Kleists Michael Kohlhaas. Berthold Wendt

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Название Kleists Michael Kohlhaas
Автор произведения Berthold Wendt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783866746961



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und Empirie gegeben. Die Motivierung durch b) mache es möglich das »Ärgernis«91 der Zigeunerin-Episode »als notwendig«92 zu erklären. Ein Problem dabei sei, dass Kohlhaasens Handeln durch die Umstände bedingt, somit nicht autonom sei. Greiner nennt Kohlhaasens Handeln »die Entsetzung der Entsetzung des Gesetzes«93, eine »doppelt negierende Geste der Verfremdung«94.

      Um die Kohlhaas-Handlung mit den ästhetischen Bestimmungen aus Kants Kritik der Urteilskraft analog zu setzen – anstatt sie, wie in meiner Arbeit, an der ästhetischen Form durchzuführen – parallelisiert Greiner das klare Unrecht der Rechtsverweigerung unter dem Namen des Versuchs, »die gegebene empirische Situation unter den Begriff des Rechts (der Rechtsprechung im jeweils gegebenen Fall) zu bringen«95 mit Kants Begriff des Schönen, dessen Gegenstand sich nach Kant nicht unter Verstandesbegriffe subsumieren lässt. Da es nach Greiner aber prinzipiell möglich ist, sowohl die empirische Situation unter einen Rechtsbegriff zu subsumieren, als auch die »Idee ›Recht‹« in die Anschauung »zurückzuholen«96, ist eine Parallelisierung mit den Kant’schen Bestimmungen des Schönen und Erhabenen in dieser Weise unzulässig, da diese beides ausschließen.

      Greiner rekonstruiert den Handlungsverlauf zunächst soweit, dass in ihm »der Rechtsfall und der Fall des Rechtsbegehrens, wie die Erzählung diese entwirft, sodann begründet und zum erläuterten Ende bringt, in sich völlig schlüssig behandelt«97 ist. Gleichwohl beruht Greiners argumentative Konstruktion der Begründung der »völlig schlüssig« behandelten Rechtsangelegenheit darauf, dass sich Kohlhaas nicht »im Sinne seiner naturrechtlichen Argumentation auf Fragen struktureller Änderung der Ordnung konzentrierte, durch die die Rechtsverweigerung unmöglich gemacht wird.«98 Statt dessen »kapriziert«99 er sich »auf die Frage zu bewahrheitender Repräsentation der Idee ›Recht‹ in der empirischen Welt.«100 Es ist nun, Greiner folgend, von höchster Relevanz für die Frage der Stimmigkeit der ästhetischen Konstruktion bis zur Zigeunerinepisode, konsequent zu begründen, warum Kohlhaas nicht auf dem insistiert, was den Namen einer vernünftigen Idee des Rechts verdiente, sondern sich letztlich von Luther dazu verführen lässt zu glauben, »dass der jeweilige Kurfürst unangetasteter Repräsentant der Idee ›Recht‹ in der Welt sei.«101 Das später für Greiner so entscheidende ästhetische Opfer wäre also unnötig, wenn Kohlhaas sich nicht ideosynkratisch »kapriziert« und dadurch von Luther hätte zu einer Inkonsequenz verleiten lassen. Der Begriff der »Idee ›Recht‹« wird deshalb bei Greiner ebenso unscharf, wie der der »Versöhnung« (um derentwillen sich das Erzählen selbst negieren müsse) und damit auch die Erfüllung des »Brückenschlags«. Eine auf einer solchen autoritativ vermittelten Inkonsequenz aufgebaute »Versöhnung« ist nun aber ebenso fragwürdig wie das Opfer der Erzählung um ihretwillen.

      Das Opfer des Protagonisten und das des Erzählens sind nach Greiner notwendig: »Die Wende der Erzählung in eine Welt magischer Praktiken und unwahrscheinlicher Zufälle restituiert die Rechtsprechung in ihrem rechtserhaltenden Aspekt, indem sie eine Welt eröffnet, in der der falsche Repräsentant der Idee ›Recht‹ vernichtet werden kann.«102 Doch damit »hat die Erzählung vom Selbsthelfer Kohlhaas in diesem Part mit der aus der bisherigen Logik der Handlung herausfallenden Wende in den Zufall gleichfalls zum Selbsthelfertum gegriffen, insofern die Willkür des Erzählers nach Belieben Zufälle stiften kann.«103 Greiner bezeichnet diesen Schritt in die Willkür als »Selbstnegation«104 des Erzählens. »Im paradoxen Rechtsschluss über Kohlhaas wird nicht nur die verworrene Wirklichkeit unter den Begriff des Rechts gebracht, sondern auch die rechtsprechende Instanz in ihrem Vermögen, die Idee ›Recht‹ im jeweiligen Akt der Rechtsprechung zu repräsentieren, neu gekräftigt.«105 Damit wäre der »Gestus der doppelten Negation als ästhetisches Verfahren der Repräsentanz des Ideellen«106 erfüllt. Weil dies aber nur um den Preis der Selbstnegation des Protagonisten und des Erzählens möglich ist, werden diese sodann wiederum dadurch ideell entschädigt, dass »Kohlhaas dabei zum Topos des Selbsthelfers wird«107 und die Erzählung einen »Gegen-›Ort‹« »begründet«108, ein legendäres Jüterbock.

      Greiners Deutung bleibt aus der Sicht meines Ansatzes heraus unbefriedigend, weil er sich nicht auf den prozessualen Charakter des Kunstwerks und die spezifischen Wandlungen der Subjektivität des Helden einlässt. Statt dessen muss er zu einer Konstruktion greifen, die vom Text nicht wirklich gedeckt ist (vgl. auch etwa seinen Bezug auf das Rechtsmittel der Fehde). Gerade im Hinblick auf den letzten Teil entgeht ihm die Wandlung zum lyrischen Subjekt und damit ein entscheidender Aspekt in der Frage des Erhabenen: Kohlhaas’ Rache als Manifestation, gesetzt durch ein Subjekt, das nach dem Scheitern seiner dramatischen Intention sich in der bestehenden Welt nicht mehr produktiv entäußern kann. Gerade an dieser Stelle ist gegenüber Greiner anzumerken, dass Kohlhaas nicht als autonomer Wille auf sein Leben verzichtet, um durch seine Hinrichtung das bestehende Recht zu bestärken, sondern im Gegenteil um seiner demonstrativen Rache willen, die allein ihrer Form nach der bürgerlichen Rechtspflege, die Kohlhaas passiv über sich ergehen lässt, gegenüber steht. Soll jedoch nach Greiner das geschwächte »Vermögen der Rechterhaltung«109 durch die Vernichtung des »falschen Repräsentanten der Idee ›Recht‹«110 gestärkt sein, so kann nichts deutlicher gegen die von Greiner behauptete Versöhnung sprechen, als dass diese »Vernichtung« gerade nicht durch die autorisierten und institutionalisierten Rechtsinstanzen vorgenommen wird. Dann kann aber auch folglich »der von Magie und Zufall geprägte Handlungsteil der Kohlhaas-Erzählung«111 gerade nicht die Funktion erfüllen, die Greiner ihm zuspricht, und um deretwillen sich das Erzählen nach Greiners These selbst hatte negieren müssen.

      Da die Analyse dramaturgischer Antizipation von Beda Allemann112 in meiner »dramaturgischen Grundlegung« (Teil A 01) erörtert wird, soll hier noch auf die im Jahre 1999 von Anthony Stephens vorgetragene Kritik an Allemann eingegangen werden.

      Dabei nun ist es symptomatisch für den formfremden Geist der gegenwärtigen Forschung, dass A. Stephens in seiner Kritik an Beda Allemanns Konzeption der Antizipation deren formbestimmende dramaturgische Bedeutung nahezu völlig ignoriert, sich auf Antizipation als Erzählprinzip konzentriert und statt einer Formanalyse philosophiegeschichtlich »eine bei Allemann fehlende Perspektive auf Kleists Auseinandersetzung mit dem Gedankengut der europäischen Aufklärung als Quelle der Antizipationsthematik« verfolgt, »damit die mannigfaltigen Ambivalenzen, die einigen Beispielen aus den Dramen und Erzählungen innewohnen, in ihrem historischen Kontext verstanden werden können.«113 Könnte ich hier dem Verfahren der »Erschöpfenden Interpretation« des Michael Niehaus folgen, so wäre an Stephens Aufsatz detailliert zu erweisen, dass die, sich als historisch in ihrer Geltung als belegt glaubende, biographisch-geistesgeschichtliche Deutung deshalb am Text vorbeidenkt, weil sie die zum interpretatorischen Aufschließen des Textes nötigen philosophischen Begriffe nicht aus der Logik des Textes selbst entwickelt, sondern sich an äußerlichen Merkmalen der geistigen Biographie des Autors orientiert. Da Stephens außerdem die Verbindung von Leibniz’scher Monadenlehre und erzähltechnischer Antizipation eingeleuchtet hat, wird die frühe theologische Phase Kleists (vor der sog. Kantkrise) mit der Leibniz’schen Monadologie überblendet und zugleich als Bedingung der Möglichkeit von (Allemann’scher) Antizipation unterstellt. Damit ist dann die metaphysische Kontrastfolie geschaffen, vor deren Hintergrund im Weiteren mit Rousseau’schem Gedankengut, dessen Einfluss auf den Autor niemand leugnen kann, ein nachtheologischer Desillusionismus bei Kleist und in seinen Werken nachgewiesen werden soll.

      »Weit davon entfernt, durch antizipierende Einschätzungen der Wirklichkeit ›das Schicksal selbst zu leiten‹ (SW II, 310), scheinen die handelnden Figuren in Kleists Dichtungen eher dazu verurteilt zu sein, die im Text selbst inhärenten Muster auf Kosten der Autonomie des eigenen Bewusstseins zu vervollständigen.«114 Die über die Monadenlehre von Leibniz eingeführte metaphysische Totalität geht an Kleists Werken ebenso vorbei wie an dem, was Allemann an Kleist entdeckte. Stephens stellt der falschen Allemann’schen Einseitigkeit der These vom statischen Heldendrama die Seite der Selbstverwirrung als ebenso Einseitiges entgegen, ohne sich auf den dramatischen Verlauf und seine Motiviertheit aus dem Antizipationsmoment einzulassen. Dabei zerrinnt der Bezug auf die literarischen Formbestimmungen, die Allemann bei aller Problematik seiner Analysen, in den Vordergrund rückt, bei Stephens zu einem vagen Spannungsfeld aus erzähltechnischer Antizipation und Bewusstseinszustand der Protagonisten. »Auf diese Weise entsteht in den Dichtungen Kleists eine fundamentale Spannung zwischen Antizipation als literarischem