Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

Читать онлайн.
Название Die Geschichte der Zukunft
Автор произведения Erik Händeler
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865064356



Скачать книгу

      Damit wird das neue technologische Netz von unterschiedlichen Gesellschaften wieder unterschiedlich gut aufgenommen und umgesetzt. Wieder wächst das Produktionspotenzial in den Ländern unterschiedlich schnell. Wieder verschieben sich die wirtschaftlichen Machtgewichte, wieder mischt ein neuer Kondratieff die internationale Politik auf: 1870 produzieren die Deutschen erst ein Fünftel des britischen Eisenausstoßes, 1890 immerhin schon die Hälfte. 1910 haben die Deutschen mit 13 Millionen Tonnen die 10 Millionen Tonnen britischen Eisens überholt. Im selben Jahr gießen die Deutschen sogar doppelt so viel Stahl wie Großbritannien.

      Gegenüber Frankreich ist der deutsche Machtzuwachs im dritten Kondratieff noch größer: 1880 hat Frankreich mit 25,1 Prozent des britischen Industriepotenzials des Jahres 1900 ein fast ebenso großes Gewicht wie Deutschland mit 27,4 Prozent.55 Weil sie die Basisinnovationen um Strom und Stahl aber besser beherrschen, verfünffachen die Deutschen ihr Industriepotenzial bis zum Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf 137,7 Prozent, die Franzosen können es nur wenig mehr als verdoppeln und kommen 1913 auf 57,3 Prozent der britischen Produktion des Jahres 1900. Die deutsche Kohleförderung steigt von 89 Millionen Tonnen im Jahr 1890 auf 277 Millionen Tonnen bis zum Ersten Weltkrieg – das ist fast so viel wie die britische Kohleförderung und mehr als doppelt so viel wie die französische, österreichisch-ungarische und russische Kohleförderung zusammen.

      Die europäische Elektroindustrie wird von Siemens und AEG beherrscht. Deutsche Chemiekonzerne, angeführt von Bayer und Höchst, stellen 90 Prozent (!) der weltweiten industriellen Farbstoffe her. Deutschlands viel zitierte Kapitalschwäche hängt vor allem damit zusammen, dass Kapital von den Investitionen in Maschinen und Menschen schneller aufgesogen wird, als es erwirtschaftet werden kann. Zwischen 1903 und 1913 investieren die Deutschen 15,3 Prozent ihres Bruttosozialproduktes – das ist ein Spitzenwert, den sie vorher nicht erreicht haben und danach erst wieder im vierten Kondratieffaufschwung erreichen werden. Gemessen am Anteil an der Weltindustrieproduktion, erreicht Deutschland mit 14,8 Prozent 1913 seinen relativen Höhepunkt; Großbritannien steigt seit 1880 von 22,9 Prozent auf 13,6 Prozent der Weltindustrieproduktion ab, Frankreich von 7,8 auf 6,1 Prozent – am meisten nimmt der schlafende Riese USA zu, von 14,7 auf 32 Prozent der Weltindustrieproduktion.56

      Warum sich die britische Produktivität verlangsamt, ist eines der bestuntersuchten Probleme der Wirtschaftsgeschichte: In den Studien geht es um Generationenunterschiede, Sozialethos, veraltete Fabriken, niedrige Produktivität, die vielen Arbeitskämpfe, mangelnde Verkaufstüchtigkeit und vieles mehr. Die Kondratiefftheorie bringt es auf einen Nenner: England verschläft schlicht die Elektrifizierung – und zusammen damit den Aufbau einer modernen Chemieindustrie. Es verliert Marktanteile und wird sogar im eigenen Land von ausländischen Produkten überrollt. Die Briten wehren sich zwar mit dem Brandzeichen »Made in Germany« gegen deutsche Produkte, aber es nützt ihnen nichts. Denn ein deutscher Unternehmer, der seine Fabrik elektrifiziert hat, ist nun mal bedeutend produktiver als ein Engländer, der noch immer daran festhält, mit einer – wenn auch ständig verbesserten – Dampfmaschine zu arbeiten, mit der schon sein Papa und sein Großvater so tolle Erfolge hatten.

      1914 gibt es nur wenige kleinere Elektrofirmen in England – und diese gehören zum Teil den deutschen »Siemens brothers« oder sind Töchter des US-Giganten General Electric. Das britische Bildungswesen bringt zuwenig Ingenieure hervor, Banken und Unternehmer sind eher an kurzfristigen Renditen denn an langfristigem Engagement interessiert. Wirtschaftshistoriker schreiben, die Briten hätten eben mehr in ihrem eigenen Land investieren müssen, anstatt in aller Welt. Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg fließt die Hälfte ihrer Investitionen ins Ausland – aus Deutschland nur jede 20. Mark. Aber das ist ja keine Frage des Wollens, sondern ob die Investitionen rentabel genug sind. Weil die gesellschaftlichen Strukturen in England den dritten Kondratieff nicht fördern, gibt es dort auch wenig zu investieren.

      Vor diesem Hintergrund wundern Spannungen und Flotten-Rüstungswettlauf zwischen Deutschland und England vor dem Ersten Weltkrieg nicht: Die Jahre, nachdem der »Lotse« Bismarck von Bord gegangen ist, bringen den Deutschen mit dem Wirtschaftswachstum das Hochgefühl der Wilhelminischen Ära. Aus der Perspektive der Kondratieff-Theorie ist es daher kein Wunder, dass Deutschland aufrüstet, seine wertlosen Kolonien ausbaut und sogar in blutigen Kriegen die dortige Bevölkerung dezimiert. Eine Gesellschaft, deren Wirtschaft im Vergleich zu früheren Jahren stark wächst, denkt, den konkurrierenden Nachbarstaat bald überholt zu haben und in die Tasche stecken zu können.

      Marokko-Krisen, »Panthersprung«, Balkankriege, Spanisch-amerikanischer Krieg, Englischer Burenkrieg, Russisch-Japanischer Krieg und die japanische Expansion in China sind Ausdruck der wachsenden Spannung, die durch die Verschiebung von Macht und Ressourcen entsteht, weil die Staaten alle, aber unterschiedlich stark wachsen. Einige (wie etwa Frankreich) bekommen dabei Angst, gegenüber dem Nachbarn zu viel an Boden zu verlieren. Es wundert fast, dass der Erste Weltkrieg samt nachfolgender Revolutionen nicht eher ausbricht, und es scheint verständlich, dass so viele Zeitgenossen den Kriegsausbruch bejubeln, weil sie ihn als Erlösung von aufgestauter Spannung empfinden.

      Was für ein unnötiges Säbelrasseln: Hätte Deutschland England im Imperialismus nicht herausgefordert, England wäre im Ersten Weltkrieg neutral geblieben, hätte als Schiedsrichter dafür gesorgt, dass Frankreich und Russland, die allein von Deutschland geschlagen worden wären, nicht zu sehr geschädigt werden. Die USA wären nie in den Krieg eingetreten, nach ein paar Monaten und nur Zehntausenden von Toten statt neun Millionen wäre alles vorbei gewesen. Aber so entladen sich die darwinistischen Vorstellungen im Stahlgewitter, gehen in Europa ein halbes Jahrhundert lang die Lichter aus. England schneidet Deutschland per Seeblockade von Rohstoffen und Lebensmitteln ab. Im Hungerwinter 1916/​17 sterben Tausende Zivilisten. Jeder friert, weil in den Bergwerken zuwenig Männer Kohle fördern, und was sie fördern, verfeuert die Reichsbahn für den Truppentransport. Selbst Grundnahrungsmittel gibt es nur noch gegen Bezugsschein, das Leben wird noch ungleicher als im Kaiserreich.

      Eigentlich müsste dieser Krieg gleich vorbei sein: Durch die Seeblockade kommt aus Chile kein Salpeter mehr ins Deutsche Reich, das die Deutschen brauchen, um daraus Dünger, vor allem aber Sprengstoff, herzustellen. Dank ihres Vorsprungs im damaligen Strukturzyklus gelingt es ihnen aber, durch das Haber-Bosch-Verfahren den Luftstickstoff zu nutzen. Deutsche Chemiker stellen Kautschuk synthetisch aus Kohle her oder züchten Nährhefe als Zusatz für Lebensmittel, Metallurgen entwickeln Legierungen mit weniger Kupfer für die Elektroindustrie – kurz: Was ihnen fehlt, können die Deutschen oft technologisch ausgleichen. Umgekehrt ist die französische Chemieindustrie massiv von deutschen Chemie-Importen abhängig. Kriegsführung wird ein wirtschaftlicher Wettlauf darum, wer seine Produktion schneller ausweiten kann. Ohne den Kriegseintritt der USA mit ihrem Industriepotenzial hätte das Deutsche Reich den Krieg gewinnen können (und wir lägen, um Erich Kästners Gedicht »Wenn wir den Krieg gewonnen hätten« von 1931 zu zitieren, noch heute mit der Hand an der Hosennaht im Bett).

      Damit beschleunigt der Krieg das Tempo, mit dem dieser Strukturzyklus erschlossen wird: Alle Volkswirtschaften bauen ungeheure Produktionskapazitäten in der Chemie und in der Schwerindustrie auf, investieren in arbeitssparende Maschinen, treiben die Elektrifizierung der Fabriken voran. Materialschlachten verschlingen nie da gewesene Güterberge. Moderne Industrien tauchen plötzlich neu in bisher ländlichen Gebieten auf. Die besser zahlende Rüstungsindustrie zieht Menschen aus den Dörfern in die Städte, wo sie auch nach dem Krieg bleiben. Millionen von Frauen jeden Alters und fast aller Schichten ersetzen die Männer in den Fabriken und öffentlichen Stellen (das bringt ihnen dann 1919 in der Weimarer Republik die formale Gleichberechtigung und endlich das Recht, wählen zu dürfen). Hochbetagte in Altersheimen erinnern sich heute an das Vorhängeschloss, das sie damals an der Brotdose der Mutter fanden. Der Weltkrieg am Höhepunkt des dritten Aufschwungs beendet die Jahre, in denen auch die ärmere Mehrheit ihr Leben verbessern kann.

      Warum er zu Ende geht und warum es auch ohne Krieg zu einer – wenn auch nicht ganz so schweren – Weltwirtschaftskrise gekommen wäre, zeigt die lange S-Kurve, in deren Form die Basisinnovation verläuft: Um 1920 sind die meisten amerikanischen Fabriken elektrifiziert (s. Grafik). Das technologische Netz, das die Produktivitätsfortschritte der vergangenen 30 Jahre geschaffen hat, kommt seiner maximalen Ausdehnung nahe. Seine Wachstumsraten werden zu gering, um noch die ganze