Название | Zivile Helden |
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Автор произведения | Peter Jehle |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867549547 |
Unter welchen Bedingungen letzterer im bürgerlichen Theater wieder verwertbar wird, zeigt ein Blick auf Justus Mösers Konstruktion des »Grotesk-Komischen«, in dessen Reich Harlekin – gegen die »Herren Gelehrten«, die »nach Gründen« ausrechnen, ob seine Vorstellungen »gefallen können« (1761/1968, 10) – das Zepter führt. In Frontstellung gegen seinen plebejischen Verwandten, »Hanß Wurst« – der »nie von meiner Familie gewesen« (28) –, beansprucht der mösersche Harlekin eine staatstragende Funktion: In seiner »komischen Republik« will er das Amt eines »Controlleurs der Sitten« (27) bekleiden, indem er dasjenige, »was man in der Malerey Karikatur nennt, und welches in einer Übertreibung der Gestalten besteht« (21), auf die Bühne transponiert. Wer von der Großmacht des Schönen geduldet sein will, muss bescheiden auftreten: Wie die »groteske Malerey an keinem Hauptgebäude leicht Platz findet«, so verlange auch er nur ein »Nebenzimmer auf der Bühne« (24), ohne den akkreditierten Kunstformen – er nennt Oper, Trauerspiel, die »eigentliche Komödie«, das rührende Lustspiel (11) – den ihnen gebührenden Platz zu bestreiten. Doch indem er sich als einen »nothwendigen und angenehmen Bürger« (12) vorstellt, schreibt er dem »Grotesk-Komischen« einen legitimen ästhetischen Status zu. Einmal ausgestattet mit den niederen Weihen, ›durchläuft‹ das Grotesk-Komische die verschiedenen Abteilungen im Reich des Schönen und wird im wörtlichen Sinne zum ›Diskurs‹. So kann der Literaturhistoriker Friedrich Karl Flögel zwanzig Jahre später bereits eine »Geschichte des Grotesk-Komischen« (1788/1862) bieten, in die alles eingemeindet wird, was die dem ›guten Geschmack‹ abgewandte Seite der Geschichte hervorgebracht hat und sich vorderhand nur aus sicherem Abstand – wie Raubtiere hinter Gittern – betrachten lässt.
1.2 Der Aufstieg des Schauspielers in die société civile
Die Vertreibung des Narren ist nur ein Element in der Formierung einer in Paris ansässigen, von der Staatsführung protegierten Schauspielerelite. Die Triebkraft, die zur Bildung dieser Elite führt, geht »von unten«, von den Schauspielern selbst aus. Die Beschreibung der Zuschauer vom Beginn des 17. Jahrhunderts, die wir dem Komiker Bruscambille verdanken, unterscheidet sich in puncto Aufmerksamkeit für das auf der Bühne Gezeigte kaum von dem, was wir aus Zeugnissen des 18. Jahrhunderts wissen: »à peine entrés dans ce lieu de divertissement, dès la porte, vous criez, à gorge déployée: commencez, commencez […] Mais c’est encore bien pis quand on a commencé: l’un tousse, l’autre crache, l’autre pette, l’autre rit, l’autre gratte son cul« (1610, zit. n. Auerbach 1933a, 17). Auch wenn die petits-maîtres auf den Bühnenplätzen sich nicht am Hintern kratzen oder auf den Boden spucken, verfügen sie doch über geeignete Methoden, um auf sich aufmerksam zu machen. Der Mercure de France schreibt im Juni 1750, anlässlich von Voltaires Oreste: »Les cris de Clytemnestre, qui faisaient frémir les Athéniens, et qui feraient la même impression sur les Français, qui ont une âme sensible et le goût du grand pathétique, ces cris qui seraient si touchants, si pénétrants dans le silence, pourraient-ils surmonter les bruyants éclats d’une jeunesse brillante et inattentive, qui daigne à peine laisser couler les acteurs jusqu’à une petite partie du théâtre qu’elle semble leur laisser à regret« (zit. n. Lagrave 1972, 110f). Die petits-maîtres sind die ›Halbstarken‹ des 18. Jahrhunderts, die den bürgerlichen ›Spießer‹, der nur wegen des Stückes gekommen ist, schockieren wollen. Nur dass, im Unterschied zu den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, die Bürger die neue Haltung des sinnverstehenden Zuschauens verkörpern, während die aristokratischen ›Halbstarken‹ die eigentlichen ›Spießer‹ sind, insofern sie, indem sie sich selbst in Szene setzen, nur das tun, was sie immer getan haben. Ihr Auftreten trägt männerbündische Züge. Anders als das spanische Abbild, der »petimetre« (vgl. Teil II), brilliert das französische Vorbild durch Frauenfeindlichkeit, Trinkfestigkeit und aggressives Gehabe, dessen Norm der Bruch jeder Norm ist (vgl. Deloffre 1955, 22). Ihr Verhalten ist Protest gegen die höfische wie bürgerliche Lebensweise: Indem sie ihre wahre Gesinnung zur Schau stellen und sie gleichzeitig übertreiben, bedienen sie mit umgekehrtem Vorzeichen die höfische Kunst des Scheinens und verachten zugleich die bürgerliche Norm, die die wahre Gesinnung in ihrem rechtschaffenen Ausdruck, ohne alle Übertreibung, verlangt. Sich im Glücksspiel zu ruinieren gehört ebenso zum guten Ton wie ein bestimmter Sprachgebrauch. Kurz, der petit-maître selbst existiert nur als permanente Inszenierung seiner selbst, die im Theater in Konkurrenz treten kann mit dem dargebotenen Stück. In Deutschland bekundet sich die bürgerliche Umwertung des Wortes (»Kleinmeister«), das im 18. Jh. gebräuchlich wird, in der Vermutung: »eig. wol einer aus niederm stande der den groszen herren nachahmt […], dann einer der die kleinen künste der franz. gesellschaft betreibt um etwas zu gelten, besonders bei frauen« (Grimm, Stichw. »Kleinmeister«).
Im Parterre, auf den mit Abstand billigsten Plätzen29, ist es um die Aufmerksamkeit nicht besser bestellt. Durch keine festen Sitzreihen behindert, können sich die Zuschauer während der Aufführung frei bewegen. Vor allem anlässlich der Gratisvorstellungen an großen Feiertagen werden die Theater von »petites gens de toutes catégories« (Lagrave 1972, 214) in Besitz genommen; selbst die Logen sind dann fest in ihrer Hand: nur die Tabakspfeifen hätten noch gefehlt, denn »le pain, les cervelas, les tasses et les bouteilles y étaient en grand mouvement«, heißt es in einem sarkastischen Bericht im Mercure de France vom November 1728 (zit. n. ebd., 215).
Kein Wunder, dass die Schauspieler den nur hörenden und sehenden, den aufmerksamen Zuschauer wollen, der allein wegen der Aufführung kommt: »Toutes choses ont leur temps, toute action doit se conformer à ce pourquoy on l’entreprend. Le lit pour dormir, la table pour boire, l’hôtel de Bourgogne pour ouir et voir, assis ou debout, sans bouger, non plus qu’une nouvelle épousée« (Bruscambille 1610, zit. n. Auerbach 1933a, 17f). Aber noch im 18. Jahrhundert gilt in Kreisen der vornehmen Welt als »bourgeois«, wer zuhören will (vgl. Lagrave 1972, 420). Die Frage der Aufmerksamkeit ist mithin sozial überdeterminiert. Nur der »marchand du coin«, nicht aber »nous autres gens d’une certaine façon«, sagt Almaïr, kommen wegen des Stücks; »on vient ici pour voir les femmes, pour en être vus« (1746, zit. n. ebd.). Wie in Spanien ist das Theater das Terrain einer symbolischen Geschlechter-Jagd, bei der die Bewaffnung mit der lorgnette – von der auch auf den billigen Plätzen ausgiebig Gebrauch gemacht wird – unverzichtbar ist. Sie verleiht die gesteigerte Sehkraft, um die Objekte der Begierde in gebotener Präzision in Augenschein nehmen zu können. Im übrigen gilt dies fürs Jahrmarkttheater noch mehr, wird doch hier nicht nur der Ort der Aufführung, sondern das Ambiente insgesamt zum ›Theater‹, vor allem in der Zeit zwischen 20 und 22 Uhr, wenn die Aufführung zu Ende, das Gelände seine Pforten aber noch nicht geschlossen hat: »Toutes les boutiques sont éclairées par des chandelles très bien rangées, et à ce moment la presse est si grande qu’on a de la peine à se frayer un passage. Là, tout est pêle-mêle, maîtres, valets et laquais; filous et honnêtes gens se coudoient. Les courtisans les plus raffinés, les filles les plus jolies, les filous les plus habiles sont comme entrelacés ensemble« (Nemeitz, zit. n. Lagrave 1972, 253). Den Jagdgebieten