Prothesengötter. Frank Hebben

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Название Prothesengötter
Автор произведения Frank Hebben
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783957770820



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      Den Blick gesenkt

      Das Mädchen auf dem Bordstein

      Gleiche Augen, gleiches Haar

      Das Kind in den Ruinen

      Lachen, irgendwo

      Der Regen fällt

      Céline schlug die Augen auf; ihr Herzschlag ging jetzt ruhiger, fast normal. Im Raum war es dunkler geworden. Motorengeräusche von draußen, die Jalousien flatterten.

      Das ist es noch nicht, dachte sie verbissen, während sie zum Kubus langte. Ich muss ihr Kurzzeitgedächtnis finden, die Erinnerungen von heute. Erneut drückte sie den Knopf.

      Grüne Götter

      mit Vogellippen

      5643843

      Im OP-Saal

      Kopf zu Kubus

      Und zurück

      Tote Namen, jeder ein …

      »Was geht hier ab, verdammt!« Ein Mann stand schwankend im Türrahmen, groß und hager, kurzes Haar. Er hielt eine abgesägte Flinte in den Händen. »Rede, du Pisser, sonst puste ich dir dein verschissenes –!«

      »Ich … ich weiß nicht!«, rief Céline starr vor Schreck; die Drähte des Kubus baumelten von ihrer Schläfe.

      Der Mann kam näher, drohend den Lauf der Waffe auf sie richtend. »Dir werd ich’s zeigen, Punk!«

      »Bitte nicht!« Céline wich zurück. »Das ist alles … ein Missverständnis.«

      »Klar, hast dich nur verlaufen, was?« Ein bellendes Lachen, dann blieb der Mann stehen. »Runter auf den Boden, das sag ich kein zweites Mal!«

      »Ja, gut«, keuchte Céline und überlegte fieberhaft, ob sie die Waffe oder die Gaspatrone einsetzen sollte. Ihre Finger glitten in die Tasche – etwas zu hastig; noch ehe sie einen der Gegenstände packen konnte, schoss der Mann ihr eine Ladung Schrot ins Bein.

      Die Gasmaske dämpfte den Schrei, als Céline das Gleichgewicht verlor und auf dem Teppich zusammensackte. Heftiger Schwindel kreiste durch ihren Kopf, drehte sich schneller – Wand, Kommode, Tür, Mann, Bett. Wie in Zeitlupe holte Céline die Patrone heraus, zerdrückte sie zwischen den Fingern. Sofort explodierte Dampf im Zimmer und verteilte sich rasch. Eva Conklin, die soeben vom Knall aufgewacht war, sank betäubt aufs Bett zurück; auch der Mann kippte nach hinten und prallte bewusstlos gegen einen Schrank.

      Céline versuchte, flach zu atmen, doch der Schock war zu stark. Sie keuchte, kämpfte gegen das Flimmern vor ihren Augen an. »Werd mir jetzt bloß nicht ohnmächtig«, flüsterte sie, wobei ihr Tränen in die Augen stiegen. »Nimm den Kubus und … hau ab!«

      Unter Schmerzen zwang sie sich, aufzustehen und zum Bett zu taumeln. Sie griff nach dem Transmitter. Steckte ihn ein. Schleppte sich zur Tür. Den Korridor entlang. Die Treppe runter. Auf die Straße hinaus. Alles wirkte verschwommen und traumhaft. Céline tastete sich an einer Wand entlang; am Ende der Häuserschlucht bog sie rechts ab und riss sich schreiend die Maske vom Kopf. Ihr Bein gab nach, sie hatte mehr Blut verloren.

      Rote Gänge

      Schwarze Pforten

      Stiergesichter

      Huf und Nüstern

      Lachend, höhnend

      Nur ein Faden

      Céline fiel ihm entgegen, als die Tür beiseiteglitt. Fast hätte sie der Punk nicht aufgefangen, das eingeworfene Twisted lähmte seine Reflexe; er sah nur einen spektralen Schatten auf sich zufließen. Schwerfällig breitete er die Arme aus, und Céline sank in seinen Ledermantel.

      »Ich wusste nicht, wohin«, keuchte sie und klammerte sich an seiner Schulter fest. »Mein Bein … Ich bin angeschossen worden.«

      »He, Mädchen«, sagte der Punk benebelt. Er sackte in die Knie, warf Céline auf den Teppich. Nur schleppend kamen ihm neue Worte über die Lippen: »Ist echt ungünstig … gerade.«

      »Kapierst du nicht? Ich verblute!«, schrie Céline panisch und streckte das Bein vor, damit er die blutnasse Hose sehen konnte.

      Mit großen Pupillen glotzte der Punk auf den bunt schillern-den Fleck. »Mann, was willst du von mir?«, hörte Céline ihn noch fragen, dann wurde ihr schwarz vor Augen.

      Die nächsten Stunden verliefen ruckweise, wie ein Diaprojektor, der auf Automatik stand, ein Foto nach dem nächsten: Taschenlampe vor ihren Augen. Eine Frau, die ihr das Hosenbein aufschnitt. Stimmen. Jemand steckte eine Kanüle in ihren Arm. Klare Flüssigkeit rann durch einen Schlauch. Drei Spritzen, danach taube Dämmerung. Die Frau vernähte ihre Wunden, eisblaue Fäden. Der saure Geruch von Erbrochenem. Zigarettenrauch, eine Kaffeetasse. Von irgendwo Musik. Noch immer Nacht.

      »Wie fühlst du dich?«, fragte der Punk und lächelte. Er strich Céline eine Strähne aus den Schmetterlingsaugen. »Hast du Schmerzen?«

      »Geht so«, erwiderte sie leise; ihre Stimme war spröde und kaum zu verstehen. »Danke.«

      »Schon okay.« Der Punk, er saß jetzt neben Céline auf der Bettkante, trank einen Schluck vom Kaffee. »Du schuldest mir dreihundert für die Schwarze Ambulanz und hundert extra für die Präparate.«

      »Hast mir das Leben gerettet, ähm …«

      »Ska, mein Straßenname.« Ein schiefes Grinsen. »Na, so schlimm war’s ja nicht. Ein Überfall oder so?«

      Céline hustete. »Kann ich was zu trinken haben?«

      »Sicher«, sagte der Punk und ging zu einer Kochnische, die im selben Raum stand. Unter fließendem Wasser säuberte er ein Glas, füllte es auf und kehrte damit ans Bett zurück. »Also, was ist mit dir passiert?«

      Ehe sie antwortete, nahm Céline das Glas und trank einen Schluck.

      Dann erzählte sie alles.

      »Was, du hast Memories geklaut?« Ska schüttelte den Kopf, seine Prismastacheln wackelten. »Bist doch viel zu jung für so’n Scheiß!«

      »Na ja«, begann Céline und schlug die Decke zurück; eine Bandage am Bein, Blutflecken drangen durch den Stoff. »Der Flame will mehr über einen Pharmakonzern wissen, Nova oder so. Pläne und Zugangscodes.«

      »Nova Medicals?«

      »Kann sein«, sagte Céline, die ihren Verband betastete. »Da drin gehen komische Sachen ab.«

      »Hm, hab davon gehört … künstliche Neuronen, Gedächtnisspeicherung.«

      Vorsichtig zog Céline ihren Rücken aufs Kissen und richtete sich auf. Sie musterte seine Narbe am Ohr. »Sagt dir der Name Elvira Miró etwas?«

      »Schaust wohl kein 5Sense, he?« Ska griff nach der Kaffeetasse. »Miró war Anführerin der Schocksprayer: Künstler, Terroristen, die sich seit Jahren mit den Bullen ein Katz-und-Maus-Spiel liefern. Ist letzte Woche erschossen worden, auf offener Straße.«

      »Ihr Kopf liegt bei Nova im Cryotank.«

      Prustend spie Ska seinen Kaffee in die Tasse. »Was?«

      »Wie, was?«, gab Céline zurück. »Die arbeiten an ihr.« Mit einer Hand stützte sie sich auf, schwang beide Beine zum Bettrand. »Muss langsam los. Das Geld kriegst du morgen, versprochen.«

      Ska hielt sie zurück. »Warte mal, wo willst du denn hin?«

      »Zum Flamen, die Memories tauschen, die Kohle abgreifen. Was sonst?« Céline hob ihre zerschnittene Hose vom Fußboden auf und zog sie umständlich über.

      »Hör zu«, sagte Ska und ein seltsamer Unterton schwang in seiner Stimme mit, halb nervös, halb aggressiv. »Denk doch mal nach, was du da hast, könnte unsere Fahrkarte raus aus diesem Rattenloch sein!« Die letzten Worte überschlugen sich fast. »Das Gedächtnis von Elvira Miró … Mann, das ist zwanzigtausend wert, bestimmt sogar mehr! Müssen es nur an die richtigen Leute verhökern.«