Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Название Die Geschichte der Zukunft
Автор произведения Erik Händeler
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865064356



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hatten (siehe ausführlich im Geschichtskapitel, S. 29) – wir werden jetzt mit denselben Problemen konfrontiert:

      Verteilungskämpfe: Verteilen ist einfach, solange es jedes Jahr mehr zu verteilen gibt. Die Frage, wie die eingenommenen Steuern und Sozialabgaben ausgegeben werden sollen, wird jedoch zum Kampf, wenn nicht mehr, sondern nur noch weniger als bisher verteilt werden kann. Die demokratische Große Koalition der Weimarer Republik zerbricht nach dem dritten Kondratieff 1930 im Streit über eine höhere Arbeitslosenversicherung ( S. 109), die sozialliberale Koalition 1982 an der Neuverschuldung des Bundes ( S. 142), und auch Bismarck trägt sich 1880/​81 mit Staatsstreichsplänen, weil der Reichstag seine Steuer- und Haushaltsvorstellungen nicht genehmigt ( S. 111). Wir erleben diese Verteilungskämpfe zunehmend über die Sozialversicherungen, in der Rente und in den Krankenkassen, aber auch beim Aushandeln von Löhnen. Daran könnte sich die Parteienlandschaft zersplittern wie einst in den 1920er Jahren. Regierungen und Parlamentarier werden sich in den nächsten Jahren ebenso verschärfte Verteilungskämpfe liefern – hoffentlich haben sie dabei die historische Situation der vergangenen Kondratieffabschwünge vor Augen. Denn ausgerechnet dann, wenn es weniger zu verteilen gibt, kommt es darauf an, möglichst viele Ressourcen für neue, produktive Investitionen zu mobilisieren. Zu leisten ist das nur durch einen überproportionalen Konsumverzicht.

      Handelskriege: Wenn die Märkte stagnieren, weil sich die Unternehmer weltweit den Gewinn gegenseitig herunterkonkurrieren, während gleichzeitig die bisher hohen Produktivitätssteigerungen ausbleiben, dann reagieren sie zu allen Zeiten gleich: Sie üben immer mehr Druck auf ihre Landespolitiker aus, den heimischen Markt gegen ausländische Waren mit Importzöllen zu verschließen. Aus der liberalen Wirtschaftspolitik Bismarcks wurde so eine nationalkonservative Schutzzollpolitik ( S. 73), die gegenseitigen Zollmauern nach dem Ersten Weltkrieg beschleunigten die Depression 1929/​33 ( S. 96), mit Handelsbarrieren wie etwa technischen Normvorschriften machten sich die Europäer in den 70er Jahren das Leben gegenseitig schwer und verschleppten die wirtschaftliche Einigung Europas ( S. 134).

      Das alles ist nicht Vergangenheit, sondern schon wieder Gegenwart. 2001 kommen rund 150 Länder der Welthandelsorganisation WTO in Doha im Emirat Katar zusammen, um Handelsschranken weltweit abzubauen: Die Industrieländer wollen ihre Zölle für Agrarerzeugnisse aus den Entwicklungsländern senken, die Entwicklungsländer ihre Zölle für Industriegüter aus den reichen Ländern. Es geht darum, ob die reichen Länder ihren Wohlstand erhalten und die armen Länder dennoch aufholen können. Alle sind bereit, sich ein wenig zu bewegen, außer den USA: Die USA subventionieren ihre Agrarprodukte und fordern die Abschaffung von Agrarzöllen (was die Länder auf der Südhalbkugel betrifft), um Weizen und Reis leichter verkaufen zu können. Indien und China wollen hohe Zölle, um ihre nicht subventionierte Landwirtschaft zu unterstützen. An dieser Frage scheitert im Sommer 2008 die Welthandelsrunde samt aller bisher ausgehandelten Vereinbarungen über Maschinen, Schuhe und Textilien. Der Streit zeigt, dass die USA und Indien kein Abkommen schließen wollten, weil es die anderen Handelsmauern beschädigt, die sie selbst errichtet haben. Bis November 2010 verzeichnet die WTO 172 neue Abschottungsmaßnahmen innerhalb der G-20-Staaten seit Ausbruch der Krise. Auch das verdeutlicht, wie der Kondratieffzyklus umgekippt ist. Denn im Abschwung drängt man besonders rücksichtslos auf die Märkte im Ausland, das sich mit Handelsschranken wehrt, während im langen Aufschwung der eigenen Markt kaum befriedigt werden kann und arbeitslose Farmer aufnehmen würde.

      Dazu kommen weitere Handelskriege zwischen der EU und den USA. Die EU lehnt das mit Hormonen behandelte Fleisch der USA ab, die dafür die Zölle auf französischen Roquefort-Käse verdreifachen. Weil die US-Stahlindustrie mit hohen Zöllen geschützt wurde, hatte sie es nicht nötig, in neue, bessere Verfahren zu investieren. Dadurch hinkt sie hinterher, muss durch noch höhere Mauern vor Konkurrenz bewahrt werden. Versteckte Exportsubventionen, für die die USA von der Welthandelsorganisation (WTO) verurteilt wurde, haben sie nicht zurückgenommen – die Europäer verhängten aus Angst vor weiteren Gegenmaßnahmen nicht die in dem gewonnenen Prozess erlaubten Zölle. Und endet die Ausschreibung für ein neues Tankflugzeug mit einem Großauftrag für Europäer, wird das Projekt zurückgezogen und mit veränderten Angaben neu ausgeschrieben, sodass der heimische Hersteller Boeing den Auftrag bekommt. Die USA schotten sich immer häufiger ab. Es ist erst wenige Jahre her, dass mächtige US-Senatoren ankündigten, die USA würde aus der WTO austreten, sollte ihr Land öfter in WTO-Streitigkeiten unterliegen (was ein fragwürdiges Licht auf das Rechtsverständnis mancher Akteure wirft: Gilt das Recht des Gesetzes oder das Recht des Stärkeren?). Auch über einen niedrigeren Wechselkurs werden diese Handelskonflikte ausgetragen, um den eigenen Export zu stärken. Die USA verhalten sich dabei so, wie sie es seit Monaten China vorwerfen: Durch das Drucken von Geld (denn nichts anderes ist das Kaufen von Staatsanleihen der US-Notenbank Fed) versuchen sie, ihre Währung künstlich niedrig zu halten. Allein die Ankündigung der Fed, unter Umständen noch mehr Dollar in den Wirtschaftskreislauf zu pumpen, reichte aus, um einen steilen Anstieg des Euro-Kurses auszulösen. Die japanische Notenbank intervenierte massiv, die Schweizer ebenso. Der brasilianische Finanzminister Guido Mantega erzeugte Unruhe, als er die Selbstverständlichkeit aussprach, ein »internationaler Währungskrieg« sei ausgebrochen. Wie schon in den 20er-Jahren hilft das niemandem, weil alle nachziehen.

      Gesellschaftspolitisches Klima: Wer einen immer größeren Teil seiner Lebensenergie darauf verwenden muss, seinen Lebensunterhalt gerade noch so zu verdienen, der hat keine Kraft mehr übrig für Experimente und eigene Sehnsüchte. Er signalisiert schon durch seine Kleidung, dass er sich beflissentlich einordnet. Denn bei schlechter Konjunktur kann es den Job kosten, aufzufallen. Anpassung ist mehr denn je die Norm. Der Dresscode signalisiert: Ich funktioniere. Frauen tragen im Büro wieder mehr einen Hosenanzug oder ein klassisches Kostüm – das vermittelt die nötige Distanz und steht für Souveränität. Die Zeit der großen Freiheiten ist vorbei. Wenn das freie Spiel der Kräfte nicht mehr funktioniert und sich die Schönwetterpolitiker an den Problemen verschleißen, die sich ständig noch höher auftürmen, dann ruft das Volk nach der eisernen Faust und der starken Hand. Das gesellschaftliche Klima wird immer konservativer (im negativen Sinne von: eigene Machtstrukturen erhalten auf Kosten gesamtwirtschaftlicher Effizienz; vorrangig eigene Interessen verfolgen, selbst wenn dies das berechtigte Interesse anderer verletzt).

      In der Kunst dominieren konservative Stile wie Biedermeier oder der Historismus. Das war – in unterschiedlicher Intensität – in jedem der bisherigen Kondratieffabschwünge so, ob bei Fürst Metternich, dem Reichskanzler Bismarck, der Machtergreifung der Nazis oder der konservativen Wende zu Beginn der 80er Jahre. In Zeiten knapper Gewinne und sinkender Reallöhne vergeht den meisten die Lust, Neues auszuprobieren. Zu dumm: Ausgerechnet in diesen Zeiten sind gerade unkonventionelle Pioniere gefragt, die innovative Produktion, Handel und Verhaltensweisen umsetzen; die sich über »das war schon immer so« und »das haben wir noch nie so gemacht« hinwegsetzen. Doch solche seltenen Menschen sind in der Regel nicht status-, sondern so sachorientiert, dass sie sich nicht lange mit Formalkram aufhalten – was es ihnen in konservativen formalen Strukturen so schwer macht, den neuen Wohlstand voranzubringen.

      Arbeitslosigkeit: Je besser die Geschäfte der Unternehmer in einem langen Kondratieffaufschwung florieren, umso besser ist die Verhandlungsposition der Arbeiter – und umso erfolgreicher ist ihr Streik, wie etwa in den Gründerjahren um 1870 ( S. 63) oder in den 1960er/​frühen 70er Jahren ( S. 134). Die Unternehmer geben nach, denn sie brauchen jeden, den sie kriegen können, und sie können die höheren Löhne ja auch gut bezahlen: Ein neues grundlegendes Innovationsnetz hilft ihnen, etwas viel besser und vor allem mit weniger Aufwand herzustellen. Sie weiten ihre Produktion aus, weil der Markt ihre immer günstigeren und qualitativ besseren Waren aufsaugt. Doch wenn im langen Abschwung die Produktivität stagniert und die Kosten nicht mehr sinken, während die erzielten