Zivile Helden. Peter Jehle

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Название Zivile Helden
Автор произведения Peter Jehle
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783867549547



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wöchentlich etwa 21 000 Londoner die Theater auf. »In Scharen mussten sie über die Themse nach Bankside übersetzen und nach den Finsbury-Feldern pilgern, denn die puritanisch gesinnten, thea­terfeindlichen Stadtbehörden duldeten […] kein öffentliches Schauspielhaus im Stadtinnern.« (Weimann 1964, 194) Die Blüte des Theaters, der die Puritaner 1642 ein Ende bereiten, verdanke sich einer »vorkapitalistischen Ökonomie und Lebensweise« (195). Seine Besucher waren noch nicht »Opfer industrieller Arbeitsintensität und abstumpfender Arbeitsteilung«; noch keine »innerweltliche Askese« habe den Sinn für folk-drama, Maispiele und Schwertertanz verhunzt. Auch wenn Weimanns Blick auf das Theater Shakespeares durch einen romantischen Antikapitalismus getrübt ist, der die Ausbeutung der Arbeitskraft allein auf Seiten des Industriesystems wahrnimmt, als habe es in den vorindustriellen Verhältnissen keine gegeben, so ist doch der Versuch triftig, das Anderssein dieses Theaters durch seine Verwurzelung in der Tradition des Volkstheaters zu erklären. »Hofmann und Handwerker, Lehrling und Student, Kaufmann und Edelmann« (196) trafen sich ungeachtet des Abstandes, der sie im wirklichen Leben trennte.

      Zwar ist auch in Paris das öffentliche Theater bereits seit Beginn des 17. Jahrhunderts zu einer dauerhaften Einrichtung geworden, aber ein fester Spielort allein garantiert nicht automatisch ein sicheres Auskommen. Das Hôtel de Bourgogne, das erste ständige Theater in ­Paris, musste an durchziehende Wandertruppen vermietet werden, bevor sich hier ab 1629 eine Truppe festsetzen konnte. Die Schwierigkeiten, sesshaft zu werden, hängen unter anderem damit zusammen, dass das öffentliche Theater noch kaum auf ein festes »Publikum« an einem Ort zählen kann. Es ist daher das Theater, das zu den Leuten kommen muss; die Schauspieler gehen an die Orte, wo viele zusammenkommen. Entsprechend ist Theater noch kaum ein ›autonomes‹ Ereignis: »la représentation […] est une manifestation collective de la vie de la cité, à laquelle tous participent« (Descotes 1964, 25). Die Schauspieler begleiten die Anlässe, zu denen die Straßen und Plätze von der Volksmenge in Besitz genommen werden: die kirchlichen Festtage, den Karneval sowie die Jahrmärkte und Messen, in denen der frühkapitalistische Waren- und Nachrichtenverkehr einen seiner Knotenpunkte hat. Während die Amateure der verschiedenen Bruderschaften (confréries) ihre Kunst ausschließlich im Rahmen der Liturgie oder der Feste ausüben, die sie mit ihren Späßen begleiten, gewinne der »Schauspieler« erst mit den zentralisierten Monarchien eine ›autonome‹ gesellschaftliche Funktion, unabhängig von den Anlässen des Alltagslebens (vgl. Duvignaud 1973, 44f). Die Priester selbst behalten sich die Rolle Jesu vor23, während die Spaßmacher und ›Narren‹, zumal die am Hof, zwar auf Dauer an ihre Funktion gebunden sind, diese ihnen jedoch kaum Spielraum lässt. Als eine Art »confesseur laïc« des Königs ist der Narr verpflichtet, diesem ein gutes Gewissen zu verschaffen (ebd., 48).

      In Paris kann man einen Teil des Jahres auf der Messe verbringen. Die Foire Saint-Germain dauert in der Regel zwei Monate und beginnt am 3. Februar, zur Zeit des Karnevals; die Foire Saint-Laurent dauert etwa gleich lang und endet gewöhnlich am 29. September (vgl. Lagrave 1972, 32). Der ökonomische Kontext des Warenaustauschs findet sich wieder in Ausdrücken, die uns heute vor allem in Bezug auf das Theater geläufig sind: So heißt der Platz, wo sich die Kaufleute zum Geschäftsabschluss versammeln, »la Loge« (von ital. loggia); in den Niederlanden nennt man ihn »Börse« – nach der Patrizierfamilie van der Burse, die in ihrem Wappen drei Geldbeutel führte (ter buerse; vgl. Kulischer 1976, II 316). Die Börse macht aus der periodisch stattfindenden die »ewige, immerwährende Messe« (ebd., 314). Die Loge ist der den Kaufleuten speziell vorbehaltene Platz, der für die Dauer der Versammlungen abgesperrt wird, bevor man, in Lyon 1653, in ein eigenständiges Börsengebäude umzieht (ebd., 315). Und auch innerhalb des Theatergebäudes formieren die über einen separaten Eingang erreichbaren Logen – oft dauerhaft vermietet und abschließbar – eine Öffentlichkeit in der Öffentlichkeit. Sie trennen die ›bessere‹ Gesellschaft von der im Parterre sich tummelnden Menge. Im Theater wie an der Börse ist das Tragen von Waffen verboten.

      Der Reichtum, den der Warenaustausch den Kaufleuten verschafft, geht mit dem Elend der Vielen einher. Die Schauspieler unterscheiden sich kaum von den Zauberkünstlern, Kraftmenschen, Akrobaten, Jongleuren, Arznei­verkäufern und Zahnausreißern, kurz, all denen, die ihre besonderen Fähigkeiten oder Produkte an den Mann oder die Frau zu bringen suchen. So wie die Schauspieler oft gezwungen sind, sich als Pillendreher und Verkäufer sonstiger Medizin durchzuschlagen (vgl. Mongrédien 1966, 26), so agieren die Zauberkünstler und Kraftmenschen zugleich als »Schauspieler«. Als der junge Jean-Baptiste Poquelin seine Tätigkeit als Anwalt nach kurzer Zeit abbrach, sich um 1642 endgültig dem Theater zuwandte und der Vater ihm jede Unterstützung entzog, nahm er eine Beschäftigung bei dem »opérateur« Barry an, dessen Elixiere er auf öffentlichen Plätzen schluckte, um vor einer staunenden Menge ihre Wirksamkeit unter Beweis zu stellen (vgl. Adam III, 210). Dieser arme »mangeur de vipères« – wie ihn die Gebrüder ­Béjart nannten –, der spätere Molière, kannte also das unsichere Los der Schausteller, als er – nach langen Wanderjahren in der Provinz – der Protektion des jungen Ludwig teilhaftig wurde und sich in Paris, gegen die Konkurrenz der anderen Truppen, festsetzen konnte.24

      Schauspielerische Qualitäten sind nötig, wo immer es darum geht, Bekanntschaften zu machen, um ein karges Auskommen zu finden. »Tous les acteurs qui jouent leur rôle sur ce grand et mobile théâtre [Paris] vous forcent à devenir acteur vous-même.« (Mercier, Tableau, 147) Die Schausteller auf den Jahrmärkten, die gegen eine zahlreiche Konkurrenz die Aufmerksamkeit der Passanten erregen müssen, um ihnen etwas zu verkaufen, das sie nicht brauchen, bewegen sich in der Nachbarschaft der Vielen, die der endemischen Arbeitslosigkeit auf dem Land zu entkommen und auf der Straße ihren Lebensunterhalt zu finden suchen. Es herrscht hier eine »poétique« eigener Art (Farge 1992, 21), in der »les va-et-vient incessants de la foule, le bruit assourdissant, la saleté malodorante et la brutalité« (16) eine unentwirrbare Gemengelage bilden. Wie der Zuschauersaal im Theater ein gegliedertes Ganzes unterschiedlicher Räume darstellt, die nicht allen zugänglich sind, so die Stadt, in der der »canaille« der Zugang etwa zum Jardin des Tuileries, der den Reichen und Schönen vorbehalten ist, verschlossen bleibt (vgl. ebd., 71). Hingegen beherrscht sie die »cabarets«, d. h. die Kneipen, »prolongement évident du boulevard […], espace à la fois clos et ouvert, où se rencontrent ceux qui n’ont pas d’autre endroit pour prendre le plaisir d’être ensemble« (ebd., 73). Das Wirtshaus, dessen Hof nicht selten den Rahmen hergibt, in dem die Bühne für ein paar Tage aufgeschlagen wird, ist zugleich der Durchgangsort par excellence der Wandertruppen. Das Leben auf der Straße und an Orten, an denen dieses seine Fixpunkte hat, ist gekennzeichnet durch eine Gewalt, die unvermutet und jederzeit ausbrechen kann. Sie ist ein »phénomène massif, constant et surprenant par l’intensité de sa brutalité«, kennzeichnend für die kleinen Leute, die ihre Konflikte »sur le champ, à coups de poings, de pieds, ou avec les outils de son travail« austragen (124). Diese populare Form der Gewalt ist selten aktenkundig geworden, da sie sich innerhalb der Stände- und Klassenschranken hielt und nur dort zum Austrag kam, »où se joue un subtil rapport de forces entre les partenaires« (125): zwischen Käufern und Verkäufern, Mietern und Vermietern, Männern und Frauen.

      Noch Goethe konfrontiert seinen Wilhelm Meister in Deutschland mit einer den Lebensbedingungen der Straße ähnlichen Situation: »Ist wohl ein kümmerlicheres, unsichereres und mühlseligeres Stückchen Brot in der Welt? Beinahe wäre es eben so gut, es vor den Türen zu betteln. Was hat man von dem Neide seiner Mitgenossen, von der Parteilichkeit des Direktors, von der Übeln Laune des Publikums auszustehen! Wahrhaftig, man muß ein Fell haben wie ein Bär, der in der Gesellschaft von Affen und Hunden an der Kette herumgeführt und ge­prügelt wird, um bei dem Tone eines Dudelsacks vor Kindern und Pöbel zu tanzen.« (Sendung, 2. Buch, 7. Kap.)25 Mit Wilhelm Meister präsentiert Goethe, bezogen auf die deutschen Verhältnisse, die Gestalt, die eine Perspektive der Befreiung des Theaters aus der Nachbarschaft von »Affen und Hunden« entwickeln und den Schauspieler mit der zivilen Welt vereinbar zeigen kann. Aber hier wie im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich wird es nur wenigen gelingen, sich in die »gute« Gesellschaft hinaufzuarbeiten.

      Inmitten der alltäglichen Notwendigkeiten des Sich-Durchschlagens finden wir auf den öffentlichen Plätzen zugleich die Elemente einer popularen Gegenordnung zu dem Block aus Reichtum, Macht und Privilegien. Seit Bachtins grundlegender Untersuchung über Rabelais und die Volkskultur im 16. Jahrhundert wissen wir,