Was du nie siehst. Tibor Baumann

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Название Was du nie siehst
Автор произведения Tibor Baumann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783943709766



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angesprochen zu werden und Hilfe angeboten zu bekommen.

      Aber die vielen Hände machen mich manchmal so wütend, dass ich die Leute gern anschnauzen würde. Oder zurückfragen möchte, ob sie jemanden brauchen, um zu warten. Ob ich verzweifelt auf sie wirke, oder warum ich zur Hölle als Quotenbehinderter für die gute Tat herhalten muss.

      Von solchen Gedanken wird mir leicht schlecht und ich schäme mich in mich hinein.

      Hin und wieder kann ich mich nicht beherrschen, wische die jeweilige Hand weg. Es ist vor allem das Anfassen. Irgendwie ist mir auch immer noch nicht klar geworden, warum ich angefasst werde, ich höre die Leute ja, wenn sie mich ansprechen. Und ich habe noch nie gedacht, dass da gerade ein wirklich netter Mensch den Blinden neben mir anspricht und Hilfe anbietet. Auch wenn ich nicht angefasst werde, ist mir klar, dass ich gemeint bin.

      So ähnlich wie die Frau vorhin wiederholend und be–to–nend gesprochen hat, so ist das Anfassen auch etwas, das einen kategorisiert. Kein normaler Mensch fasst einfach einen anderen, fremden Menschen an. Wenn man auf solche Gedanken kommt, ist man normalerweise ziemlich betrunken oder hält sich für unabkömmlich mit seinen siebzehn Jahren und kassiert dann eine saftige und berechtigte Maulschelle. Denn es dringt ungefragt in die Privatsphäre eines fremden Menschen ein. Obwohl mir jetzt noch niemand am U‑Bahnsteig an den Hintern gefasst hat und es bei mir ja nicht um sexuelle Belästigung geht. Was mich wütend macht, ist, dass ich zu behindert bin, um eine Privatsphäre zu haben.

      Aber es bleibt dabei, dass ich mich zu Recht schlecht fühle, wenn ich so denke. Zugegeben, mir ist auch schon der eine oder andere dumme, unfreundliche Scheißspruch rausgerutscht. Irgendwer hat mir mal erzählt, dass vor allem Blinde so reagieren: Lass mich, ich kann das. Keine Ahnung, ob das stimmt. Es tut mir für die Menschen leid, die über ihren Schatten gesprungen sind, sich dachten, Hey, vielleicht ist da was im Argen, und mich angesprochen haben und wegen meiner Abfuhr vielleicht nie wieder helfen. Weil der Blinde am Bahnsteig die Hand weggewischt hat und gefragt hat, ob ihm wieder jemand das Schild mit der Aufschrift

      HILFE!

      ICH BIN BLIND

      UND WEIT WEG VON ZU HAUSE

      umgehängt hat, wird er jemand anderen der Vorsicht halber ignorieren. Jemanden, der ihn auch so anschnauzen könnte. Jemanden, der Hilfe bräuchte. Und der keine bekommt, weil ich Vollarsch meinen Ich-kann-das-Finger-weg-Trip hatte.

      Diese Art von Trip hatte ich schon immer. Meine Mutter erzählt, dass ich schon als kleiner Junge einen furchtbaren Dickschädel hatte. Und natürlich alles selber machen wollte. Um diesen Drang in sich zu haben, die Welt entdecken zu wollen, Geschwindigkeit und Höhen und Tiefen und Grenzen austesten und erfahren zu wollen, dafür muss man nicht sehen. Aber es stellt eine ganz bestimmte Bedingung, wenn dieser Drang da, das Sehen aber fort ist.

      Meine ältere Schwester hat einmal gesagt, dass alles einen Sinn hat. Wenn ich sehen würde, meinte sie, dann wäre ich keine fünfunddreißig geworden, weil man mich dann mit achtzehn vom nächsten Baum hätte kratzen müssen, gegen den ich mit dem Motorrad gekracht wäre.

      Na ja, wer weiß, Sinn oder Nicht-Sinn – der Sinn »Sehen« fehlt auf jeden Fall. Ein Körnchen Wahrheit kann da schon dran sein.

      Das alles rattert durch meinen Kopf, während ich auf die U‑Bahn warte. Heute fasst mich niemand an. Ziemlich alleine stehe ich am Bahnsteig, bis die U‑Bahn Wind und dieses Pfeifen vor sich hertreibend einfährt. Ich gehe nach vorne, bis die rauen Linien unter meinen Füßen sind und folge meinem Stock über den schmalen Abgrund in den Wagon. Von der U‑Bahn sanft geschaukelt, lasse ich mich durch den Untergrund wieder zurück in bereits erschlossenes Terrain bringen und beschließe schon auf dem Weg, nicht nach Hause zu gehen.

      Ich habe keine Lust auf die Stille in meiner Wohnung.

      An meiner Haustüre vorbei gehe ich vom Tocken des Stockes begleitet die Straße hinunter, überquere sie geradeaus und komme im Engel an. Seitdem ich hier im Viertel wohne, hat er sich zu meiner Stammkneipe gemausert. Ein guter Ort, wenn man zu faul zum Kochen ist oder einfach ein bisschen Gesellschaft und ein kühles Bier sucht.

      Über den knirschenden Kies durchquere ich den kleinen Biergarten und betrete den langen Raum, den ich so gut kenne. Das Stimmengewirr ist klein, unterlegt von Musik. Es riecht nach Gastfreundlichkeit. Den hohen Tresen links von mir lassend, gehe ich an den kleinen Tischreihen rechts von mir entlang, ein Stückchen in den Raum hinein.

      »Hallo Hansi. Was treibt dich denn hierher?« Heikos runde, tiefe Stimme kommt vom Tresen.

      »Der Stock«, sage ich grinsend und ertaste mir einen Hocker am Tresen neben ihm.

      Die Gesellschaft von Heiko ist jetzt genau das Richtige. Mit ihm ist man nicht alleine, aber irgendwie auch nicht verpflichtet. Heiko geht auf die Sechzig zu. Er ist ein großer Mann, wirkt in seiner Art etwas einfach und bieder, ist aber eigentlich ein belesener Typ. Ein versteckter Arbeiterintellektueller oder so. Seine alte Schlosserwerkstatt um die Ecke hat er noch von seinem Vater geerbt, eine Sache, die immer seltener wird, aber gut zu ihm passt.

      »Siehst müde aus«, nuschelt er in seinen Bart.

      »War ein anstrengender Tag.« Ich rücke mich auf dem Hocker zurecht und lege die Arme auf den Tresen.

      Er nimmt einen tiefen Zug und stellt den Krug vor sich ab.

      »Servus Hansi, Bier? Magst was essen?« Tinas Stimme kommt von hinter dem Tresen, das Gemurmel der Gäste mühelos überflügelnd.

      »Ja, irgendwas mit viel Soße«, nicke ich ihr zu.

      »Der Heiko kann dir ja vorlesen, was es gibt«, sie grinst, das kann ich hören.

      »Ach was, Tina, das machst du doch viel schöner. Wir könnten deiner Stimme den ganzen Abend zuhören, wie du von Schweinebraten und Lamm und Bratkartoffeln und Klößen säuselst.«

      Tina liest mir vor, das tut sie gerne. Ich bestelle und nehme ein Bier dazu. Heiko und ich essen zusammen. Wir sprechen kaum, während wir essen, nur ab und zu ein paar kurze Sätze, das ist schön. Am Ende legt mir Tina einen großen Stapel Papierservietten hin. Es ist ein bisschen wie zu Hause.

      »Sag mal Hansi, du warst doch schon viel unterwegs. Ist es schwierig zu reisen?«, fragt Heiko nachdenklich.

      Ich weiß, dass er das nicht auf meine Blindheit bezieht.

      »Ja, aber es ist toll.«

      Er überlegt eine Weile.

      »Ich war noch nie fort. Wann gehst du wieder fort?«

      »In drei Monaten, Portugal«, stelle ich freudig fest.

      »Zum Surfen?«

      »Ja.« Ich versuche mir vorzustellen, dass ich bis dahin so entspannt bin, wie ich es jetzt, in diesem Moment, bin. Und scheitere.

      »Weißt du, Heiko, seitdem ich reise, fragen mich die Leute immer, warum ich das mache, also, weil ich ja das Land nicht sehe. Als ob man ein Land nur durch die Augen wahrnehmen würde. Oder ich nie wüsste, wo ich bin.«

      Heiko legt seine raue, abgearbeitete Pranke auf meine Hand. »Lass dir nur keinen Humbug erzählen. Die Leute wissen ja nichts über dich.«

      »Sogar meine Mutter versteht es nicht«, sage ich kopfschüttelnd.

      Heiko lacht dröhnend. Dann trinkt er und stellt den leer klingenden Krug auf das Holz vor ihm.

      »Du gibst einfach zu viel auf die Meinung von anderen.«

      Er bezahlt die Zeche und verabschiedet sich wie immer mit »Bis bald«.

      Zeit zu gehen, man kann nicht alle Probleme am Tresen lösen.

      Die Wohnung ist still. Ich schließe hinter mir die Wohnungstüre. Mein Stock kommt an die rechte Seite des Türrahmens. Immer; das ist wohl einer der wenigen, festen Plätze. Ich tappe durch die Wohnung, ein bisschen schwer vom Essen und vom Bier und setze mich, das Telefon mitnehmend, in die Küche. Am Küchentisch lege ich das Telefon vor mich. Ich könnte meine Mailbox abhören. Es könnte sein, dass jemand mein Handy gefunden hat.