„. . . in einer steinernen Urkunde lesen“. Ulrike Glatz

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Название „. . . in einer steinernen Urkunde lesen“
Автор произведения Ulrike Glatz
Жанр Историческая литература
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Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783943904499



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die Bevölkerung hatte die außerhalb der Pfalz gelegene Remigius-Kirche.

      Ingelheim, Kaiserpfalz, staufische Stadtmauer und Apsis der karolingischen Aula Regia

      Ein monumentaler Halbrundbau von knapp 90 m Durchmesser schloss den Pfalzbezirk nach Süden ab. Im Scheitel befand sich das sog. Heidesheimer Tor, von dem Teile im staufischen Umbau erhalten sind. Das Halbrund umstanden außen sieben Rundtürme. Im Inneren verlief ein Säulengang, in dem römische Spolien wie Säulenschäfte, Basen und Kapitelle verbaut waren. Der prachtvolle Halbkreisbau hat seine Vorbilder in der römischen Villen- und Palastarchitektur. Die Ingelheimer Kaiserpfalz war wohl um 800 vollendet, dürfte also etwas älter sein als die Pfalz in Aachen. Anlass für diesen in vieler Hinsicht ungewöhnlichen Bau war ein gesteigertes Repräsentationsbedürfnis möglicherweise in Zusammenhang mit der Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahre 800 in Rom.

      Karl der Große hielt sich mehrfach in Ingelheim auf, gelegentlich auch über den ganzen Winter, feierte hier Weihnachten und Ostern, berief Hoftage ein. Auch weitreichende politische Entscheidungen wurden hier getroffen, wie die Entmachtung des Bayernherzogs Tassilo, verbunden mit der Aufhebung des Herzogtums Bayern.

      Karls Sohn und Nachfolger Ludwig der Fromme besuchte Ingelheim ebenfalls recht häufig. Hier empfing er Gesandtschaften ausländischer Herrscher wie des byzantinischen Kaisers Theophilus. Wenn in Ingelheim Reichsversammlungen abgehalten wurden, hatte die Pfalz in dieser Zeit den Rang eines repräsentativen kaiserlichen Wohnsitzes. Schwer erkrankt ließ sich Ludwig auf eine der Pfalz vorgelagerte Insel im Rhein bringen. Dort starb er 840 in Anwesenheit des Mainzer und des Trierer Bischofs. Nach seiner Bestattung in Metz folgte eine Phase des Stillstandes. Seit dem 10. Jh. wurde unter den ottonischen Herrschern wieder gebaut. Eine monumentale Saalkirche mit mächtigem Querhaus entstand, die kleine Pfalzkapelle verlor ihre Bedeutung. Regelmäßig feierte Otto der Große in Ingelheim nun die Osterfeste mit großer Prachtentfaltung. Synoden (Kirchenversammlungen) wurden abgehalten und wichtige Zusammenkünfte arrangiert. Kaiserin Theophanu beriet sich in der Pfalz mit Erzbischof Willigis von Mainz.

      Zu einer besonderen Begegnung kam es 1163, als Friedrich I. Barbarossa sich hier mit der Äbtissin Hildegard von Bingen traf (s. Disibodenberg S. 42). Aus Respekt vor Karl dem Großen hatte Friedrich I. die Pfalz erneuern und zu einer befestigten Burg ausbauen lassen. Doch nach ihm erlosch das Interesse endgültig.

      Das Pfalzgebiet wurde 1402 zur Bebauung frei gegeben. Die Folge waren Abbrüche, um Baumaterial zu gewinnen, sowie eine ungeordnete Bautätigkeit, welche die Struktur verunklärte. In den folgenden Jahrhunderten wurde Nieder-Ingelheim durch Bauten verschiedenster Art überformt. Die Reste der ehemaligen Kaiserpfalz verschwanden in und unter neuen Häusern. Erst seit dem 19. Jh. und vor allem in den letzten Jahrzehnten haben archäologische Grabungen in Verbindung mit Freilegung und Restaurierung karolingischer Befunde entscheidend zur Anschaulichkeit beigetragen.

      Heute ist die Ingelheimer Kaiserpfalz in Verbindung mit Museum und Besucherzentrum ein historischer Ort, an dem man königliche bzw. kaiserliche Repräsentation von der Zeit Karls d. Großen bis zum Ende der Stauferzeit nachvollziehen kann. Aula Regia und Halbkreisbau gehören zu den herausragenden Zeugnissen karolingischer Architektur in Deutschland.

       www.kaiserpfalz-ingelheim.de

      Literatur

      Holger Grewe, Die Ausgrabungen in der Königspfalz zu Ingelheim am Rhein, in: Deutsche Königspfalzen, Hrsg. Lutz Fenske u. a., Göttingen 2001, S. 155ff.

      Holger Grewe, Ingelheim in der Pfalz Karls d. Großen, in: Kreuz, Rad, Löwe (Darmstadt 2012), S. 245ff.

      Wolfram Letzner, Die 50 bekanntesten archäologischen Stätten Deutschlands, Mainz 2013, S. 100ff.

      Er war ein Mann von großer Klugheit, der zur Zeit des jugendlichen Ludwig über das Reich der Franken mit brennender Sorge wachte, viele Zerwürfnisse im Reich einer Versöhnung zuführte …

      Unweit von Bingen liegt auf einer Felseninsel im Rhein der sog. Mäuseturm, ein im Kern mittelalterlicher, mehrgeschossiger Bau. Die neben der Loreley-Sage bekannteste Sage des Mittelrheins bringt ihn mit dem Mainzer Erzbischof Hatto in Verbindung. So soll Hatto in Zeiten einer großen Hungersnot die Armen in einer Scheune zusammen gerufen haben. Dann befahl er, die Scheune anzuzünden. Als er das Jammergeschrei hörte, bemerkte er: „Hört ihr, wie die Mäuse pfeifen?“ Alsbald verfolgten ihn Mäuse, er floh auf den Turm im Rhein, doch die Mäuse kamen durch das Wasser hinter ihm her und fraßen ihn auf.

      Der historische Ausgangspunkt der Sage liegt in karolingischer Zeit. Im 9. Jh. re­gierten in Mainz zwei Bischöfe mit Namen Hatto, Hatto I. (891–913) und Hatto II. (968–970).

      Bischof Hatto I. stammte aus dem alemannischem Adel; er wurde um 850 geboren. Über seine frühen Jahre ist wenig bekannt, seit den 880er-Jahren gehörte er zu den Beratern König Karls III. Als Abt des Klosters Reichenau wurde er 888 eingesetzt, wenige Jahre später zum Erzbischof von Mainz ernannt (892), blieb aber gleichzeitig Abt der Reichenau. Dem einflussreichen Bischof kam eine besondere Rolle im Reich zu, in dem in der zweiten Hälfte des 9. Jhs. infolge häufiger Reichsteilungen instabile Verhältnisse herrschten. Er fungierte in der Regierungszeit dreier Könige (Arnulf von Kärnten, Ludwig das Kind und Konrad I.) als „Königsmacher“ und galt als „Primas von Germanien“ (so Abt Regino von Prüm in einer Widmungsanrede).

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      Bingen, Mäuseturm mit Burg Ehrenfels (hist. Aufnahme)

      Auch als Stifter von Kirchenbauten und Kunstwerken ist Hatto bekannt. Es wird berichtet, dass er vor einer Reise nach Italien seine mitgeführten Schätze seinem Freund, Bischof Salomo von Konstanz, übergab „aus Misstrauen gegen seine Mainzer“, mit der Bitte, die Schätze zu seinem Seelenheil zu verschenken, sollte er von seinem Tod hören. Salomo verkündete wahrheitswidrig den Tod Hattos und verteilte die Schätze an die Armen und an die Kathedrale von Konstanz. Hatto beließ es bei seiner wohlbehaltenen Rückkehr aus Italien dabei. In Mainz erbaute er den „Alten Dom“ (wohl die heutige Johanniskirche). Über Hattos Tod im Jahr 913 wurden verschiedene Versionen verbreitet. So soll er durch eine List den Grafen Adalbert von Babenberg an den König (Ludwig das Kind) ausgeliefert und somit dessen Hinrichtung zu verantworten haben. Deshalb sei er eines plötzlichen Todes gestorben, sein Grab ist nicht bekannt. Das fehlende Grab hatte zur Folge, dass im 13. Jh. die Mär aufkam, Hatto sei von Teufeln gepackt und in den glühenden Schlund des Ätna geworfen worden. Ebenfalls im 13. Jh. entstand die Version der Verfolgung durch die Mäuse, die aber vornehmlich Bischof Hatto II. angedichtet wurde. Dieser zweite Hatto hat allerdings nur zwei Jahre regiert; über sein Leben und Wirken sind wenig gesicherte Quellen bekannt. In dieser Zeit ist aus Hatto I. der grausame Bischof geworden, dem man viele Untaten anlastete, obwohl ihn seine Zeitgenossen als mächtigen, klugen, großzügigen und kunstsinnigen Mann beschrieben haben.

      Spätestens seit der Erfindung des Buchdrucks findet die Hatto-Sage weite Verbreitung. Während der Reformationszeit wurden die Geschehnisse instrumentalisiert, der Wahrheitsgehalt geht unter im Streit der protestantischen Gegner und der katholischen Verteidiger des Bischofs. Seit dieser Zeit werden beide Bischöfe vertauscht, die Geschichte wird endgültig unübersichtlich. Auch der Turm im Rhein bei Bingen wird im 16. Jh. in die Erzählung mit einbezogen. Abbildungen des Turmes mit Mäusen finden sich u. a. in Sebastian Münsters Cosmographia (1545).

      Vermutlich