Zivile Helden. Peter Jehle

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Название Zivile Helden
Автор произведения Peter Jehle
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783867549547



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Stadt, ›elegant‹ und das heißt v. a. erfolgreich in Bezug aufs andere Geschlecht in Erscheinung zu treten vermag. Wo immer ›man‹ in der Öffentlichkeit auftritt, ist die Richtung aufs andere Geschlecht die dominante Linie, auf der sich die individuelle Handlungsfähigkeit bewähren muss. Wer hier in Anspruch genommen ist, muss dem Bühnengeschehen die Aufmerksamkeit versagen – wie umgekehrt die Frauen alles tun, um mit Hilfe von Kleidung, Schmuck und Schminke die Blicke auf sich zu ziehen.30 Die Umkodierung des Galanten, das, reduziert auf die Gestalt des Ehebruchs, den moralischen Abscheu des Bürgers erregt, findet im Grimmschen Wörterbuch die für die Geschichte des deutsch-französischen Verhältnisses symptomatische Formulierung: »es spiegelt sich recht darin die geschichte des franz. einflusses in seinem aufsteigen und seinem niedergange, auch in seinen ausartungen bis ins widerliche.« (Stichw. »galant«) Was auf den »französischen Einfluss« schlechthin zurückgeführt wird, muss herrschaftskritisch auseinandergelegt werden: ›Widerlich‹ sind dem Bürgertum zunächst nicht ›die Franzosen‹, sondern die deutschen Aristokraten, die französisch parlieren und dafür sorgen, dass es mit der politischen Emanzipation des Dritten Standes nichts wird; mit der von Napoleon exportierten Revolution jedoch geht der kritische, auf die im eigenen Land stehenden Herrschaften bezogene Sinn verloren, und die moralische, gegen den ›Franzosen‹ allgemein gerichtete Bedeutung des ›Widerlichen‹ entfaltet ihr nationales Gift.

      Freilich geht es im Parterre zunächst wenig ›elegant‹ zu; wie im Wirtshaus kommt es zu Streitereien, und den Taschendieben, die im Gedränge schnell untertauchen können, bietet sich ein ideales Aktions­feld. Von der »bourgeoisie cultivée« wird dieser Ort daher in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts gemieden (Descotes 1980, 14). Aus »Gründen der öffentlichen Ordnung« (Frenzel 1984, 83) müssen die Vorstellungen im Winter um 16:30 Uhr enden; später beginnen sie um 17 Uhr, sowohl in den privilegierten Theatern wie auf dem Jahrmarkt. Das Gehen auf den »holprigen, unbeleuchteten Straßen« war in der Dunkelheit mit besonderen Gefahren verbunden – nicht nur wegen des Unrats, der sich hier sammelte (vgl. Kulischer 1976, 12). Noch 1632, fünf Jahre vor der Uraufführung des Cid, wird in Paris die Einrichtung eines dritten festen Theaters von »hochstehenden Personen« verhindert wegen Verkehrsstörungen und Belästigungen der Anwohnerschaft, die eine solche Nachbarschaft zur Folge haben (Parfaict 1735/1968; V, 49).

      Valleran le Conte, einer der bekanntesten Schauspieler zu Beginn des 17. Jahrhunderts, versucht, das Pariser Publikum für Tragödien und Tragiko­mödien zu begeistern: Die Aufführungen enden mit einem völligen Misserfolg (Mongrédien 1966, 51). Er setzt sich zwischen alle Stühle: Weder die vornehme Gesellschaft noch das plebe­jische Publikum interessieren sich für sein Theater. Den vielfältigen Anstrengungen »von unten« kommt schließlich, vier Jahre nach den Auseinandersetzungen um den Cid, ein königlicher Erlass entgegen, mit dem den Schauspielern das Attribut staatlich-öffentlicher Nützlichkeit zuerkannt wird. Gegen die feindliche Haltung der Kirche heißt es, dass die Tätigkeit als Schauspieler, soweit sie sich im Rahmen der durch die »honnêteté publique« definierten Gesetze halte, niemand zum Vorwurf gereichen dürfe (zit. n. Parfaict V, 132f). Wie in Spanien (vgl. Teil II) wird das Theater zu einem öffentlichen Raum, den die Staatsmacht dem Herrschaftsanspruch der Kirche zu entziehen sucht. Aber indem dieser Raum ›zivilisiert‹ wird, wird er zugleich sozial gespalten und korporativ gegliedert, indem bestimmten Truppen exklusive Rechte auf ein Repertoire und eine Spielweise zugesprochen werden.31 So verbot das Privileg der ­Comédie-Française vom 21. Okt. 1680 »à tous autres comédiens français de s’établir dans ladite ville (de Paris) et faubourgs, sans ordre exprès de Sa Majesté« (zit. n. Lintilhac IV, 7). Wie ein Handwerk, dessen Kompetenzbereich vor unbefugten Zugriffen geschützt wird, ist etwa die Oper allein berechtigt, Stücke »en musique« aufzuführen.32 Doch bilden diese Regelungen keine chinesischen Mauern; ›Übergriffe‹ sind an der Tagesordnung, umso mehr als das Publikum, »dans son immense majorité, se moque de ces distinctions« (Lagrave 1972, 363). Die Geschichte des Pariser Theaterwesens im 18. Jahrhundert ließe sich geradezu unterm Aspekt einer zunehmenden ›Egalisierung‹ der Truppen und Spielweisen schreiben, die eine »sorte d’osmose des genres et styles divers« (ebd., 413) hervorbringt, lange bevor die Revolution die Ständeordnung insgesamt abschafft.

      Die Schauspieler sind so wenig eine Einheit wie das Publikum. Der erwähnte Erlass nimmt Bestrebungen auf, die, vor allem aus Gelehrtenkreisen im Umfeld der neu gegründeten Académie Française kommend, darauf gerichtet sind, eine kleine Elite von »Comédiens« gegen die große Mehrheit der »Mimes, Pantomimes, Sauteurs, et Bateleurs« zusammenzuschließen (d’Aubignac, Projet, 699). Guez de Balzac, von dem gesagt wurde, seine Briefe kämen der Verleihung des Ehrentitels ›honnête homme‹ gleich, schreibt im Dezember 1636 – unmittelbar vor der Uraufführung des Cid – an den Schauspieler Mondory, er schätze ihn sehr, denn er habe »la comédie avec les [dévots] et la volupté avec la vertu« versöhnt (zit. n. Urbain/Levesque 1930, 13). Die Marionettenspieler, Akrobaten, Dompteure, Seiltänzer oder diejenigen Schauspieler, die auch auf den Jahrmärkten über keinen festen Spielort verfügen und ihre Künste »en plein vent« darbieten müssen (Lagrave 1972, 255), verfallen hingegen unwiderruflich der Kategorie der canaille. Auch die Aristokratie, »qui de tout temps aime à ›s’encanailler‹« (ebd., 256), kommt hier auf ihre Kosten. Egal an welchem Ort sie auftritt und an welchen Vergnügungen sie teilnimmt, durch ihr Prestige gehört sie per definitionem zur »société civile«, wie d’Aubignac sagt (Projet, 700) – eine Kategorie, die das Durchlässigwerden der Ständeschranken zwischen Aristokratie und gehobenem Bürgertum auf den Begriff bringt und zugleich den dadurch neu entstehenden öffentlichen Raum bezeichnet, der sich aus dem Herrschaftsanspruch der Kirche ausgrenzt.33 Diese Dialektik der ›Zivilisierung‹, die eine neue Grenze gegen ›die da unten‹ aufrichtet, indem sie die anderen aus ihrer marginalen Stellung befreit, entgeht Duvignaud, wenn er die Rolle des Schauspielers, fixiert auf dessen emanzipatorisches Tun, auf die »participation de tous les groupes et de toutes les classes à un système de valeur unique« festlegt (1965, 58). Indem den Akteuren des popularen Theaters bereits kategorial der Status des ›Schauspielers‹ bestritten wird, kann der Entmischungsprozess, der die von ihnen praktizierten Formen zu »subkulturellen Praxen« herabsetzt (Graf 1992, 2), während im Gegenzug andere privilegiert und in den Kanon prestigeträchtiger literarischer Formen einsortiert werden, nicht in den Blick kommen.

      Das Schauspiel, so d’Aubignac, sei heute kein »acte de Religion« mehr, sondern lediglich ein »divertissement public« (Projet, 703f). Was als bloßes »divertissement public« artikuliert wird, bezeichnet in Wirklichkeit ein umkämpftes Terrain: Das Zivile, das mit dem Anspruch auftritt zu definieren, was ›public‹ ist, steht gegen dessen religiöse Besetzung, die es als »acte de Religion« in seine Zuständigkeit nehmen will. Erst Gramsci hat dem Begriff der Zivilgesellschaft seine moderne, auf den Funktionszusammenhang der Hegemoniebildung bezogene Bedeutung gegeben (vgl. Jehle 2004b, 1359). Die analytische Unterscheidung von Ökonomischem, Zivilem und Politischem schärft indes auch den Blick für unseren Zusammenhang, mit dem der Prozess, wie eine »subalterne« Klasse »führend« werden kann, sich auf neue Weise erschließt: Die Zivilgesellschaft ist nicht, wie noch bei d’Aubignac, selbst eine zivile Instanz, sondern das Terrain, auf dem um eine neue »Zivilität« gerungen wird, auf dem die »subalternen Klassen […] sich selbst zur Kunst des Regierens erziehen« müssen (Gef 6, H. 10/II, § 41, 1325) und das deshalb als Moment der (Selbst-)Aktivierung in der Perspektive des Sich-Hinaufarbeitens in die Strukturen der politischen Gesellschaft in den Blick kommt. Für den Emanzipationsprozess des Dritten Standes und seine im Theater probehandelnd agierenden ›zivilen Helden‹ ist diese Perspektive zentral. Erfolgreiches Handeln auf dem Terrain der Zivil­gesellschaft verlangt neue Kompetenzen. Wo die Gegensätze, die die Hegemonie der Zentralmacht bedrohen (Feudaladel/Zentralmacht, Adel/Bürgertum), in die Frage verschoben sind, wer zu den »honnêtes gens« gehört und wer nicht, wird Bildung zum Element im Streit um diese Zugehörigkeit. Die Gegengesellschaft, die d’Aubignac ineins damit konstituiert, ist die Menge der »Unzivilisierten« und »Ungebildeten« – Kategorien, die wie ihre Gegensätze ›quer‹ zu den Ständeschranken liegen.

      Gerade die doppelte Bewegung, »Orientierung nach oben« und Abgrenzung vom höfischen Lebensstil in einem, machen dem Bürger »Sinn und Wert seiner ganz anders gearteten eigenen Form der Lebensführung bewusst« (Pikulik 1984, 129). Freilich fällt Pikuliks Vereindeutigung