Название | Zivile Helden |
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Автор произведения | Peter Jehle |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783867549547 |
Der Gedanke der Exterritorialität verweist darauf, dass die ideologischen Mächte, Kirche und Staat, aber auch die repressiven Mächte, Polizei und Armee, nicht überall und zu jeder Zeit gleichermaßen präsent sind. Welche Territorien von wem besetzt gehalten werden, steht nicht fest. An vielen Festtagen ziehen sich Staat und Kirche aus ›ihren‹ Stellungen zurück und überlassen die Herrschaft dem ›verrückt‹ gewordenen Volk und seinen Repräsentanten, den Narrenkönigen und -bischöfen. Umgekehrt werden die öffentlichen Plätze zur Inszenierung staatlicher Herrschaft genutzt, etwa bei Hinrichtungen, bei denen es sich um ein Ritual handelt »pour reconstituer la souveraineté un instant blessé« (Foucault 1975, 52). Das Volkstheater der öffentlichen Plätze hat sein Gegenstück im »Theater des Schreckens« (van Dülmen 1985). Was aber als gerecht zu gelten hat, bleibt der Obrigkeit nicht kampflos überlassen. Die im Volk lebendigen Rechtsvorstellungen können in Widerspruch geraten zur Strafpraxis der Obrigkeit. Das Militär vermag den Scharfrichter vor der aufgebrachten Menge nicht immer zu schützen: das Volk kann den Delinquenten unter Umständen selbst zur Strecke bringen und so seine Kompetenzen ›überschreiten‹, indem es sich mit den von der Obrigkeit ihm zugestandenen Anteil – dem Beschimpfen, Verhöhnen und Bespucken des Opfers – nicht zufrieden gibt. Es geht nicht nur darum, den Verbrecher an einer Flucht zu hindern, auch das Volk muss daran gehindert werden, den Verurteilten zu retten oder ihn selbst zu töten.26 Entscheidend ist, dass das Volk nur zuschaut. Aber selbst dann, wenn der öffentliche Platz zur Inszenierung des staatlichen Schreckenstheaters dient, ist nicht von vornherein entschieden, wer das letzte Wort haben wird.
Die öffentlichen Plätze sind strategische Orte der Hegemoniebildung – ein Aspekt, der bei Bachtin unterbelichtet bleibt, weil er die populare hegemoniale Gegenordnung weniger als einen Prozess im Handgemenge mit dem Gegner denn als fertigen Ausgangspunkt im Blick hat. Die Orte, an denen etwa die Jahrmärkte stattfinden, sind nicht nur Schauplatz einer karnevalesken Gegenordnung, sondern zugleich ein Karneval des Kommerzes.27 Immer wieder werden Jahrmärkte verboten oder in ihrer Dauer beschnitten, vor allem wenn die Obrigkeit den Eindruck hat, dass die kommerziellen Aktivitäten gegenüber den Volksbelustigungen wie etwa dem Marionettentheater, in dem kein Blatt vor den Mund genommen wird, ins Hintertreffen geraten (vgl. Starsmore 1975, 13). Indem das Volk dem von der Staatsmacht inszenierten Schreckenstheater beiwohnt, wird es an der Strafverfolgung, die in der Hand des Souveräns konzentriert ist, imaginär beteiligt. Die ›Wiederherstellung‹ der Ordnung wird ihm bildhaft vor Augen geführt. Aber wie bei allen ideologischen, auf die Beteiligung und Aktivierung der Subjekte setzenden Einbindungsstrategien, kann es zu einer Dynamik kommen, welche die Schranken durchbricht: Ob der Verbrecher gerettet oder durch das Volk selbst hingerichtet wird – in beiden Fällen wird die Auslagerung der Strafverfolgungskompetenz aus dem Gemeinwesen eingezogen und von unten wieder angeeignet.
Freilich stellt solche Aneignung das Gesellschaftssystem selbst nicht in Frage. Was hier als Volk den Ton angibt, entspricht weitgehend dem, was Hobsbawm als Verhaltensweisen des »Mob« – der ›kleinen Leute‹, ›menu peuple‹, ›popolo minuto‹ – in den vorindustriellen Großstädten analysiert hat, insbesondere denjenigen, die von einer höfischen Residenz lebten oder von einem Fürsten regiert wurden. Hier fand der »volkstümliche Legitimismus« (1959/1979, 158) den geeigneten Nährboden. Der Herrscher konnte mit enthusiastischer Gefolgschaft rechnen, wenn sein Handeln ›gerecht‹ war, d. h. wenn er den kleinen Leuten, die mit Gelegenheitsarbeiten eine prekäre Existenz bestreiten mussten, ein Auskommen sicherte. Daher das »merkwürdige Verhältnis« zum Herrscher, »das gleichermaßen von Parasitismus wie von Aufständen bestimmt war« (153). Die Zerlumpten und Elenden, die in unmittelbarer Nachbarschaft der Paläste ihr Leben fristeten, sahen im Glanz der Reichen durchaus keinen Grund für ihre Misere. Wenn fürs Existenzminimum gesorgt war, war alles in Ordnung. Der Aufstand dient dazu, das gestörte symbiotische Verhältnis wieder ins Lot zu bringen; man verlangt einen König, der seine Pflicht tut, so wie der popolo minuto von Neapel von seinem Heiligen verlangt, dass er ihn unterstützt. Die Aspirationen des kleinen Mannes sind nicht darauf gerichtet, »die Bedürfnisse und die Erfordernisse produktiver Klassen zu befriedigen« (Gramsci, Gef 9, H. 22, § 2, 2065). Mit der Dialektik von Aufstand und Parasitismus, Enthusiasmus der Kritik und Enthusiasmus der Zustimmung ist es erst vorbei, wenn mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse, die den ›Tagedieb‹ in den Verkäufer seiner Arbeitskraft verwandeln, eine neue, ›politische‹ Strategie gelernt werden muss: Die modernen Arbeiterbewegungen treten an mit der Überzeugung, dass allein Organisation und Solidarität28 die Lebensverhältnisse nachhaltig und dauerhaft verbessern können.
Aus der komplementären Zuordnung von Alltag und Fest holt die Obrigkeit einen Teil des ideologischen Zements, der ihre Herrschaft sichert: Die Eroberung der Staatsmacht von unten ist in die zeitlichen Schranken der Narrenherrschaft verschoben; die Verrücktheit des Volkes, die imaginäre Entmachtung der Herren, wird zu einem Stützpunkt ihrer Führung. Dennoch sind alle diese zeitlich begrenzten und verschobenen Formen der Wiederaneignung von Vergesellschaftungskompetenzen umkämpft. Sie können, in einer Situation sozialer Notlage, zu Kristallisationspunkten von Widerstand werden. Schlechte Ernten hatten die Bauern und die städtischen Handwerker von Romans 1580 dazu gebracht, die Entrichtung des Zehnten und der taille zu verweigern, die besonders verhasst war, weil der Grundherr sie nach freiem Ermessen bestimmen konnte (vgl. Kulischer I/121). Sie bewaffneten sich und warfen die Grundbücher ins Feuer. Der Karneval wird in diesem Kontext zum Widerstand gegen die Obrigkeit: Paumier, der Anführer der Aufständischen, saß »mit einem Bärenfell bekleidet im Sessel des Bürgermeisters und verzehrte Delikatessen« (Kamen 1982, 133). In dem Bild sind die Überwindung des Hungers und die Ablehnung der schlechten Obrigkeit, die ihrer Pflicht gegenüber den kleinen Leuten nicht nachkommt, miteinander verdichtet. Am Vorabend des Fastnachtsdienstages werden die Führer der Aufständischen und ein Großteil ihrer Gefolgschaft massakriert. Der Alltag repressiver Herrschaftssicherung setzt dem kurzen Sonntag der Anarchie ein jähes Ende.
Am Beispiel von Hungerrevolten im 18. Jahrhundert in England hat Thompson gezeigt, dass es sich hier nicht nur um blinde Reaktionen, einen tumultartigen Aufstand handelt, der die Wiederherstellung der Ordnung von oben erwartet. Es geht auch um die Wiederaneignung der den kleinen Leuten entzogenen Kompetenzen, etwa derjenigen der Preisfestsetzung. Die Proteste »bewegten sich im Rahmen eines volkstümlichen Konsenses darüber, was auf dem Markt, in der Mühle, in der Backstube usf. legitim und was illegitim sei« (Thompson 1980, 69). Im Kern ging es, worauf auch Hobsbawm hinweist, um die Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Die Spitzenwirker in Horniton, »die 1766, nachdem sie den Farmern das Korn weggenommen und zu einem volkstümlichen Preis auf dem Markt verkauft hatten«, brachten »diesen nicht nur das Geld, sondern auch die Säcke zurück« (ebd., 103). Was gerecht ist, wird nicht nur mit Worten gefordert, sondern praktisch vorgeführt. Die Aufständischen inkarnieren eine Welt, in der die Preise gerecht sind und alle ihr Auskommen finden. Im Moment des Aufstands wird die Utopie Wirklichkeit.
Das Theater der Wandertruppen ist eine Einrichtung, in der die imaginäre Herrschaft des Volkes zur Zeit des Karnevals oder des Aufstands übers Jahr hinweg erinnert wird. Seine zentrale Gestalt ist deshalb der Narr, der zu seinem »eisernen Bestand« gehört (Weimann 1967, 48). Er konzentriert in sich die Situation der verkehrten Welt, in der alle zu Narren werden. »Les spectateurs n’assistent pas au carnaval, ils le vivent« (Bachtin 1970, 15). Unter Bedingungen der alltäglichen Ausbeutung und Erniedrigung führt der Narr, wie alle die plebejischen Helden von Eulenspiegel bis Schwejk, »die Kunst des Überlebens« vor (Haug 1973, 69). Seine Fähigkeit, die Reaktionen der um die Bühne versammelten Menge spontan aufzunehmen und in sein Spiel einzubauen, bewirkt eine besondere Nähe von Schauspielern und Zuschauern. Seine unverhüllte Fresslust ist ein Angriff auf die Zufriedenheit der Satten, seine Feigheit ein Angriff auf die Moral der Aristokraten (vgl. Weimann