Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4. Группа авторов

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Название Oberhausen: Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd. 4
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783874683203



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möglich.“2

      Der Zeitgeist des Wirtschaftswunders wird zudem nicht verständlich ohne zu berücksichtigen, dass die Menschen in Deutschland Erfolge in der Wirtschaft als Mittelpunkt ihrer kollektiven Identität begriffen, nachdem sich als Folge des Nationalsozialismus Themen der nationalen Politik und des Nationalbewusstseins dazu kaum eigneten. Und die Oberhausener waren voller Zuversicht und Selbstbewusstsein beim Wirtschaftswunder mitten dabei! Die „Wiege der Ruhrindustrie“ stellte weit mehr als eines der sprichwörtlichen „kleinen Rädchen“ im mächtigen Gefüge von Europas größter Industrieregion dar: 4,5 Prozent der deutschen Steinkohlenförderung, 6,5 Prozent der deutschen Kokserzeugung und sogar rund 9 Prozent der deutschen Roheisen- und Stahlerzeugung wurden in Oberhausen gefördert bzw. produziert. S. können wir nachvollziehen, warum und wie sehr die Menschen selbstbewusst und zuversichtlich die Gegenwart erlebten und in die Zukunft sahen. Kaum ein historisches Dokument bringt diesen Zeitgeist, diesen Optimismus und dieses Selbstbewusstsein der Menschen in Oberhausen eindrucksvoller, plastischer zum Ausdruck als Oberhausens legendärer Stadtwerbefilm „Schichten unter der Dunstglocke“ von 1958/​59. Rauchende Schlote und sich schwungvoll drehende Seilscheiben der Fördertürme, verschwitzt glänzende, nackte Arbeiter-Oberkörper und schier endlos wimmelnde Menschenmassen vor Werkstoren beim Schichtwechsel, auf Schulhöfen oder auch auf der Marktstraße beim Einkaufsbummel am Samstag bringen die stolze, ein wenig urbane Zufriedenheit zum Ausdruck, die den Oberhausener und die Oberhausenerin von 1959 mehrheitlich bestimmte. Nun können wir besser verstehen, dass die Stimmungslage der Stadt eine positive, meist persönlich zufriedene, hoffnungsfrohe war. Aber dennoch: Warum vermochten die Zeitgenossen von 1960 als Generation, weit mehrheitlich, als städtisch kommunizierende Öffentlichkeit offenbar noch nicht zu erkennen, dass sich da vor ihren Augen, in ihren Tagen ein umfassender Wandel von bisher ungekannter und unvorstellbarer Dimension Bahn zu brechen begann? Dieser Frage werden wir nur mit Hilfe eines Blicks in die Geschichte des Wandels auch schon vor 1960 auf den Grund gehen können.3

       Der Wandel in Oberhausen hat eine lange Geschichte

      1890 wechselte der Ruhrbergbau großflächig über die Emscherniederung nach Norden und löste damit auch im Oberhausener Raum eine neue Dimension von Bergbau- und Siedlungstätigkeit im Sterkrader und Osterfelder Norden aus.

      1902 ging der große mittelständische Eisenhersteller „AG für Styrumer Eisenindustrie“ mit kurz zuvor noch 700 Beschäftigten in der Mitte der Oberhausener Innenstadt in Liquidation. Die Aufgabe des Werkes machte den Weg frei für die großstädtische Bebauung des Quartiers vom Bert-Brecht-Haus bis zum Amtsgericht, von der Elsässer Straße bis zum Elsa-Brandström-Gymnasium. Das Ende der Styrumer Eisenindustrie ist Spiegelbild eines rasanten Konzentrations- und Kartellierungsprozesses in der deutschen Schwerindustrie. Von 1890 bis etwa 1925 wuchsen einige Unternehmen zu Weltkonzernen. Krupp, Thyssen, Stinnes und auch die Gutehoffnungshütte (GHH) sind die bedeutendsten Innovationsträger der Montanindustrie an der Ruhr. Die Oberhausener GHH erweist sich mehrmals als Trendsetter. Zuerst bildete sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als erstes Unternehmen der Ruhrwirtschaft den vertikalen Montankonzern von der Kohle über Eisen- und Stahl bis zur Metallverarbeitung erfolgreich aus. Seit 1900 errichtete die Sterkrader Brückenbauanstalt Bauwerke in der ganzen Welt. 1921 dann bildete die GHH, begünstigt von den vollen Kassen der Inflationszeit bei gleichzeitigem Drang in die Sachwerte, aus der starken Position der Konzernmutter den Metallkonzern mit der MAN, der bis heute trägt. Oberhausen steht damit wiederholt an der Spitze der internationalen Wirtschaftsentwicklung.

      1924 endete mit der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg eine stabile industrielle Hochkonjunktur und die Schwerindustrie im Ruhrgebiet wurde erstmals mit einer Konkurrenzsituation konfrontiert, in der weltweite Überkapazitäten einen Preisverfall bewirkten.

      1927 entstand mit der Ruhrchemie im Holtener Bruch in Oberhausen ein neues Großunternehmen, und nun sogar auch noch in einer ganz neuen Branche, der Chemie, die für die Menschen im Oberhausener Norden bislang keinerlei Bedeutung besessen hatte.

      Zwischen 1930 und 1932 wurden in der Oberhausener Stadtgeschichte im Zuge der Weltwirtschaftskrise erstmals Bergbaubetriebe geschlossen. Dass ab dem 1. April 1931 auf den Zechen Oberhausen im Osten der GHH-Eisenhütte an der Essener Straße, oder Hugo im Norden, dem Holtener Waldteich, nie mehr Kohle gefördert wurde, obgleich in 600 und 1.000 Meter Tiefe noch wertvolle Vorräte lagerten, wollte den Menschen in der zu 75 Prozent von Arbeitern bewohnten Industriestadt verständlicherweise nicht in den Kopf. 1930 legte die GHH die Kokerei Vondern, 1931 die Kokereien Sterkrade und Jacobi still. Ferner folgte die Stilllegung der Förderschächte Vondern 1932, Sterkrade und Jacobi 1933. Das bedeutete eine krasse, bislang ungekannte und unvorstellbare Krisenerfahrung von der Gefährdung schwerindustrieller Betriebe und Arbeitsplätze in Oberhausen.

      Seit 1946 fand der eben skizzierte Wiederaufbau von einmaliger Geschwindigkeit und Dimension statt, mit dem die Produktions- wie die Beschäftigungsziffern in Oberhausens Leitbranchen Kohle, Eisen und Stahl alle Rekorde der Vorkriegszeiten vor beiden Weltkriegen deutlich in den Schatten stellten.

      Die 1950er Jahre schließlich erleben neben dem Boom der Schwerindustrien den Aufschwung vieler weiterer Wirtschaftszweige, die den Zeitgenossen als zukunftsweisend gelten. Traditionsreiche Konsumgüterindustrien erreichen den Höchststand von Produktion und Beschäftigung. Dafür stehen im Bewusstsein der Zeitgenossen des Wirtschaftswunders in Oberhausen vor allem zwei Unternehmen, die zu den größten Fabriken ihrer Art in Deutschland zählten: Die Rheinischen Polstermöbelwerke Carl Hemmers beschäftigten 1961 insgesamt 1.800 Mitarbeiter, die Oberhausener Glasfabrik 600 Menschen.

      Was diese schlaglichtartige Betrachtung der Oberhausener Wirtschaftsgeschichte vor allem zeigt, ist die stetige Verlässlichkeit von Wachstum und Veränderung in der 1962 schließlich einhundertjährigen Geschichte der Industriestadt Oberhausen. Zu jener Zeit blickten die Menschen in Oberhausen bereits auf einen anscheinend immerwährenden Wandel zurück. Seit rund einem dreiviertel Jahrhundert bestimmten Dynamik und Veränderung, im Sinne von Wachstum und ständiger Schaffung neuer Strukturen, die Oberhausener Industrie mit Kohle und Stahl sowie ihrer Weiterverarbeitung im Mittelpunkt. Doch beruhte der Optimismus der Zeitgenossen um 1960, dass sich Wandel auch zukünftig mit einem Wachstum von Stadt, Wirtschaft und Wohlstand verbinden würde, nicht minder auf der Erfahrung eines stetigen Bedeutungszuwachses der Dienstleistungen. Von der Tertiärisierung – den Dienstleistungen als drittem volkswirtschaftlichen Sektor – sprachen die Menschen bereits seit dem frühen 20. Jahrhundert, und dieser Schwung nahm um 1960 spürbar zu:

       Abb. 1: Die Marktstraße um 1900 mit Straßenbahn

      Um 1890 erfuhr die Oberhausener Innenstadt mit ihren privaten und öffentlichen Dienstleistungen als der vollständig ausgebildete Mittelpunkt einer neuen Stadt einen ersten Abschluss. Damals betrug der Anteil der Dienstleistungen an der Beschäftigung in der Stadt etwa acht Prozent. Die statistischen Grundlagen der damaligen Zeit lassen keine seriösen Angaben hinter dem Komma zu, weil insbesondere Selbstständige und mithelfende Familienangehörige noch nicht nach den Maßstäben des 20. Jahrhunderts erfasst wurden. Danach expandierten die Dienstleistungen spürbar – und sichtbar: Neue Behörden wie Amtsgericht, Polizei und staatliches Gymnasium, die Ausweitung städtischer Aufgaben, neue Geschäfte in der Innenstadt bis hin zu Woolworth und dem Ruhrwachthaus mit dem Kaufhaus Leonhard Tietz prägten das erste Drittel des 20. Jahrhunderts in der Oberhausener Innenstadt. S. betrug der Anteil der Dienstleistungen an Oberhausens Wirtschaft vor der Weltwirtschaftskrise 1929 schon rund 15 Prozent. Zwanzig Jahre später, in der Gründungsstunde der Bundesrepublik 1949, hatte sich der Anteil auf etwa 20 Prozent ausgeweitet. Die 1950er Jahre dann erlebten – trotz des starken Zuwachses an Produktion und Beschäftigung in der Industrie – einen signifikanten Bedeutungsanstieg der Dienstleistungen. Mehr Wohlstand für die breite Bevölkerung ließ Handel, Gastronomie und private Dienstleistungen aufblühen. Neuartige öffentliche Aufgaben in Bildung, Kultur und Sozialem schufen ebenso Arbeitsplätze wie das Wachstum von Firmenverwaltungen im Zuge von wachsenden weltweiten Handelsverflechtungen. S. zeigt sich Oberhausen 1961 recht eindrucksvoll auf dem Weg zur Dienstleistungsstadt. Etwa 33 Prozent der gut 108.000