Название | Der Traum von Tibet |
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Автор произведения | Fariba Vafi |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962026103 |
Ich hab ihn vor mir gesehen, in der weiten Pyjamahose, die Djawid von der schmalen Taille rutscht, und hab sein „Psst, psst!“ gehört. Trotz meiner Tränen hab ich kurz andere Töne wahrgenommen, die mir die Kraft gaben, mich für immer von Mehrdad loszusagen. Doch so rasch wie er gekommen war, war dieser Moment der Stärke auch wieder verflogen.
2
Heute Abend aber ist von Vernunft und Logik keine Spur mehr. Heute Abend bist du verrückt geworden und Djawid ist so aus der Fassung geraten, dass er dich nicht „Verrücktes Huhn“ nennen konnte. In dem Ton, in dem er’s neulich abends in eurer verwinkelten Mietwohnung zu mir gesagt hat. „Verrücktes Huhn“, hat er gesagt, wenn auch nicht so, wie ein Kumpel es sagen und dabei lachen würde. Es hat sich nicht angehört wie die freundschaftliche Bemerkung, die dir signalisieren soll: Bleib wie du bist.
Du hast gesagt: „Wenn er echtes Interesse an dir hat, kommt er zurück.“
Ich hab gesagt: „Er hat echtes Interesse an mir, aber er kann nicht.“
Ich und Mehrdad gingen spazieren und redeten.
Seine Mutter hatte ihm zur Verlobung ein, wie er es ausdrückte, „grundsolides Kind aus gutem Hause“ ausgesucht und erwartete ihn nun. Es war alles bereit. Er musste nur noch nach Hause gehen. Er könne, so sagte er, seiner Familie gegenüber nicht länger Widerstand leisten.
Auf diesem Wort beharrte er, und ich dachte jedes Mal an Sadegh, den entweder du oder Djawid, genau weiß ich das nicht mehr, als die Verkörperung des Widerstands bezeichnet hat.
Ich fand, wir müssten Mehrdad vor vollendete Tatsachen stellen, es irgendwie so einrichten, dass er ohne Widerstand auskommen konnte. Und wieder kam mir Sadegh in den Sinn.
Yalda schlug vor: „Wir nehmen ihn einfach fest und halten ihn solange gefangen, bis die Hochzeit platzt.“
Erst jetzt wurde Djawid auf seine Tochter aufmerksam, die unter ihrer Decke hervorgelugt hat wie eine Schildkröte unter ihrem Panzer.
„Du, schlaf jetzt bitte.“
Er ist aufgestanden und hat die Schiebetür zugezogen.
„Wenn wir zusammen erwischt werden, müssen wir zwangsläufig heiraten.“
Über dieser Option hatte ich seit längerem gebrütet. Jetzt sprach ich sie zum ersten Mal offen aus und erntete ein heftiges Schnauben und ein „Verrücktes Huhn!“ von Djawid.
Dann hat er dich angeschaut.
„Sie faselt im Fieber.“
Du hast gesagt: „Wenn alles schon so weit gediehen ist, heißt das doch, Mehrdad ist einverstanden, er will mit ihr zusammenleben.“
Djawid hat gesagt: „Liebesbeziehungen unterliegen bestimmten Gesetzen, wie alles andere auch. Deshalb erkennst du ja, dass diese nicht echt ist.“
Es war kaum Licht im Zimmer. Djawid musste auf einem Stuhl Platz nehmen. Wer Gewichtiges sagen möchte, kann nicht einfach irgendwo hocken, sondern muss aufrecht sitzen und Rückhalt haben.
„Woran denn?“, wollte ich wissen und erinnerte mich an den schummrigen Laden in einem Film, in dem ein Antiquitätenhändler, mit Messlupe vorm Auge, über alte Stücke gebeugt saß, und echte Originale von Fälschungen unterschied.
Djawid hat seine ausgestreckten Beine angezogen und sie unter seinen Stuhl manövriert.
„Am Ende. Du siehst ja, dass alles rausgekommen ist.“
Ich musste lachen. Ich hatte mich zu Djawid nach Hause begeben, um mir von ihm, dem Detektiv, berichten zu lassen, dass die Affäre aufgeflogen war.
Er hat die Arme verschränkt. „Wenn du aufmerksam bist, merkst du’s auch gleich zu Beginn.“
Ich wusste nicht, was ich merken sollte. Ich war müde, ließ den Kopf hängen. „Aber er liebt mich.“
Djawid hat sich von seinem Stuhl aus zu mir gebeugt. „Gefühl ist nicht alles. Zweckdenken spielt die größere Rolle. Wenn jemand von Liebe redet und ,von ganzem Herzen‘ sagt, glaub ihm kein Wort. Das ist die größte Lüge.“
Umso mehr fragte ich mich jetzt, wie sich euer Liebesspiel wohl gestaltete. Früher hab ich mir Djawid immer als den Typ Mann vorgestellt, der seine Frau umarmt und dabei an einen irgendwo einzuschlagenden Nagel oder an den Scheck denkt, den er am nächsten Tag einlösen muss.
Djawid ist aufgestanden, hat mich im Vorbeigehen angestubst, hat „Sei vernünftig, Mädchen!“ gesagt und ist schlafen gegangen.
Ich wünschte die Vernunft indes zum Leichenwäscher. Was bringt mir eure Pseudovernunft. Was bringt sie euch? Sie hat euch bloß geschützt. Und das auch nur äußerlich. Sie hat euch, wie das Gesetz zum Schutz der Umwelt, einen Schonraum verschafft. Ihr habt einander an den Händen gefasst und einfach beschlossen, gemeinsam unter einem Dach zu leben. Mir wird von solch vertraglich geregelter Harmonie kotzübel. Eure Beziehung ist während der letzten sechzehn Jahre zum Werbespot geworden: Stets vernünftig und zufrieden.
Heute Abend aber waren alle Schutzmechanismen außer Kraft. Und für mich ist die Sache jetzt sonnenklar. Auch wenn ich mich von eurer Fassade ja nie hatte täuschen lassen. Ihr wart einander treu, wart rechtschaffen, ehrbar und tausend andere Dinge mehr, aber glücklich wart ihr nicht.
3
Ich höre draußen ein Geräusch. Schaue durchs Fenster in den Hof. Die Nacht ist hell, im Mondlicht ist alles deutlich zu sehen. Der große Samowar auf dem großen Tisch, die Wasserpfeife, halb volle Gläser Tee. Teller mit Obstresten. Forough geht zwischen den Stühlen hin und her, rührt nichts an. Sie setzt sich auf die Treppe, kehrt mir den Rücken zu. Sie wirft sich ein Ende ihres Tschadors über die Schulter, stellt die Kanne Wasser neben sich. Entweder vermutet sie, dass jemand auf der Toilette ist, oder sie will einfach im Hof frische Luft schnappen.
Nachdem alle gegangen sind, deckt Mama den Tisch ab, trägt jeweils zwei Teller gleichzeitig in die Küche. Djawid geht zu ihr nach draußen, sagt, er räumt die Teller ab, und bittet Mama, Yalda und Nima mitzunehmen.
Mama hält Djawids Hilfsangebot für übertriebene Höflichkeit, nicht ernst gemeint. Djawid pflanzt sich vor ihr auf, in voller Größe, beugt sich zu ihr nach unten und schaut ihr ins Gesicht.
„Ich bitte euch, geht“, fleht er. Sein Rausch war verflogen.
Mama deutet auf mich. „Dann bleib du hier“, sagt sie und geht ihre Handtasche suchen.
Und Djawid ist trotzdem nicht glücklich. Wenn er gekonnt hätte, hätte er seine Mutter gleich mit vor die Tür gesetzt. Seit er, mit Frau und Kindern, zu Forough gezogen ist, hat er keine ruhige Minute mehr. Foroughs Anwesenheit hat dem schützenden Kokon um seine Familie einen Knacks versetzt.
„Wallah, meine Güte, ständig hat man Angst, was Falsches zu sagen. Was machen die beiden bloß?“, hat Mama wissen wollen.
„Inzwischen machen sie nichts mehr“, hab ich sie beruhigt, „aber sie kommen aus ihren Parteikreisen und aus ihrem Geheimniskrämerladen einfach nicht raus.“
Während ich und Mama gelacht haben, hast du uns argwöhnisch beäugt. Ihr wart manchmal schlimmer als die Agenten vom KGB. Wenn ihr aus dem Haus gingt, wusste man nie genau, wohin ihr unterwegs wart. Über Leute aus eurem Freundeskreis habt ihr nur geredet, ohne sie namentlich zu nennen. Eure Freunde hatten entweder gar keine oder gleich mehrere Namen. Eure Bücher waren noch immer in Zeitungspapier eingeschlagen. Einer ermahnte den anderen, am Telefon nichts Unüberlegtes zu sagen. Ihr wurdet allem und jedem gegenüber schnell misstrauisch, kamt zu jeder Verabredung pünktlich, wart auf jede Kleinigkeit peinlich genau bedacht, Disziplin und Selbstoptimierung