mädchen geschah.

      Das Mädchen, ihren Namen habe ich vergessen, war die Tochter des Kantinenwirtes der Fabrik. Dieser Mensch, der die Arbeiter, vor allem was ihren Getränkebedarf betraf, ausbeutete, strebte nach Höherem. Deshalb schickte er seine Tochter in die Kreisstadt zur Schule. Uns Gymnasiasten war bekannt, dass sie mehr die Kaffeehäuser als den Unterricht besuchte. Sie war von einer etwas gewöhnlichen Hübschheit, die sie bewusst auszuspielen verstand. Mir gefiel sie nicht. Ich hatte für Reize dieser Art nichts übrig.

      In unserem Ort sah man sie mit verschiedenen Burschen herumflanieren. Wenn sie in der Kantine bediente, verschlangen sie die Arbeiter mit gierigen Blicken.

      An einem der Sonntage in diesem heißen Sommer trieb sie sich in der Nähe des Teiches herum. Es sah aus, als wollte sie Blumen pflücken, immer wieder bückte sie sich, ihr Rock rutschte hoch und gab ihre Schenkel frei. Die meisten von uns sahen immer wieder zu ihr hin, sie blieb in einiger Entfernung. Ich teilte dieses Interesse nicht. Aber an dem erst vierzehnjährigen Franz bemerkte ich eine sonderbare Unruhe. Das Mädchen entfernte sich von uns, kam wieder näher, tat, als hätte es was verloren. Der Blumenstrauß in ihrer Hand wurde nicht größer. Franz hatte sich nach einigen Darbietungen seiner Stärke wieder zu uns gesetzt. Die Nähe des Mädchens erfüllte uns alle mit einer seltsamen Unsicherheit, die wir mit Lachen und lautem Reden zu verbergen suchten. Sie ist nicht mehr da, sagte plötzlich einer, der wieder zu ihr hinsehen wollte. Franz, sagte ein anderer aufgeregt, Franz ist auch nicht mehr da. Wir konnten es nicht glauben. Aber es stimmte. Franz war verschwunden. Mein Bruder Paul, vierzehn Jahre alt, stand ruhig auf und sagte: Ich geh sie suchen. Wir, auch ich, fielen über ihn her. Lass sie doch, du bist verrückt, wer weiß, wo sie sind, was willst du tun, riefen wir alle durcheinander. Aber Paul war schon unterwegs. Erst nach einer Weile kam er allein zurück. Wir bestürmten ihn mit Fragen, er sagte, sie seien im Gras gesessen und Franz hätte das Mädchen gestreichelt. Nicht mehr sei gewesen. Zu Hause meinte er dann zu mir: Franz ist naiv. Nie denkt er, dass sein Verhalten Folgen haben könnte. Das Mädchen hat ein böses Mundwerk. Kann sein, sie hätte Franz gern in Schwierigkeiten gebracht. Ich hab mit ihr gesprochen. Sie wird nichts sagen. Typisch Paul.

      Sie sagte wirklich nichts. Aber alle anderen, die beim Teich waren, die zwar nichts gesehen hatten, aber deren Phantasie ausuferte, redeten im Ort darüber. Der Kantinenwirt wendete sich an Franz’ Vater, der seinen Sohn verdrosch. Unser Vater verbot Paul die weitere Freundschaft mit Franz. Es war sinnlos. Paul hätte sie nie aufgegeben.

      Als ich Franz wieder begegnete, gab er vor, mich nicht zu sehen. Bald aber war er wieder wie sonst, fröhlich, unbekümmert und stark. Damals dachte ich, Paul würde auch weiterhin auf ihn aufpassen müssen. Das tat er auch. Nur hörte er damit früher auf, als er es wollte.

      Wenn ich heute an den kleinen Teich denke, an die Wiese, an die Bäume, werde ich fast melancholisch. Das gab es nur damals, das gab es nur nahe unserm Ort. Trotz der Engstirnigkeit, die im Ort selbst herrschte, fanden wir in seiner Umgebung eine Freiheit, die es später nie wieder für mich geben sollte.

      Ich gehe jetzt meine Blumen gießen. Die Azalee ist mir eingegangen, wahrscheinlich habe ich sie zu feucht gehalten. Zu gern und zu oft nehme ich meine kleine Gießkanne zur Hand. Aber dem Schiefblatt tut es gut, es gedeiht, ich hab es schon lang.

      Vater, lass Heinz in Ruhe, er ist tot, sagte Miriam.

      Trotzdem, du sollst dich nicht kränken, Kind.

      Ich kränke mich nicht.

      Doch, du kränkst dich, ich sehe es dir an.

      Gut, ich kränke mich also. Wenn du es so willst.

      Du verstehst mich nicht. Wieder einmal.

      Hör bitte auf, mir was einzureden.

      Ich will nur, dass du dich nicht kränkst. Er verdient es nicht.

      Was er verdient oder nicht verdient, weiß ich wohl am besten.

      Ich denke, er wollte seinem Leben ein Ende setzen.

      Wahrscheinlich. Ja. Traurig genug.

      Sein Leben war ihm nichts mehr wert, glaube ich.

      Man kann in einen anderen Menschen nicht hinein schauen, Papa.

      Er war unglücklich.

      Schwermütig war er, mein Kind. Das war er schon in eurer Ehe.

      Wie willst du das wissen?

      Ich mach mir eben über alles Gedanken. Über alles, Miriam.

      Mach es dir leichter. Denk nicht soviel nach. Vor allem nicht über das Leben anderer.

      Meine Gedanken lass ich mir nicht verbieten. Von niemandem.

      Schon gut. Ich mach uns jetzt Kaffee.

      Warum hast du Klara nicht mitgebracht?

      Sie ist noch im Kindergarten. Ich hab mir früher frei genommen. Aber nächstes Mal bringst du sie mit, bitte. Ich warte darauf.

      Dagmar