Kālī Kaula. Jan Fries

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Название Kālī Kaula
Автор произведения Jan Fries
Жанр Эзотерика
Серия
Издательство Эзотерика
Год выпуска 0
isbn 9783944180649



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(Höchste Śakti) als das absolute Bewusstsein, manchmal, aber nicht immer in Verbindung mit Sadāśiva (Ewiger Śiva). Parāśakti gebärt alles, ihr erstes Kind ist Śiva als formloses Bewusstsein. Śiva erschafft daraufhin Śakti als Bewusstsein, das sich in Form und Energie manifestiert. Aus dieser Śakti heraus kommt das ganze Universum zum Vorschein. Solche Modelle wurden bis zu einem erstaunlichen Grad von erleuchteter Komplexität entwickelt. Nun erscheint Śakti selten als solche. Im Allgemeinen manifestiert sie sich als eine von tausenden Göttinnen der populären Volksreligion. In Südindien liegt die Betonung auf gütigen und artigen Göttinnen, während das nördliche und östliche Indien die Kulte gefährlicher und zerstörerischer Göttinnen entwickelte. Ihre Kulte weisen einige radikale Unterschiede auf, abhängig davon, wie Du Dich der Göttin näherst und was sie mit Dir so anstellt. Aber die Dinge sind noch komplexer. Wie June McDaniel (2004 : 5) so nett zusammenfasst:

      Manche Shakta-Traditionen sagen, dass alle Göttinnen Manifestationen derselben großen Göttin sind, Adi Shakti oder Parama Shakti, während andere sagen, dass die vielen Göttinnen getrennt und einzigartig sind, oder manchmal, dass sie Manifestationen eines oder mehrerer Götter sind. Es gibt Shakta-Monismus, in dem alle Phänomene Teile der Göttin sind, deren tiefste Natur Brahman oder das universelle Bewusstsein ist. Es gibt Shakta-Monotheismus, in dem alle anderen Gottheiten Aspekte einer einzigen Göttin sind, die das Universum erschaffen hat. Es gibt Shakta-Dualismus, in dem das göttliche Paar Shiva und Shakti die Urgottheiten sind und Shakti die wichtigere Figur ist, die Mutter des Universums. Es gibt Shakta-Polytheismus, in dem viele Göttinnen große Macht haben und manchmal mit anderen Göttinnen oder männlichen Göttern um Macht und Anhänger kämpfen. Und es gibt Shakta-Henotheismus, in dem viele Göttinnen als legitim anerkannt werden, aber eine die mächtigste ist.

      Die Śāktas entstanden als ein Kult, der die göttliche Weiblichkeit verehrte. In ihrer Weltanschauung waren die Götter statisch und passiv (genau wie das Brahman), während die Göttinnen dynamisch, aktiv und lebendig waren. Die Śākta-Verehrung gedieh besonders in Orissa, Kaschmir, Gujarāt, Nordostindien, Bengalen, Assam und dem südlichen Himalaya. Im sechsten oder siebenten Jahrhundert begann die Bewegung nach einem einigenden Prinzip zu suchen, d.h. einer Göttin, die die vielen lokalen Göttinnen verkörpern konnte. Eine solche Göttin wurde einfach Devī genannt, ein Begriff, der wörtlich Göttin bedeutet, von dev-, die Strahlende, Leuchtende, Himmlische. Erstmals taucht sie im sechsten oder siebenten Jahrhundert im Devīmāhātmyam auf. Die Devī zieht Anhänger aus allen Klassen der Gesellschaft an. Viele Westler nehmen an, dass die Devī die verborgene Essenz aller anderen Göttinnen ist, eine einzelne Göttin, die sich in Myriaden von Formen manifestiert. Sozusagen das einigende Prinzip als Essenz aller speziellen Formen. Historisch gesehen war es andersherum. Tausende Jahre lang ist eine große Anzahl von Göttinnen verehrt worden. Jede von ihnen wurde von ihren Anhängern als die größte Göttin gepriesen, so wie jeder Gott als größter Gott von allen gefeiert wurde. Für jeden Anhänger war und ist die persönliche Gottheit die größte von allen. In diesem Sinne war die Devī die Summe aller Göttinnen, aber andererseits war die Devī nur die Manifestation der persönlichen Göttin. Jede Dorfgottheit ist für die Dorfbewohner die größte Göttin, die sich in den anderen Göttinnen und natürlich auch als Devī manifestiert. Ich betone diesen Punkt, weil es noch immer Autoren gibt, die verkünden, es hätte eine einzelne große Göttin (im Sinne eines Monotheismus) in der frühen Vorgeschichte gegeben, die später zu tausenden von separaten Göttinnen (Polytheismus) wurde. Die Göttinnen sind nicht einfach Aspekte einer großen Göttin. Manche Śāktas nannten sie Devī.

      Und auch hier gibt es ein interessantes Verständnisproblem. Wenn wir ‚die Göttin‘ sagen, tun wir etwas, was in der indischen Literatur gar nicht möglich ist. Wie Constantina Rhodes (2010 : 19) so schön hervorhebt, gibt es in der Devanāgarī-Schrift ja keine Groß- und Kleinschreibung, wodurch Nomen und Namen nicht unterschieden werden. Daher kann ein beliebiger Begriff auch als Name verstanden werden. Dazu kommt, dass im Saṁskṛta keine definierten und undefinierten Artikel verwendet werden: die Göttin ist also auch eine Göttin und vor allem nur Göttin. Die Idee einer separaten, einzigen, von anderen abgesetzten Göttin ist also in europäischen Sprachen viel tiefer verwurzelt als im indischen Denken. Devī war nur eine Kandidatin. Andere Śāktas hatten eine ähnliche Idee und versuchten, Lalitā als die große Göttin einzusetzen. Oder sie bevorzugten Kālī, Lakṣmī, Tārā oder Durgā. Es gibt keine einzige große Göttin im indischen Denken, aber Du kannst vielen Indern begegnen, die darauf bestehen, dass ihre persönliche Gottheit die größte ist oder alle anderen in sich beinhaltet.

      Kommen wir nun zur Verehrung: Die Śākta-Verehrung kann mehrere höchst unterschiedliche Formen annehmen. Sie kann intellektuell oder ungebildet sein. Sie kann still und gelassen sein wie in einer ruhigen Meditation, oder ekstatisch und verrückt wie in den schamanischen Kulten der göttlichen Besessenheit. Sie kann auf obskuren Tantras oder weithin bekannten Purāṇas basieren. Sie kann volkstümliche Verehrung mit Ritual und Opferung sein, sie kann in den höchst raffinierten Riten der inneren (meditativen) Alchemie zum Ausdruck gelangen oder Bhakti sein und extreme Emotionalität und liebende Hingabe verlangen. Oder eine Mischung von allem. Wie Du siehst, ist das Wort Śākta ein sehr loser Begriff, der auf vielerlei Weise verstanden werden kann. Und mit der Erscheinung der Śāktas sind wir glücklicherweise am Beginn der tantrischen Epoche angelangt.

      Bild 16

      Nandi bei Nacht

       Kapitel 3

       Die Textur des Tantra

       Zwielichtsprache

      Wenn Du ein paar authentische tantrische Texte gelesen hast, wird Dir klar sein, dass ihre Inhalte üblicherweise in einer höchst metaphorischen Form verschleiert sind. Anders als die meisten Bücher vermitteln sie ihre Botschaft nicht, indem ein Autor einfach zu den Lesern spricht. Der Rahmen der meisten Tantras ist ein Dialog zwischen einer Form von Śiva und einer Form von Śakti. Der Leser ist eingeladen, diesem Dialog beizuwohnen, der Autor bleibt im Hintergrund. Die Frage nach der menschlichen Person des Autors wird irrelevant; der Text ist im Grunde das, was Du daraus machst. Die meisten tantrischen Werke machen Gebrauch von einer Reihe von Schlüsselkonzepten, aber wie Du bald erkennen wirst, werden diese Konzepte nicht immer auf dieselbe Weise interpretiert. Es gab niemals einen Konsens über die Terminologie der tantrischen Linien. Jede Metapher hat mehrere Bedeutungen und ist auf eine Art codiert, die eher andeutet als definiert. In dieser Hinsicht ähnelt Tantra den codierten Lehren der Eddas, der Qabala, den alchemistischen Schriften der Daoisten oder der visionären Raserei der keltischen Barden. In jedem Fall ist die Bedeutung nicht offensichtlich, und wenn sie für einen kurzen und überraschenden Augenblick offensichtlich erscheint, wirst Du bald ein anderes Geheimnis finden, das dahinter lauert. ‘Worum zur Hölle geht es da überhaupt?’ ist eine gute Frage, egal ob es um mystische Schriften oder um Kunstwerke geht.

      In der tantrischen Literatur stoßen wir häufig auf Beispiele von Sandhyā Bāṣyā, der sogenannten ‘Zwielichtsprache’. Dieser Begriff ist nicht ganz eindeutig. Frühe Übersetzer betrachteten das Sandhyā Bāṣyā als eine Sprache von Rätseln und Mysterien. Haraprasād Shāstri (1916, zitiert von Eliade 1960) erklärte, dass der Begriff ‘Zwielichtsprache’ bedeutet, hauptsächlich deshalb, weil Sandhyā ‘Zwielicht’ heißt. Im Jahre 1928 erklärte Vidushekar Shāstri, dass der Begriff eine Verfälschung von Sandhāyā ist, was ‘absichtlich’ bedeutet. Nach seiner Meinung ist die Geheimsprache nicht zwielichtig und diffus, sondern zielt mit voller Absicht auf etwas ganz Spezifisches ab. In beiden Interpretationen liegt etwas Wahrheit. Einerseits sind die Metaphern voll von einer geheimen und verborgenen Absicht, andererseits sind sie zwielichtig darin, dass sie halb suggerieren und halb definieren und vieles der eigenen Interpretation überlassen. Eliade bevorzugte die „absichtsvolle Sprache“, so wie auch andere, die glaubten, dass etwas Bestimmtes hinter jedem seltsamen Stück Symbolismus versteckt ist. Das ist allerdings nicht immer