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Bewegung: Die mit Prestige ausgestatteten Lebensformen müssen angeeignet und zugleich ›umfunktioniert‹, d. h. in die neue Weltauffassung eingebaut werden. Wilhelm Meister interessiert zunächst allein die künstlerische Lösung des Problems. Er weiß zwar, dass der Unterschied zwischen Edelmann und Bürger nicht in den Charakter des einen oder anderen fällt, sondern »die Verfassung der Gesellschaft selbst« (Lehrjahre V, 3) dafür der Grund ist, diese mithin verändert werden müsste. Als Nonkonformist, den das vom Schwager gezeichnete »Glück des bürgerlichen Lebens« ebenso wenig reizt (V, 2) wie die Entwicklung einer Perspektive, die nicht nur dem eigenen Bildungsbedürfnis Rechnung tragen, sondern auf einen neuen ›Konformismus‹34 der bürgerlichen Lebensform insgesamt zielen würde, ist er zufrieden, wenn nur er eine »öffentliche Person« zu werden vermag (V, 3). Das Theater wird zur Kompromissform, in der die noch unüberwindliche Schranke zwischen Edelmann und Bürger individuell lebbar wird: »Auf den Brettern erscheint der gebildete Mensch so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern Klassen« (V, 3).

      Die Zugehörigkeit zur »société civile« verlangt von den Schauspielern be­sondere Kompetenzen. D’Aubignac klagt etwa über jene, die, »ne sachant qu’à peine la langue Française, ils expriment imparfaitement ce qu’ils récitent, et souvent au contraire de ce qu’ils doivent« (Projet, 701). Die Schauspieler sollen den Konstitutionsprozess der Nationalsprache befördern, die im 17. Jahrhundert noch kaum existiert. In dieser Perspektive erscheint das Theater als der Ort, an dem das Resultat der vielfältigen Anstrengungen, die Hervorbringung einer politischen, ökonomischen und sozialen Einheit, die französische Nation, imaginär vorweggenommen ist. Die zweite Klage – die Schauspieler sagten das Gegenteil von dem, was sie sollen – bezieht sich auf die Umwertung von bisher für selbstverständlich gehaltenen Fähigkeiten, den das literarische Theater auslöst. Der Text geht der Aufführung voraus und muss auf der Bühne wortgetreu reproduziert werden – für Wandertruppen wie feste Ensembles eine Unmöglichkeit schon deshalb, weil das bei Misserfolgen sofort wechselnde Programm die ausschließliche Bindung der Schauspieler an eine Individualrolle verbietet.35 Es kommt vor allem darauf an, sich in wechselnden Rollen gekonnt zu bewegen; daher die herausragende Stellung des Improvisierens, das zudem die Fähigkeit begründet, aufs Publikum spontan zu reagieren. Mit dem literarischen Theater vergrößert sich der Abstand zwischen Schauspielern und Publikum. Indem der zur Aufführung gebrachte Text sich ›rücksichtslos‹ gegenüber der »leiblichen Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern« verhält (Fischer-Lichte 2004, 58), soll, was im Saal passiert, ›planbarer‹ werden. »Ein Schauspieler«, sagt Wilhelm Meister, »sollte nichts Angelegeneres haben als auf das pünktlichste zu memorieren« (Sendung, 3. Buch, 6. Kap.). Es ist dies ein frommer Wunsch, kommen doch die Schauspieler ungern zu den Proben und lassen es am nötigen »Ernst« fehlen. Die neue Produktionsweise auf dem Theater muss von Seiten ihrer Akteure kulturell erobert werden; die an feste Rollencharaktere gebundene alte Identität kommt den neuen Anforderungen in die Quere. Sie verlangen die Ausbildung eines neuen Habitus, einer Leistungsethik und Diszipliniertheit, die für jeden bürgerlichen Beruf gelten – Pünktlichkeit, Ernst­haftigkeit, Arbeitsamkeit – und deren Aneignung den Schauspieler mit dem Aufstieg in die bürgerliche Welt belohnt. Erst im 18. Jahrhundert wird ›Arbeit‹, die sich von aristokratischer Verachtung emanzipiert, zu einem »gesellschaftlichen Grundbegriff« (Pikulik 1984, 136). Auch der Schauspieler soll ein Robinson werden, der nur in der Arbeit bei sich ist. Was für die Zuschauer Freizeit, ist für die Schauspieler Arbeitszeit, über deren gesellschaftliche Notwendigkeit der Markt entscheidet.

      Das Memorieren ist nur ein Element innerhalb einer ganzen Reihe neu zu entwickelnder Fähigkeiten. Es kommt auf die Details an. Der Schau­spieler muss den Text lernen, um sich, wie Wilhelm sagt, auf die »Schattierungen« seiner Rolle konzentrieren zu können (Sendung, 3. Buch, 6. Kap.). Und d’Aubignac wirft den Schauspielern vor, »étant la plupart ignorants aux Spectacles, ils […] en négligent la représentation« (Projet, 701). Die Redeweise ›négliger la représentation‹ hat nur Sinn vom Standpunkt einer fer­tigen Spielvorlage, die in eine Aufführung transformiert werden muss. Die ›Inszenierung‹ wird überhaupt erst zum Problem, wo das Theaterstück in einer von der Bühne unabhängigen Form existiert und folglich der szenischen Realisierung bedarf. Stimme, Mimik und Gestik müssen entsprechend ineinandergreifen. Zugleich muss eine Prozedur gefunden werden, die in der Produk­tion ›des‹ Schauspielers konvergiert. D’Aubignac schlägt daher vor, die Schauspielerei zum Beruf zu machen, der, wie jede Form von Professionalisierung, ein Curriculum voraussetzt, dessen erfolgreichen Abschluss durch einen vom König ernannten »Intendant, ou Grand Maître des Théâtres et des Jeux publics en France« (Projet, 704) kontrolliert werden soll. Insofern ist der Projet Stellenausschreibung und Empfehlungsschreiben in einem. D’Aubignac lässt keinen Zweifel, wer der geeignete Mann ist, um auf Talentsuche zu gehen und dafür zu sorgen, dass niemand »ne pourra être associé dans une Troupe que par Brevet du Roi, donné sur un Certificat de sa capacité et probité qui lui sera délivré par l’Intendant« (ebd.).

      Diese Vorschläge wurden nie verwirklicht. Sie sind aber deshalb interessant, weil sie sich wie eine Strukturskizze zur Formierung einer schauspielerischen Elite lesen. Das Reservoir, aus dem die Fähigsten und Begabtesten hervorgehen sollen, speist sich aus zwei Quellen: Die Wandertruppen und die Kollegien, womit die Jesuitenschulen gemeint sind, in denen das Theaterspielen ein Element der schulischen Ausbildung ist. Die Logik der Ein-/Ausschließung wird ergänzt durch eine Reihe von Individualisierungsprozeduren, die die Schauspieler in ihrer Ausbildung durch­laufen: das systematische Üben des Rezitierens, der Mimik und Gestik; die Beobachtung und Auswertung von Aufführungen; schließlich die Ablegung einer Prüfung. Der Intendant beurteilt »capacité et probité« – die Formel, die fachliches Können und Loyalität mit der Obrigkeit ver­knüpft, hat ihre Aktualität für die Reproduktion der Staatsdienerschaft nicht verloren. Mit der Staatswerdung des Thea­ters wird aus dem »acteur nomade« zwar noch kein »fonctionnaire« (­Duvignaud 1965, 65), aber doch ein »travailleur régulier qui produit une quantité définie d’émotions à date régulière et dispose ainsi de ­moyens de subsistance ordonnés« (74).

      Es ist überraschend, wie sehr die von Goethe im Wilhelm Meister vorge­tragenen Forderungen mit denen d’Aubignacs übereinstimmen: Beiden geht es um den fähigen und rechtschaffenen Schauspieler, dem ein Platz in der »société civile« eingeräumt wird. Aber während d’Aubignac in Paris die Erfüllung seiner Forderungen ge­wissermaßen ›von oben‹ erwarten kann, muss Goethe im politisch und kulturell zerklüfteten Deutschland den genialen Einzelnen auftreten lassen, der sich auf keine zentralisierte Herrschaftsapparatur stützen kann. »Wir haben nichts als uns selbst«, ruft Wilhelm aus (5. Buch, 13. Kap.). Unterm Druck der Subsistenzsicherung und der Rechtlosigkeit, gegen die Abhängigkeit von fürstlichen Gönnern und deren zufälligem Geschmack, setzt Wilhelm auf das Vergnügen, »sich untereinander selbst zu gefallen« (ebd.). Man möchte eine »idealische Republik« bilden, in der gar das Amt des Direktors rotiert. »Idealisch« darf nicht als »ideell« gelesen werden; die Schauspieltruppe er­scheint als real existierende Miniaturform eines noch zu errichtenden bürgerlichen Nationalstaats. Freilich währt dieses bürgerliche Glück nur so lange, wie sie Geld haben. Nachdem sie überfallen und ausgeraubt worden sind, zerfällt die Truppe.

      Der Schauspieler Bruscambille wünscht sich ein Hôtel de Bourgogne, das ausschließlich »zum Hören und Sehen« da ist. Wer heute ins Thea­ter geht, ist selbstverständlich eine Zuschauerin oder ein Zuschauer – jemand, der das Zu-Schauen als die vorherr­schende Art und Weise der Beteiligung am Bühnengeschehen verinnerlicht hat. Doch ist dies das Resultat eines komplexen Prozesses. Für d’Aubignac stellt es sich u. a. als Problem der Anordnung und Verteilung der Menge im Zuschauerraum. Er weiß, dass von der räumlichen Anordnung bestimmte Ordnungseffekte ausgehen. Daher sein Vorschlag, den Raum durch Sitzplätze aufzuteilen und ihn der freien Verfügbarkeit durch die Zuschauer zu entziehen. Nicht nur den Taschendieben und Beutelschneidern wäre die notwendige Bewegungsfreiheit genommen, der Blick des Zuschauers würde zwangsläufig auf die Bühne gerichtet, die jetzt zum vorherrschenden Zentrum der Aufmerksamkeit werden könnte.

      D’Aubignac sieht für das Theater die Anwendung von Techniken vor, die Foucault am Beispiel des Militärs,