Kleists Michael Kohlhaas. Berthold Wendt

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Название Kleists Michael Kohlhaas
Автор произведения Berthold Wendt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783866746961



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Phase daraus ergab, daß das Erkenntnisvermögen des Individuums in der Sinnfülle eines teleologischen Weltmodells gegründet war. Gegen das von Beda Allemann skizzierte ›dramaturgische Modell‹ darf man in diesem Sinne zweierlei einwenden: erstens, daß es diese Spannung unberücksichtigt läßt; zweitens, daß es die Inhalte antizipierender Visionen als nur positiv hinstellt: […].«115 Stephens ausführliche Belege für seine These von der metaphysischen Verunsicherung gehen deshalb am Begriff des »moralischen Wunsches« (Kant) und seiner Erahnung bei Allemann vorbei, weil sie a) von einer falschen Kontrastfolie ausgehen (theologisch-teleologisches Weltmodell nach Leibniz), und b) aus den Phasen der Selbstverwirrung bezogen sind. »Da Beda Allemann die Antizipation bei Kleist nur im Sinne erträumter Erfüllungen auslegt, gelangt er zum Schluss: ›Tatsächlich ist eine Antizipation im Sinne Kleists kaum denkbar ohne eine geradezu göttliche Gewalt, die hinter ihr steht.‹ Aber das Gegenteil ist eher der Fall. Denn ausgerechnet die Loslösung der individuellen Entelechie aus der Abhängigkeit von einer göttlich fundierten Weltordnung ist mit jenem Verlust des Paradieses synonym, den Kleists Dramen und Erzählungen von der Familie Schroffenstein an immer wieder thematisieren.«116 Hätte Stephens, anstatt sich mit Spekulationen über die geistige Biographie am theologisch denkenden jungen Kleist zu orientieren, die in der Sache einschlägige Kant’sche Postulatenlehre aus der Kritik der praktischen Vernunft hinzugezogen, dann wäre ihm der Zusammenhang zwischen moralischem Wunsch und postulierter Gottheit vielleicht deutlich geworden. Aber anstatt dass Stephens der – für den bei Kleist keineswegs einfach ›positiven‹ ästhetischen Schein maßgebliche – dramaturgische Sinn der Antizipation aufgeht, bekommt sie für ihn nur Bedeutung im Sinne einer faden oder lauen Desillusionierung: »Die Ironien und Ambivalenzen, die antizipatorische Erzählungen, Ahnungen und Visionen in den Dichtungen Kleists begleiten, legen nahe, daß das Projizieren der eigenen Wünsche oder Ängste auf die Mitmenschen oder auf das im jeweiligen Text heraufbeschworene Simulakrum einer Weltordnung manchmal an eine tragische Hybris grenzt, wie der emotionelle Gehalt der ›Träume‹ einer Penthesilea oder eines Prinzen von Homburg andeutet. Wieder einmal findet sich bei Rousseau ein mahnender Kommentar zur Gewohnheit des Menschen in der Gesellschaft, sich durch seine antizipierenden Fähigkeiten über die Gegebenheiten seiner realen Situation hinwegzusetzen: […].«117 Anstatt jedoch den Verlust des Paradieses einzubleuen und jede Erinnerung daran – in der sich das Bewusstsein über die positivistische Fesselung an die »Gegebenheiten seiner realen Situation« erhebt – als hybride Wunschprojektion auf unschuldige Mitmenschen zu feiern, stellt Kleist im Marionettentheater-Aufsatz118 dar, dass der Zugang zum Paradies nur durch zweite Reflexion wiederzugewinnen sei. Der Gehalt Kleist’scher Werke ergibt sich aus dem Formverlauf, wohingegen es zu Fehldeutungen führen muss, wenn er aus der Kontrastierung eines absoluten Ideals und den Anschauungen der Protagonisten erschlossen werden soll: »Der Anschein der Hybris wird dann erweckt, wenn das Individuum Ansprüche an seine Umgebung stellt, die eigentlich der Verankerung in einer göttlich verbürgten ›Ordnung der Dinge‹ (SW II, 761) bedürfen, wenn sie nicht zu fatalen ›Mißgriffen‹ im Sinne des Aufsatzes Über das Marionettentheater führen sollen, einer solcher Grundlage jedoch prinzipiell entbehren.«119 Damit das Glück der Menschen nicht gegen hypokride Widerstände und Zumutungen sich behauptend bloß kurzzeitig aufblitzt, dann zu Verwirrungen führt und verwässert wird, bedarf es einer vernünftigen Weltordnung, die bei Kant »ethisches Gemeinwesen« heißt und als aufgeklärte Säkularisierung des Reichs Gottes auf Erden gelten kann (vgl. dazu Teil A 02).

      Zur psychologischen und postmodern-strukturalistischen Interpretation; oder zu 6) methodische Neuansätze: Text und Geheimnis:

      Aus dem Bereich der psychologischen Interpretationen ist im Jahr 2007 das Buch Modernität und Bewusstsein von Gerhard Oberlin120 erschienen, das sich mit den letzten Erzählungen Kleists beschäftigt und einen ausführlichen Teil über Michael Kohlhaas enthält. Psychologischer Bezugspunkt Oberlins ist dabei nicht primär der Autor Kleist, sondern ein kreativpsychologisch betrachtetes hypothetisches auktoriales Subjekt, denn: »Die kreative Bewusstseinsarbeit des Autors spiegelt sich in der intermediären Tiefendynamik der Werke wider, […]«121, wobei Oberlin »den dazu nötigen Theorierahmen aus der Psychoanalyse bezieht.«122 Er gibt seinem Verfahren den Namen »Intermediäre Hermeneutik«, die den Prozess aufdecken soll, wie »elementare Prozesse der Subjektwerdung [sich] dynamisch abbilden, wie sie im heuristischen Widerstreit von Trieb und Triebhemmung, Lust- und Realitätsprinzip, Regression und Progression Ereignis werden.«123 Ausgehend von der »Tatsache, dass die Geschichte der Unterdrückung nicht ohne Folgen bei den Unterdrückten bleibt und dass deren Widerstand aus einer durch systematische Kränkungen bewirkten Antriebskonstellation kommt, die sie in eine tragische Dynamik der Gewalt und des Idealismus hineinzwingt«124, bestimmt Oberlin das kreative Prinzip der Erzählung Michael Kohlhaas als narzisstische Persönlichkeitsstörung. Deren dynamische Pole sind ein megalomanisch übersteigertes Ideal-Ich mit seinem Rechtgefühl und eine pathogen übersteigerte Verletzbarkeit (Vulnerabilität). »Das aktuelle Maß […] ist die ›erlittene Kränkung‹ (11) durch den Landjunker, das wahre Eichmaß aber, das ahnt der Leser, ist eine tiefe Vulnerabilität, die letztlich die psychische Eskalationsdynamik in Gang setzt.«125 In Kleists Lutherfigur findet Oberlin denjenigen gestaltet, der Kohlhaas durchschaut: »In dieser Szene wird also die Figur (Kohlhaas, B. W.) nicht nur moralisch, juristisch und politisch auf den Prüfstand gestellt, sondern auch psychologisch, indem Luther den narzisstischen ›Wahn‹ in Kohlhaas als wahre Ursache seiner Machtfiktionen und den Furor des Rechtskämpfers als egozentrische Attitüde eines Entehrten entlarvt.«126 Folgerichtig erweisen sich Kohlhaasens Vorstellungen von Recht, – die allein es möglich machen zu bestimmen, »dass ›das Unrecht, das Kohlhaas widerfährt, symptomatisch ist für das allgemeine Unrechtssystem […]‹ (Schmidt 2003, S. 216)«127 – als Derivate einer Persönlichkeitsstörung, was an der Zigeunerin belegt wird: »Elisabeth ist also nicht nur das psychische Derivat von Lisbeth, sondern auch der Ersatz für die väterlich apostrophierte, indes mütterlich archaische Rechts- und Staatsfiktion, an die Kohlhaas sein Ich-Ideal und seine bürgerliche Rollenimago koppelt.«128

      Immanent nachgewiesen ist Oberlins Interpretation fragwürdig, weil sie selbst zeigt, dass ihre Voraussetzung nicht gegeben ist. Denn Oberlin muss davon ausgehen, dass eine von früher Kindheit her existierende narzisstische Struktur durch die Ereignisse im 30. Lebensjahr aktiviert wird. Im Text jedoch fehlt für den Nachweis der Existenz eines entsprechenden »Milieus« psychotroper soziokultureller Faktoren129 nicht nur jeder Hinweis130, sondern alles spricht für das Gegenteil. Kohlhaas ist alles andere als ein Mensch, der durch narzisstische Allüren auffällig geworden war, oder ein vor Hass kranker Unterdrückter, sondern »der musterhafte Bürger, der ›sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte‹, ist Pferdehändler, […], hält auf ›Arbeitsamkeit‹, ›Gerechtigkeit‹, ›Treue‹, […]«131 etc. Kohlhaasens Übereinstimmung mit den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen könnte, wie seine anfänglichen Vorstellungen in der Exposition des Konflikts belegen, nicht harmonischer sein (vgl. Teil B 03).

      Auf den prinzipiellen Mangel aller psychologischen Interpretationen, die Kassierung des Unterschieds zwischen dem vernünftigen Ich und dem psychischen Ich, kann hier nur mit einem zitatweisen Verweis eingegangen werden: »Das Ich fällt als Organisationsform aller seelischen Regungen, als das Identitätsprinzip, welches Individualität überhaupt erst konstituiert, auch in die Psychologie. Aber das ›realitätsprüfende‹ Ich grenzt nicht bloß an ein Nichtpsychologisches, Auswendiges, dem es sich anpasst, sondern konstituiert sich überhaupt durch objektive, dem Immanenzzusammenhang des Seelischen entzogene Momente, die Angemessenheit seiner Urteile an Sachverhalte.«132

      Die Kassierung dieses Unterschieds wird noch radikalisiert, wenn in der auf Lacan, Deleuze, Foucault, Derrida etc. fußenden Richtung der postmodern-strukturalistischpsychologischen Literaturanalyse über den totalisierten Begriff des Unbewussten als eines unabschließbaren Fließens eine Vorstellung von einem abstrakten Anarchismus entwickelt wird, der sich gesellschaftskritisch dünkt, weil er blind gegen seine eigenen Voraussetzungen und in undialektischem Furor alles Feste mit Herrschaft oder Macht gleichsetzt, die es aufzulösen oder zu verflüssigen gelte. Dazu als Beleg: »Der Apparat ist ein Versuch, das Fließen des Textes zu unterbrechen, sich zwischen den Text und den Leser zu setzen, und zu bestimmen, wie und wohin der Text fließen soll. (Deleuze 2001a) Die Kodierung des Fließens ist eine grundlegende Operation