Franz spricht. Elisabeth Hauer

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Название Franz spricht
Автор произведения Elisabeth Hauer
Жанр Современная зарубежная литература
Серия
Издательство Современная зарубежная литература
Год выпуска 0
isbn 9783990400289



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wichtige Vorfälle des täglichen Lebens sprach, dass man vergangene Ereignisse erwähnte und von Theateraufführungen berichtete. Nicht alles war für sie verständlich. Aber alles interessierte sie. Nun interessierte sie die Ursache seines Todes. Ihr Gefühl sagte ihr, sie würde dann mehr von ihm wissen. Sie glaubte nicht an einen Unfall.

      An einem Abend in Dagmars Wohnung hatte er erwähnt, dass er das nächste Mal nicht kommen könne, da er das Konzert eines bekannten Pianisten besuchen wollte. Kann ich da mit, hatte sie schüchtern gefragt. Später, hatte er gesagt. Vielleicht später.

      Er wollte ja nie mit ihr gesehen werden. Vielleicht hätte es sich einmal geändert, dachte sie. Später.

      Nach einer Nacht ohne Schlaf brach sie auf. Sie wollte zuerst ihre Schwester besuchen, die in einer ländlichen Kleinstadt wohnte.

      Am Tag nach jener Einladung begann es zu regnen. Eva hatte es vorausgesehen und für die kommende Woche einige Termine in der Stadt ausgemacht. Sie liebte das Leben auf dem Land, aber nicht bei schlechtem Wetter. Dann fühlte sie sich allein, dann wusste sie wenig mit sich anzufangen. Wenn sie an der Bibliothek vorbeiging, streiften ihre Blicke gelangweilt die Bücher. Nach Pauls Tod hatte sie das Lesen fast aufgegeben. Tageszeitungen, Zeitschriften nahm sie gern zur Hand, abends im Bett, nach dem Mittagessen. Für sich selbst kochte sie kaum. Sie lebte von Toast, fettarmer Suppe und magerem Fleisch. Diese Speisen herzurichten machte ihr keine Mühe. Trotzdem fühlte sie sich nachher müde, und sie verbrachte ein bis zwei Stunden auf ihrer Liege. Manchmal schlief sie ein, nachher bedauerte sie es, sie glaubte etwas versäumt zu haben, wusste aber, dass es nicht so war. Ihr Handy war immer griffbereit. Im Frühling, im Sommer bekam sie viele Anrufe. Im Herbst, im Winter, wurde es still bei ihr. Dann halfen nur mehr ausgedehnte Besuche in der Stadt.

      Die Bemerkung des Anwalts, der am Vortag berichtet hatte, dass Heinz K., den er persönlich gekannt hatte, so seltsam ums Leben gekommen war, hatte sie tief getroffen.

      Es war lang her, dass er sich von ihr getrennt hatte. Noch vor dem Schlafengehen holte sie ihren Kalender und sah nach, wann genau diese Trennung stattgefunden hatte. Wichtige Ereignisse, die ihre Person betrafen, zeichnete sie immer auf. Sie hatte sich richtig erinnert. Vor zwei Jahren, an einem einundzwanzigsten Februar, einem Freitag, war es gewesen. Da war er nach einem langen Arbeitstag in der Firma noch zu ihr gekommen. Eine weite Fahrt. Sie hatte ihn nicht erwartet. Sie trug einen Hausanzug, ein teures Modell, sie hatte sich vor dem Abendessen noch einmal zurechtgemacht. Das tat sie immer, auch wenn sie allein an ihrem Couchtisch saß. Ein Sandwich, ein Glas Wein, eine CD mit sanfter Musik. Den Fernseher hatte sie noch nicht eingeschaltet.

      Sie hörte, dass die Tür geöffnet wurde. Sofort dachte sie an Heinz K., der einen Schlüssel hatte. Sie erkannte seinen Schritt, hörte, wie er seinen Mantel aufhängte, die Schuhe an der Matte abstreifte. Sie wartete. Als er hereinkam, erschrak sie. Er sah blass aus, er hatte sich irgendwie verändert, sie hatte ihn seit mehreren Wochen nicht gesehen. Ab und zu hatten sie telefoniert, kurze Gespräche, wie geht es dir, was gibt es Neues. Dabei hatte er ganz normal geklungen, wie immer. Jetzt aber war es anders. Der Besuch, den er nicht, wie sonst, angekündigt hatte. Wie er sich dann langsam auf sie zu bewegte. Wie er sie mit heiserer Stimme fragte, ob er nicht störe. Wie er sich dann in einen der Fauteuils warf und stumm sitzen blieb, als hätte er ihre Gegenwart vergessen. Sie versuchte, ihn wie immer freundlich zu begrüßen.

      Schön, dass du kommst, sagte sie. Wenn ich dich auch nicht erwartet habe, ich freue mich.

      Du freust dich also, fragte er. Es klang, als würde er ihr nicht glauben.

      Sie schwieg und wartete, dass er weiter sprach. Manchmal gab es solche Momente bei ihm, wo sie nicht wusste, was ihn bewegte. Meistens riss er sich zusammen und begann mit ihr zu plaudern, sprach über Dinge, die sie gern hörte, gesellschaftliche Ereignisse, Geschäftsreisen in ferne Länder, Pläne, wieder einmal ein neues Auto zu kaufen, noch größer, noch stärker. Nun blieb er still. Sie ließ ihn, wartete, dachte kurz daran, dass es wichtig sei, immer so auszusehen, als käme ein angemeldeter Besuch. Sie wippte mit dem Pantoffel, der an ihren Zehenspitzen hing und versuchte die Angst, die langsam in ihr aufstieg, zu unterdrücken.

      Mit Heinz K. war irgendwas geschehen. Nichts Gutes, dachte sie, nein, nichts Gutes. Sie spürte das Klopfen ihres Herzens und gleichzeitig einen seltsamen Druck auf ihrer Brust.

      Mir gefällt mein Leben nicht mehr, sagte er nach Minuten der Stille. So ist das. Es gefällt mir nicht mehr.

      Evas Leben war sehr bewegt gewesen. Die Höhen hatte sie genossen, die Tiefen nicht ernst genommen. Aus kurzer Trauer war nie Schmerz geworden.

      Sie schaute ihn an und wusste nicht, was sie sagen sollte. Er stand auf und ging auf sie zu.

      Hast du mich verstanden? Mein Leben gefällt mir nicht mehr. Sie schluckte und war ratlos. Irgendwie spürte sie, dass sie die richtige Antwort nicht finden würde.

      Setz dich bitte, sagte sie. Ich bring dir was zu essen.

      Er setzte sich und verbarg den Kopf in seinen Händen. Die CD, die sie vor seinem Kommen eingelegt hatte, spielte noch immer. Sie spielte nun ein melancholisches Lied, und Eva hatte das Gefühl, sie müsste abdrehen, diesem Lied ein Ende machen, aber sie ging in die Küche und richtete ein Sandwich mit Salami und Schinken, dem sie besondere Aufmerksamkeit schenkte. Als sie damit in den Wohnraum zurückkam, war er aufgestanden und dabei, seinen Mantel anzuziehen.

      Was machst du, was willst du, fragte sie überrascht.

      Heimfahren, sagte er.

      Ich verstehe nicht, sagte sie.

      Er ging auf sie zu und strich über ihre Wange, dabei sah er sie nicht an. Du hörst von mir, meinte er noch.

      Seither hatte sie ihn nicht mehr gesehen. In der Woche nach diesem Abend hatte sie einen Brief erhalten, in dem er erklärte, er fände keine Liebe, kein Verständnis bei ihr, hätte es nie gefunden. Trotzdem. Die Zeit mir ihr sei schön gewesen.

      Die Erinnerung an Heinz K. war Eva nicht angenehm. Es geschah selten, dass sie einen Fehler bei sich suchte. Nachdem er sie verlassen hatte, hatte sie es kurz getan, war aber zu keinem Ergebnis gekommen.

      Die Nachricht von seinem plötzlichen Tod verwirrte sie, und sie begann wieder, sich Gedanken über Heinz K. zu machen.

      Ich habe jetzt nicht jeden Tag geschrieben, weil ich über meine Tochter nachdenken musste. Es ist so: Ich habe drei Tageszeitungen abonniert, komme aber oft nicht dazu, alle drei am Tag ihres Erscheinens zu lesen. Die gelesene Zeitung lege ich beiseite, die nicht gelesenen Zeitungen lege ich auf einen kleinen Tisch neben meinem Lehnstuhl. Am nächsten, am übernächsten Tag nehme ich sie mir vor. Stets lese ich sie alle, nie lasse ich eine aus. Wäre ja schade um das Geld. Aus diesem Grund habe ich nicht gleich von Heinz’ Unfalltod erfahren, die Zeitung, in der davon berichtet wurde, war bereits drei Tage alt. Abends rief ich Miriam zu Hause an, im Büro wollte sie keine Anrufe haben. Sie nahm nicht ab. Auch am Handy nicht. Das wunderte mich, sie hatte ja das Kind, wo sollte sie sein. Endlich, nach zwei Tagen, konnte ich sie erreichen. Ich weiß schon davon, sagte sie sofort, du brauchst es mir nicht zu sagen.

      Hat es dich bewegt, fragte ich. Ja und nein, antwortete sie. Also hat es dich schon bewegt, sagte ich. Papa, warum glaubst du immer, du könntest in mich hineinschauen, sagte sie, und ich spürte ihre Abwehr. Ich brauche dich also nicht zu trösten, meinte ich. Nein, sagte sie, wirklich nicht. Und sonst, fragte ich weiter, geht es dir gut. Ja, wie immer, erwiderte sie.

      Dieses Wie immer gefiel mir nicht. Hat mir noch nie gefallen. Deshalb begann ich über sie nachzudenken. Aber was hilft das schon. Beim eigenen Kind.

      Noch immer bin ich nicht dazugekommen, ausführlich über Paul zu schreiben. Ich habe mir überlegt, dass eine allgemeine Beschreibung seines Charakters nicht viel bringt. Besser ist, ihn durch seine Entwicklung, durch seine Handlungen lebendig werden zu lassen. An so vieles, was ihn betrifft, kann ich mich erinnern, vieles, was zwischen uns vorgefallen ist, steht klar vor mir. Meistens war ich der vom Unrecht Betroffene. Das macht mich vielleicht parteiisch. Aber ich kann alles nur aus meiner Sicht begreiflich machen.

      Ich erinnere mich zum Beispiel eines Herbsttages, als ich, ein momentaner Einfall,