Prothesengötter. Frank Hebben

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Название Prothesengötter
Автор произведения Frank Hebben
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957770820



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sich auf den Beifahrersitz gezogen hatte, sprang der Wagen erneut an und kroch im dritten Gang vorwärts, zur Kreuzung.

      Eine Gewehrsalve pflügte über die Kofferraumhaube; das Fenster platzte, als mehrere Kugeln in den Innenraum schlugen und die Polster zerfetzten. Céline schreckte auf, hätte fast die Kontrolle über das Lenkrad verloren. »Mein Bein«, schrie sie, »ich kann nicht runterschalten!«

      »Gib vorsichtig … Gas«, keuchte Ska, seinen Kopf gegen die Lehne stützend. Er stöhnte. Blut sickerte ihm aus Mund und Nase. »Der Flame kam rein, als ich die Apparaturen, den Kubus … benutzte. Hab nur ein Drittel der Memories im Kopf.«

      Kurz musterte sie ihn, die kalkweiße Haut, den Schweiß auf seiner Stirn; er zitterte stark. »Du, wie schlimm bist du verletzt?«

      »Ich glaub, ich pack’s nicht«, keuchte Ska und hustete Blut.

      »Quatsch«, sagte Céline hart, doch Tränen sammelten sich in ihren Augen, verschleierten ihr die ohnehin schlechte Sicht. »Klar kommst du durch, ich bring dich ins St. John.«

      »Nein!« Skas Brustkorb pumpte Luft. »Die stellen Fragen, bring mich nach Hause, ruf die Schwarze Ambulanz.«

      »Okay.« Mit der Handfläche wischte sie sich die Tränen ab, neue kamen nach. Céline fuhr einfach geradeaus, über die Kreuzung, weiter; und endlich zog der Wagen an und wurde schneller.

      Zwei Häuserblocks später griff Ska nach ihrem Arm. »Céline, halt an. Du musst dir die … Erinnerungen rausholen, jetzt sofort.«

      »Halt durch, ja?«

      »Sei … sei nicht dumm, fahr den Wagen rechts ran.«

      »Also gut«, sagte Céline erstickt. Etwas schnürte ihr die Kehle zu, sie konnte kaum atmen, als sie abbremste und den Wagen im Neonschatten einer Wäscherei stoppte. Von hinten wehte kalter Regen zu ihnen hinein.

      »Beeil dich, gleich bin ich weg.« Seine Augenlider flatterten, Ska starrte ins Leere. »Los!«

      Mechanisch holte Céline die Pistole und den Kubus aus der Tasche, legte beides aufs nasse Sitzpolster. Ein Kurzschluss knisterte über das Gehäuse; Céline bemerkte es nicht, als sie beide Haftungen anbrachte. »Okay«, flüsterte sie, hämmerte auf den Knopf:

      Und ein Strudel von Memories drang in sie ein – Bilder, Klänge und Empfindungen aus einem Leben, das nicht ihr eigenes war, und sich dennoch seltsam vertraut anfühlte: Kindheit, goldenes Viertel, Mord an ihrer Mutter, gravierte Klingen, Drache, Teufel, Schulfabrik, Einsamkeit, Untergrund, Spraydosen, Gefängnis, Waffen, Feuer über Feuer, ein Blitz, ein blauer Hund und dann Graffiti mit Knochen und Blumen und Tod, surreal und doch so echt, dass sich Mirós Erinnerungen mit den ihren mischten, sich beim dritten Kurzschluss miteinander verzahnten. Céline schrie auf, während sich das letzte Memory in ihr aufblähte wie eine Seifenblase und – zerplatzte! Schwärze und Rauschen. Skas Körper war kollabiert.

      Eine Neonrose als Schädel

      In den Dornenaugen

      Sterne

      Flaggen sprießen

      Aus dem Kiefer

      Farben der Revolution

      »Er ist tot, steig aus.« Das nachtblaue Auto hatte neben Céline angehalten, ein Fahrer und ein Mann hinten, der eine Waffe auf sie richtete, ebenso wie der Flame; er stand vor ihrem Fenster und blickte düster auf sie herab. Sein Monitorauge simulierte einen schnellen Wimpernschlag. »Steig aus, hab ich gesagt. Pronto!«

      »Ja, gut.« Unauffällig ließ Céline die Pistole in ihren Rückenbund gleiten und zerrte den Plastikmantel drüber. Sie nahm die Haftungen ab und stieg aus. Draußen trommelte Regen auf die Motorhauben.

      »Gutes Mädchen«, sagte der Flame und trat zwei Schritte zurück. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, mich verarschen zu können?«

      »Wieso bist du schon hier?«, fragte Céline. »Ich sollte dir die Memories erst morgens bringen.«

      Der Flame lachte freudlos. »Glaubst du wirklich, dass ich das Gelingen meiner Geschäfte allein in die Hände eines Kindes lege? Vier Sammler waren heute Nacht für mich unterwegs.« Der Gewehrlauf zeigte jetzt auf ihren Kopf. »Hast etwas, das mir gehört, Mädchen. Wir werden deinen Kubus be–«

      »Ka!« In einer geübten Bewegung sprang Céline über den Kofferraum, rutschte und fiel, drehte sich, zog die Waffe, kam hoch und feuerte drei Kugeln auf den Flamen und seine Begleiter ab. Mirós Erinnerungen halfen ihr; sie wusste, was sie tun musste. Die vierte Kugel durchschlug die Scheibe und den Brustkorb des Fahrers, die fünfte traf den Flamen an der Schulter, die sechste ging in seinen Kopf. Augenblicklich verlosch der Monitor und wurde grau, als der Flame steif wie eine Puppe nach hinten stürzte und reglos auf der Straße liegen blieb. Sein Blut trieb in eines der Abflussgitter.

      »Hau ab, sonst mach ich dich kalt!«, brüllte Céline den letzten Mann an. »Bitte, hau endlich ab!«

      Dieser ließ zögernd die Waffe fallen, kletterte aus dem Fahrzeug und rannte, rannte die Straße entlang und verschwand an einer Werbesäule.

      Céline atmete tief durch; sie ließ die Pistole sinken. Und dann übermannten sie Schock und Trauer, und sie heulte, mit zitternden Schultern, während der Regen fiel und fiel.

      Vom letzten Krieg

      Ein alter Bunker

      Jede Wand

      Bunt wie ein Falter

      Unten die Stahltür

      Mit Fabelwesen drauf

      »Mehr hast du nicht?« Der Schocksprayer schaltete den Kubus ab.

      »Eure Namen, eure Ziele, die Memories von eurem Versteck«, wiederholte Céline; sie nickte ihm zu. »Macht achttausend, plus ein warmes Abendessen.«

      »Okay«, sagte ihr Gegenüber und lächelte. »Dann sind wir im Geschäft.«

      Das Insekt ist zu mir geflogen, warum, weiß ich nicht. Falls es nicht aus einem benachbarten Container stammt, muss es den langen Weg durch die Lüftungsschächte genommen haben, das ganze verzweigte Röhrensystem hinauf bis zu meiner Arbeitszelle. Natürlich: kein echtes Tier, es gibt keine Insekten mehr in den Städten, zu heiß, zu viel Maschinenöl, zu viel Lärm, Elektrosmog und Dreck; doch die Kopie wirkt täuschend echt, solange ich mein Lupenauge nicht auf volle Brennweite stelle: Erst dann kann ich die Feinmechanik der Beine, Fühler und des ganzen Flugapparates sehen, ein Uhrwerk, das ins goldene Gehäuse eingepasst worden ist. Seine Flügel bestehen aus Glas.

      Wie ist es hier reingekommen?

      Hat es tatsächlich das ganze verzweigte Röhrensystem passiert, die riesigen Ventilatoren? Oder eine Fuge in einer Stahlwand gefunden, ein Loch vielleicht, ausgehöhlt von Regen, Korrosion? Ich zögere einen Moment; dann kopple ich mich vom Netzwerk ab, obgleich ich als Rechenknecht noch eine Reihe von Datenkaskaden zu verarbeiten habe, ehe meine Schicht vorbei ist – vorsichtig, ganz langsam entferne ich alle Licht-nadeln aus meinem Kopf.

      Durch die eingelagerten Informationen ist mein Schädel über die Zyklen hinweg angeschwollen, derart, dass meine Stirn vornüberhängt, aufgedunsen und weich wie ein Schwamm: Jede Nacht, jeden Tag wächst der Speichertumor weiter, um neue Zellverbände zu formen, Datenklassen, Unterklassen. Totes Gewebe wird nach außen abgegeben, bildet einen kupfernen Schorf auf der Haut, den ich ständig abschaben muss, eine lästige, schmerzhafte Prozedur, die ich gerne gelassen hätte; doch es juckt und brennt und kann sich rasch entzünden, wenn ich die Hygiene vernachlässige.

      Ich kratze mich an der Stirn, an Wangen und Hals, worauf ich das Interface wegschwenke und auf Standby schalte. Mein Zeitkonto ist stark überbucht, doch dieses Insekt fasziniert mich zu sehr: schließlich das erste Mal, dass so etwas geschieht. Gewöhnlich wird der Kalkulationsprozess durch Stromausfälle oder eine Verstopfung der Nahrungshähne gestört; auch kommt es vor, dass mein Wohncontainer in eine neue Stadt, Fabrik oder Großhalle transportiert wird – doch Besuch bekomme ich nie, obwohl der Codex eine Interaktion